Chaotische Impfstoffverteilung und rasante Corona-Ausbreitung in Europa

Infolge der Corona-Pandemie schießen in ganz Europa die Infizierten- und Todeszahlen in die Höhe. Mitte März wurde die Marke von 900.000 Toten überschritten, bei mehr als 39 Millionen gemeldeten Infektionen. Die meisten offiziellen Todesfälle gibt es in Großbritannien (126.713), gefolgt von Italien (109.346), Russland (98.850), Frankreich (95.337), Deutschland (76.928), Spanien (75.459) und Polen (53.045). Diese Angaben sind jedoch noch zu niedrig, die Übersterblichkeitsstatistiken deuten auf viel höhere Zahlen hin.

Fast alle europäischen Länder verzeichnen seit Mitte Februar einen starken Anstieg der täglichen Neuinfektionen und Todesfälle. Letzte Woche sind europaweit fast 25.000 Menschen an dem Virus gestorben, was den höchsten Sieben-Tage-Wert seit einem Monat bedeutet. Bis Ende April könnte Europa als erster Kontinent die Marke von einer Million Toten überschritten haben.

Die sich abzeichnende Zahl von einer Million Todesopfern ist eine vernichtende Anklage gegen die gesamte europäische Bourgeoisie. Die Regierungen in ganz Europa haben offen oder implizit die gleiche Strategie der „Herdenimmunität“ verfolgt. Sie haben Arbeiter zur Rückkehr in die Betriebe und Schüler zurück in die Schulen gezwungen, damit die Profite des Großkapitals weiter fließen. Da nur ein winziger Bruchteil der europäischen Bevölkerung geimpft ist, müssen Hunderttausende grundlos sterben, während die herrschende Elite einen lebensrettenden Lockdown hartnäckig ablehnt.

Mittel- und Osteuropa sind derzeit am schlimmsten betroffen. Polen und Ungarn verzeichneten am letzten Freitag mit 35.145 bzw. 11.265 die bisher höchste Zahl an täglichen Neuinfizierten. Am Samstag erreichten auch die Ukraine und Serbien mit 29.458 bzw. 9.722 Neuinfektionen pro Tag Rekordwerte.

Was die Zahl der Toten angeht, verzeichneten die Ukraine und Ungarn letzte Woche mit 2.057 bzw. 1.710 Todesfällen ihren höchsten Sieben-Tages-Wert. Serbien, dessen Bevölkerung weniger als sieben Millionen beträgt, erreichte am Dienstag mit 80 Toten einen Rekord.

Frankreich ist ebenfalls besonders stark betroffen, da die Explosion der Fallzahlen im ganzen Land die Krankenhäuser überlastet. Etwa 90 Prozent der Intensivpflegebetten sind mittlerweile belegt. Am Montag waren 4.974 Patienten auf Intensivstationen, so viele wie seit April 2020 nicht mehr. Insgesamt gibt es landesweit 28.322 Covid-19-Patienten in den Krankenhäusern.

Die französischen Ärzte fordern einen harten Lockdown. Der Epidemiologe Eric D’Ortenzio vom Nationalen Institut für Gesundheit und medizinische Forschung (Inserm) erklärte gegenüber Le Monde, der Lockdown sollte „mindestens einen Monat“ dauern. Ein anderer Epidemiologe forderte gegenüber der gleichen Zeitung, Frankreich müsse „mindestens für sechs Wochen einen harten Lockdown wie im März 2020 verhängen“. Präsident Macron kündigte gestern Abend weitere Beschränkungen an.

Im Rest Europas ist die Lage ähnlich katastrophal. In der griechischen Hauptstadt Athen waren die Intensivstationen Mitte März zu 95 Prozent ausgelastet.

In Polen ist das Gesundheitssystem an seine Grenzen gelangt. Die Krankenhäuser sind so überfüllt, dass in den Korridoren zusätzliche Betten aufgestellt werden. Am 21. März verzeichnete Polen mit 23.583 hospitalisierten Covid-19-Patienten einen Rekord. Ministerpräsident Mateusz Morawiecki gab vor einer Woche auf einer Pressekonferenz eine Verschärfung der Maßnahmen bekannt.

In Ungarn hat die Zahl der hospitalisierten Covid-19-Patienten mit 12.000 den höchsten Stand seit Beginn der Pandemie erreicht. Die ungarische Ärztekammer schrieb dazu: „Die Mehrheit der Krankenhausstationen im Land sind zu Covid-Stationen geworden, Intensivstationen sind exponentiell überfüllt, Operationssäle wurden geschlossen, die Beatmungsgeräte werden für Covid-Patienten beim Kampf um ihr Leben benutzt. ... Uns gehen die Pflegekräfte aus, die Krankenhäuser suchen nach freiwilligen Helfern.“

Auch in Bulgarien, Tschechien und Estland stieg die Zahl der Krankenhauseinweisungen Ende März auf Rekordniveau. In Italien erreichte die Covid-Patientenzahl am 21. März fast 31.000.

Gleichzeitig geht die Verteilung der Impfstoffe weiterhin nur im Schneckentempo voran. Bis zum 28. März wurden in ganz Europa nur 15,79 Prozent der Bevölkerung geimpft, was insgesamt 118,2 Millionen verimpften Dosen entspricht. Damit liegt Europa hinter den USA, wo laut Our World in Data 42,9 Prozent der Bevölkerung geimpft sind.

