Angesichts der dramatisch steigenden Corona-Infektionszahlen in Deutschland fordern Mediziner einen sofortigen Stopp der Öffnungspolitik und wirksame Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie. Ansonsten drohten binnen kürzester Zeit ein exponentielles Ansteigen der Fallzahlen und eine Überlastung der Intensivstationen.
Der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin und Notfallmedizin (DGIIN), Christian Karagiannidis, verlangt einen harten Lockdown und sofortigen Stopp aller geplanten Öffnungsschritte.
„Die Beschlüsse für Modellprojekte nach Ostern sind völlig unpassend und müssen von Bund und Ländern sofort zurückgenommen werden,“ erklärte der Mediziner gegenüber der Rheinischen Post. Karagiannidis, der auch wissenschaftlicher Leiter des Divi-Intensivregisters ist, fordert „eine Mischung aus hartem Lockdown, vielen Impfungen und Tests“. Nur so lasse sich „ein Überlaufen der Intensivstationen noch verhindern“.
Unter Verweis auf die Ärzte und Pflegekräfte, die seit über einem Jahr unter extremen Bedingungen täglich um das Leben von Patienten kämpfen, appellierte Karagiannidis an Regierung und Parteien: „Ich bitte die Politik, das Krankenhauspersonal nicht im Stich zu lassen.“ Die Maßnahmen zur Eindämmung müssten dabei bundesweit gelten. Deutschland stehe „erst am Anfang eines massiven Anstiegs von Intensivpatienten“.
Auch zahlreiche weitere Mediziner und Wissenschaftler warnen vor den Auswirkungen der skrupellosen Öffnungspolitik. Divi-Präsident Gernot Marx erklärte: „Wir starten jetzt auf den Intensivstationen in die dritte Welle und das auf einem sehr hohen Niveau. Davor hatten wir bereits Ende Februar gewarnt und das bereitet uns große Sorgen.“
Bei Inzidenzwerten von etwa 200 haben Notfallmediziner für Anfang Mai rund 5000 Covid-19-Patienten auf Intensivstationen prognostiziert. Laut Divi befinden sich derzeit (Stand Samstag) 3334 Covid-19-Patienten in intensivmedizinischer Behandlung, so viele wie seit dem Höhepunkt der ersten Welle im letzten Jahr nicht mehr. „Wir erwarten in den nächsten Wochen einen rasanten Anstieg der Patienten, da die Welle der Intensivpatienten immer zwei bis drei Wochen der Infektionswelle nachrollt,” so Marx.
„Uns stehen harte Wochen bevor,“ mahnte auch der Chef des Robert-Koch-Instituts (RKI) Lothar Wieler. Es gebe „deutliche Signale“, dass die dritte Corona-Welle „noch schlimmer werden kann als die ersten beiden Wellen“. Man müsse sich darauf einstellen, dass die Zahl der Infizierten stark steige, dass Kliniken überlastet werden und „viele Menschen auch sterben“. Darin sei sich die Wissenschaft einig. Zuvor hatten auch namhafte Virologen wie Melanie Brinkmann und Christian Drosten vor Lockerungen und den damit verbundenen Infektionszahlen gewarnt.
Das RKI meldete am Samstagmorgen eine 7-Tage-Inzidenz von 124,9, der höchste Wert seit Mitte Januar. Tags zuvor hatte das RKI die Inzidenz noch mit 119,1 angegeben, vor zwei Wochen hatte sie bei 76,1 gelegen. Werden keine einschneidenden Maßnahmen ergriffen, gehen Mediziner von täglichen Infektionszahlen von 50.000 und mehr aus. Bereits jetzt gibt es Landkreise in Thüringen mit einer Inzidenz von über 500. Der Landesdurchschnitt liegt dort bei 218.
Besonders die Öffnung von Schulen und Kitas, die von den Landesregierungen sämtlicher Couleur betrieben wurden, wirken sich laut RKI nun dramatisch aus. In seinem aktuellen Lagebericht von Donnerstag geht das RKI davon aus, dass sich unter Kindern bis 14 Jahren die 7-Tage-Inzidenz in den vergangenen vier Wochen bundesweit mehr als verdoppelt hat. Zuletzt betrug sie 100. Allein in Berlin, wo der rot-rot-grüne Senat die Öffnung von Schulen und Kitas besonders aggressiv betrieben hat, werden aktuell aus 176 Kitas Corona-Fälle gemeldet.
