EU-Gipfel: Handelskrieg statt Schutz vor Corona

Der EU-Gipfel vom Donnerstag hat erneut vor Augen geführt, dass die Europäische Union weder fähig noch willens ist, ihren Bürgern auch nur den minimalsten Schutz vor der Corona-Pandemie zu bieten.

Als sich die 27 Staats- und Regierungschefs der EU am 25. März zu ihrer Video-Konferenz trafen, schnellten die Infektions- und Todeszahlen in ganz Europa wieder dramatisch nach oben. Fast 900.000 Menschen sind inzwischen an der Pandemie gestorben, nahezu 40 Millionen haben sich infiziert, und täglich kommen an die 250.000 neue Infektionen hinzu.

Die Sieben-Tage-Inzidenz (die wöchentliche Infektionszahl pro 100.000 Einwohner) liegt in fünf europäischen Staaten über 500. Spitzenreiter ist Estland mit 708, gefolgt von Ungarn (658), Tschechien (527), Montenegro (517) und Serbien (503). In Polen liegt sie bei 444, in Frankreich bei 362.

In Frankreich stieg die Zahl der Neuinfektionen am Mittwoch über 45.000, der höchste Wert seit November letzten Jahres. In der Hauptstadtregion stehen die Intensivstationen bereits am Rande der Kapazität. In Deutschland warnt der Chef des Robert-Koch-Instituts Lothar Wieler, die Zahl der täglichen Neuinfektionen werde auf 100.000 steigen, falls die aktuelle Entwicklung nicht gestoppt wird.

Trotzdem weigern sich die europäischen Regierungen und die EU strikt, einen Lockdown zu verhängen, wie er notwendig wäre, um die Pandemie tatsächlich einzudämmen. Insbesondere lehnen sie es kategorisch ab, nicht lebenswichtige Produktionsstätten, Schulen und Kitas zu schließen, obwohl inzwischen zweifelsfrei nachgewiesen ist, dass Schulen zu den wichtigsten Verbreitern der Pandemie gehören und dass Schüler und Eltern weit anfälliger für die neuen Virusvarianten sind als auf die ursprüngliche. Die Interessen der Wirtschaft und die Profite der Unternehmen haben in jeder Hinsicht Vorrang vor der Gesundheit und dem Leben von Menschen.

Das gilt auch für die Beschaffung von Impfstoffen, die im Zentrum des EU-Gipfels stand. Auch hier stehen nicht Menschenleben, sondern Profitinteressen und geopolitische Ziele im Vordergrund.

Bisher sind von den 450 Millionen Einwohnern der EU nur 62 Millionen einmal und 18 Millionen davon zweimal geimpft worden. Die EU hat es versäumt, für die notwendigen Produktionskapazitäten zu sorgen. Bisher haben die Pharmakonzerne lediglich 88 Millionen Impfdosen an die EU geliefert. Bis Ende März – d.h. in den ersten drei Monaten des Jahres – sollen es 100 Millionen sein. Damit können gerade 10 Prozent der Bevölkerung vollständig gegen das Virus immunisiert werden.

Auf dem Gipfel hat Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen angekündigt, dass im zweiten Quartal dreimal mehr Impfstoff zur Verfügung stehen werde als im ersten. Doch selbst wenn dies der Fall sein sollte – was nach den bisherigen Erfahrungen alles andere als sicher ist –, würde die Menge nicht einmal ausreichen, um bis Mitte des Jahres die Hälfte der 70 Prozent zu impfen, die erforderlich sind, um die weitere Ausbreitung des Virus zu unterbinden. Dabei entwickeln sich ständig neue Virusvarianten, gegen die die Impfstoffe weniger wirksam sind.

In ganz Europa wachsen die Empörung und der Widerstand gegen die rücksichtslose Corona-Politik der Regierungen. Diese reagieren darauf, indem sie Nationalismus schüren.

Bereits in den Tagen vor dem Gipfel war es zu einem heftigen Schlagabtausch zwischen Brüssel und London gekommen. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen beschuldigte Großbritannien, 21 Millionen Impfdosen aus der EU importiert, aber keine einzige in die EU geliefert zu haben. Sie warf der Regierung von Boris Johnson vor, Impfstoff von AstraZeneca zurückzuhalten, das bisher nur etwa ein Viertel der vereinbarten 120 Millionen Dosen an die EU geliefert hat. London keilte zurück, berief sich auf geltende Verträge und drohte der EU mit Vergeltungsmaßnahmen.

Am Tag vor dem Gipfel verschärfte die EU-Kommission die Regeln für Impfstoffexporte. In Zukunft sollen Exporte gestoppt werden können, wenn ein Empfängerland bereits über viel mehr Impfstoff als die EU verfügt oder wenn es Impfstoff bezieht und selbst keine Ausfuhren zulässt. Bisher war ein Exportverbot nur möglich gewesen, wenn ein Unternehmen seine Lieferverpflichtung gegenüber der EU nicht erfüllt hatte. In der Praxis war es nur einmal zu einem solchen Verbot gekommen, als Italien die Ausfuhr von 250.000 AstraZeneca-Impfdosen nach Australien untersagte.