Die Verteilung der Impfstoffe ist europaweit sehr ungleich. Den reicheren Ländern wird vorgeworfen, sie würden Impfstoff horten. In Albanien, einem der ärmsten Länder Europas, haben nur 0,2 Prozent der Bevölkerung die erste Dosis erhalten.

In anderen ärmeren Ländern Ost- und Südosteuropas, wie die Ukraine, Montenegro, Bulgarien, Lettland und Kroatien, sind weniger als zwei Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft. In Großbritannien wurden zwar 45 Prozent der Bevölkerung mindestens einmal geimpft, doch in den meisten europäischen Staaten ist nicht einmal ein Viertel geimpft. In Deutschland sind weniger als fünf Prozent vollständig geimpft.

Die nationalistischen Konflikte um die Verteilung der Impfstoffe nehmen zu, vor allem zwischen der Europäischen Union und Nicht-EU-Staaten wie Großbritannien. Letzte Woche debattierte die Führung der EU über den Vorschlag, den Export von Covid-19-Impfstoffen an Länder mit hohen Impfquoten außerhalb der EU zu verbieten. Davon wäre u.a. Großbritannien betroffen.

Bei dem Streit zwischen der EU und Großbritannien geht es hauptsächlich um den britisch-schwedischen Impfstoffhersteller AstraZeneca. Die EU warf dem Pharmakonzern vor, er würde seine vertraglichen Verpflichtungen nicht einhalten, nachdem er deutlich weniger als die versprochenen Impfstoffmengen an die EU geliefert hatte. Die britische Regierung hat inzwischen die EU-Führung aufgefordert, den Export von Impfstoff oder Impfstoffbestandteilen aus der niederländischen AstraZeneca-Niederlassung an Großbritannien nicht zu verhindern.

Die Staats- und Regierungschefs der EU nahmen bei einem Gipfeltreffen zwar von dem Vorschlag Abstand, den Export von Impfstoffen zu verbieten, doch Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron sprachen sich dennoch für Impfstoffnationalismus aus. Nach dem Gipfeltreffen erklärte Merkel bei einer Pressekonferenz, die EU müsse ihre „eigene Bevölkerung versorgen“.

Weiter erklärte sie: „Wir sind als Europäische Union der Teil der Welt, der nicht nur sich selbst versorgt, sondern der auch in die Welt hinein exportiert – anders als die Vereinigten Staaten von Amerika, anders als Großbritannien...“

Macron äußerte sich gegenüber Reportern sogar noch offener: „Ich lese jeden Tag in der Presse, dass sie auf der anderen Seite des Ärmelkanals gegen uns hetzen, die EU als selbstsüchtig bezeichnen. Das stimmt nicht!“

Während der rechte Le Figaro klagte, die EU beteilige sich an der internationalen Verteilung des Impfstoffs Covax und habe 21 Millionen Impfstoffdosen nach Großbritannien exportiert, aber keine erhalten, erklärte Macron: „Das ist das Ende der Naivität. ... Ich unterstütze zusätzliche Kontrollmechanismen der Europäischen Kommission. Ich unterstütze die Blockade aller Exporte, solange einige Pharmakonzerne ihre Verpflichtungen gegenüber den Europäern nicht einhalten.“

Trotz des Impfstoffmangels fordern die herrschenden Klassen Europas die Lockerung der Lockdown-Einschränkungen im Sommer, um die Profite der Tourismusbranche zu sichern, egal wie hoch die Verluste an Menschenleben sind.

Am Sonntag stellte der Leiter der Impfstoff-Taskforce der Europäischen Kommission, Thierry Breton, einen „Impfpass“ vor, der bis Mitte Juni an die Bürger der EU ausgegeben werden soll und dokumentiert, wer gegen das Virus geimpft ist oder es kürzlich überstanden hat, sodass er frei reisen darf.

Breton erklärte: „Diesen Preis werden wir für eine Tourismussaison zahlen müssen, die hoffentlich mit der im letzten Jahr vergleichbar ist. Sie war letzten Endes im aktuellen Kontext nicht so schlecht.“

In Deutschland erklärte Merkels Kanzleramtschef Helge Braun gegenüber der Funke-Mediengruppe, er sei „sehr skeptisch, was Reisen an Ostern angeht“, gehe aber davon aus, „dass wir ab Pfingsten über Reisen und Freizeit deutlich entspannter reden können“. Er erklärte, eine Rückkehr zur Normalität in Deutschland sei möglich, wenn die Impfungen wie geplant ablaufen und keine neue Mutation auftaucht.

In Spanien, wo die Einnahmen aus dem Tourismus im Vergleich zum Jahr 2019 um 75 Prozent eingebrochen sind, fordert die herrschende Elite die Öffnung des Landes für Urlauber, für die Bevölkerung sollen jedoch weiterhin Einschränkungen gelten. Letzte Woche forderte der Bürgermeister von Malaga, Francisco de la Torre, die Spanier auf, für die Profite der Tourismusbranche Opfer zu bringen: „Wir opfern unsere eigene Mobilität, um die Lage für Besucher aus dem Ausland sicherer zu machen und unsere Wirtschaft zu beleben.“

Angesichts der in Spanien weit verbreiteten Wut war die Europäische Kommission gezwungen, von Madrid „einheitliche“ innere und internationale Covid-19-Reisebeschränkungen zu fordern.

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