Die Virus-Variante B.1.1.7, die inzwischen den Großteil der Infektionen auch in Deutschland ausmacht, „ist zweifellos infektiöser und lässt auch Kinder nicht aus“, bemerkt Burkhard Rodeck, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin. In Schulen und Kitas stecken sich Kinder und Jugendliche mit der hochansteckenden Virusmutation an und infizieren im familiären Umfeld Eltern und Großeltern mit fatalen Folgen. So treten schwere Verläufe der Infektion mittlerweile nicht mehr fast ausschließlich bei betagten und mit Vorerkrankungen belasteten Menschen auf, sondern häufig bei jüngeren und gesunden Menschen.
Eine hohe Anzahl von Infektionen mit den neuen Virusvarianten steigert sowohl das Risiko einer Resistenz gegen vorhandene Impfstoffe, als auch einer erneuten Ansteckung. SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach hat kürzlich gewarnt, es gebe laut einer Studie der Harvard University Anzeichen dafür, dass sich im Fall der südafrikanischen und brasilianischen Mutante Impfresistenzen entwickeln.
Im Nachbarland Tschechien, wo sich bereits mehr als 10 Prozent der Bevölkerung infiziert haben und über 25.000 Menschen verstorben sind, ist die Zahl der Reinfektionen massiv gestiegen. Bis Ende Februar wurden 1400 Fälle gemeldet, bei denen sich eine Person nach einer überstandenen Infektion erneut ansteckte. Einen Monat zuvor waren nur 158 solcher Fälle bekannt. Auch in Brasilien erklären Forscher die enormen Infektionszahlen teilweise durch Reinfektionen mit der Virusvariante P.1.
Ungeachtet der dramatischen Entwicklung und der eindringlichen Warnungen von Wissenschaftlern und Medizinern ist die herrschende Klasse entschlossen, ihre mörderische Politik, die Profite vor Menschenleben stellt, unbeirrt fortzusetzen.
Die Entscheidung von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) vom Mittwoch, die sogenannte „Osterruhe“ nur einen Tag nach deren Verkündung wieder zu kippen, macht dies überdeutlich. Gleichzeitig einigten sich Vertreter von Bund und Ländern darauf, unter dem Deckmantel von „Modellprojekten“ die Öffnungen rigoros voranzutreiben.
So soll es im Saarland nach Ostern landesweit ohne Befristung weitreichende Öffnungen geben. Ab 6. April werden die Einschränkungen in der Gastronomie sowie bei Sport und Kultur gelockert, bzw. aufgehoben. Mit einem negativen Corona-Test soll der Besuch von Theatern, Kinos, Konzerten und Fitnessstudios wieder möglich sein. Zwei Wochen später sollen weitere Öffnungen erfolgen.
Ministerpräsident Tobias Hans (CDU) erklärte die Entscheidung gegenüber Bild: „Ein Jahr nach der Corona-Pandemie muss uns jetzt mehr einfallen, als nur zu schließen und zu beschränken.“ Die Anmerkung, dass bei steigenden Fallzahlen die „Notbremse“ gezogen werde, ist nichts als Augenwischerei. Bisher wurden in allen Bundesländern zuvor getroffene Festlegungen für die „Notbremse“, wie beispielsweise eine Inzidenz von 100, mit hanebüchenen Begründungen über den Haufen geworfen, sobald sie erreicht waren.
In Bayern hat Ministerpräsident Markus Söder (CSU) angekündigt, acht Modellregionen zu öffnen.
In Thüringen nennt die Regierung von Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) ihr kriminelles Spiel mit der Gesundheit und dem Leben von Menschen „kleine Frühlingsöffnung“. Hierzu sollen in dem Bundesland mit den derzeit größten Corona-Hotspots an Ostern die Kontaktbeschränkungen massiv gelockert werden. Gesundheitsministerin Heike Werner (Linke) begründete dies damit, dass Ostern eines der wichtigsten Feste sei. Ab 10. April sollen dann Zoos und botanische Gärten und zwei Tage darauf auch der Einzelhandel wieder geöffnet werden.
Gleichzeitig gibt es keinerlei Anstrengungen, die Bevölkerung in ausreichendem Maße zu impfen. Monate nach Zulassung und Auslieferung des Impfstoffs sind in Deutschland gerade einmal 4,5 Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft. Während unmittelbar nach Ausbruch der Pandemie im Rahmen der Corona-Notpakete Milliarden in die Wirtschaft gepumpt wurden, wurde kaum etwas unternommen, um die notwendigen Produktionskapazitäten aufzubauen und die Einrichtungen im Gesundheitswesen in die Lage zu versetzen, die Pandemie zu bewältigen. Selbst jetzt werden nach Daten des RKI und der Gesundheitsministerien von Bund und Ländern 33 Prozent der vorhandenen Impfressourcen nicht genutzt.