Nach mehreren Telefonaten zwischen Johnson und europäischen Regierungschefs wurden die Wellen auf dem Gipfel etwas geglättet. Vor allem die Niederlande und teilweise auch Deutschland, die intensive Handelsbeziehungen mit Großbritannien unterhalten, bemühten sich abzuwiegeln. Es gab außerdem Befürchtungen, ein Handelskonflikt über Impfstoffe könnte den Nachschub von Komponenten, die für die Produktion erforderlich sind, aus anderen Ländern unterbrechen.

Aber der Konflikt ist keineswegs gelöst. So vertritt Frankreich eine deutlich härtere Haltung, und auch deutsche Medien werben für einen Handelskrieg. Die Süddeutsche Zeitung kommentierte, eine Verschärfung der Ausfuhrregeln reiche nicht: „Tatsächlich sollte die Europäische Union den Export von Vakzinen nicht bloß unter bestimmten Bedingungen einschränken, sondern generell verbieten.“ Auch die Frankfurter Allgemeine Zeitung schrieb: „Solange Impfdosen ein knappes Gut sind, kann die EU nicht vorbehaltlos in alle Welt exportieren. Ausfuhren sollten davon abhängig sein, wie sich andere verhalten.“

Auch innerhalb der EU gibt es heftige nationale Spannungen, die sich auf dem Gipfel entluden. Ärmere Staaten, wie Lettland, Bulgarien und Kroatien liegen bei den Impfungen weit zurück, weil sie auf den kostengünstigeren AstraZeneca-Impfstoff gesetzt hatten, bei dem es die größten Lieferausfälle gab. Andere, wie Ungarn, haben Impfstoffe aus Russland und China bestellt, was die EU strikt ablehnt, weil es ihren Konfrontationskurs gegen diese Länder untergräbt. In der Slowakei hat die Entscheidung von Ministerpräsident Igor Matovič, zwei Millionen Dosen des russischen Impfstoffs zu bestellen, sogar eine Regierungskrise ausgelöst.

Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel und der österreichische Regierungschef Sebastian Kurz, beide Christdemokraten, gerieten auf dem Gipfel heftig aneinander, weil Kurz mit einem Veto gegen die Entscheidung drohte, ärmeren Ländern – nicht aber Österreich – einige zusätzliche Dosen des Biontech/Pfizer-Impfstoffs zukommen zu lassen.

Die heftigen nationalen Konflikte untergraben die unzulänglichen Maßnahmen gegen die Pandemie noch weiter. Das Virus, das keine nationalen Grenzen kennt, kann nur durch ein koordiniertes internationales Vorgehen besiegt werden. Doch dazu sind die kapitalistischen Regierungen organisch unfähig. Während ihre Profit-vor-Leben-Politik inzwischen weltweit 2,8 Millionen Todesopfer gefordert hat, benutzen sie den Impfstoff als Mittel der Bereicherung und als Waffe im geostrategischen Kampf gegen ihre internationalen Rivalen.

Vor allem China, wo dank einer konsequenten Lockdown- und Impfpolitik nur 90.000 mit dem Virus infiziert wurden und 4600 daran gestorben sind, stößt auf wachsende Feindschaft. Am Abend sprach US-Präsident Joe Biden per Video-Schaltung zu den Teilnehmern des EU-Gipfels, um sie auf seinen Konfrontationskurs gegen China und Russland einzuschwören. Er stieß auf offene Ohren, betrachten doch die europäischen Mächte die aufstrebende Wirtschaftsmacht China zunehmend als Rivalen beim Export hochwertiger Industriegüter und beim Einfluss auf Zentralasien, Afrika und andere Weltregionen.

Das aggressive Vorgehen der USA gegen China bringt Europa und insbesondere Deutschland allerdings „in eine Zwickmühle“, wie der regierungsnahe deutsche Thinktank DGAP in einem englischsprachigen Beitrag schreibt. China ist für eine große Anzahl deutscher Unternehmen der größte und am schnellsten wachsende Markt.

„Die EU könnte China durchaus als strategischen Rivalen und wirtschaftlichen Konkurrenten betrachten,“ folgert die DGAP. „Und Berlin mag viel an Chinas Wirtschaftspolitik und ungleichen Wettbewerbsbedingungen zu kritisieren haben. Aber niemand kann die Tatsache wegwünschen, dass China von großer wirtschaftlicher Bedeutung für Deutschland ist. Gleichzeitig sind die USA nach wie vor der größte Exportmarkt Deutschlands, das wichtigste Ziel ausländischer Direktinvestitionen und ein entscheidender Lieferant von Hochtechnologie, einschließlich Basis- und Zukunftstechnologie. Die Verschärfung des Wettbewerbs zwischen China und den USA wird viele Verlierer hervorbringen. Deutschland wird einer von ihnen sein.“

Deutschland und die EU reagieren auf diese „Zwickmühle“ mit einer massiven militärischen Aufrüstung, um in den eskalierenden geostrategischen Konflikten ihre eigenen imperialistischen Interessen zu verfolgen. Das unternehmernahe Institut für deutsche Wirtschaft (IW) hat kürzlich ausgerechnet, wie stark Deutschland in den kommenden Jahren die Rüstungsausgaben steigern muss, um seine Zusagen gegenüber der Nato einzuhalten: Bis 2024 sind es zusätzliche 86 Milliarden Euro, knapp doppelt so viel wie der gegenwärtige jährliche Verteidigungshaushalt.

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