Die herrschende Klasse ist entschlossen, die „Profite vor Leben“-Politik im Interesse der Wirtschaft, die allein in Deutschland bereits mehr als 75.000 Menschen das Leben gekostet hat, um jeden Preis fortzusetzen. Das zeigt die Entscheidung der Bundes- und Landesregierungen vom Mittwoch, die sogenannte „Osterruhe“ nach nur einem Tag wieder zu kippen.
Der ursprünglich von der Ministerpräsidentenkonferenz am Dienstag getroffene Beschluss, das Osterwochenende um einen Tag zu verlängern, war nie mehr als ein symbolischer Akt. Inmitten der heranrollenden, noch tödlicheren dritten Welle der Pandemie hätte ein einziger zusätzlicher Feiertag die rapide steigenden Fallzahlen, die sich ausbreitenden Virusmutationen und das damit einhergehende erneute Massensterben weder eingedämmt noch gestoppt.
Trotzdem brach in Wirtschaft, Politik und Medien sofort ein Sturm der Entrüstung aus, nachdem Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) die Osterruhe auf einer Pressekonferenz am Dienstagmorgen verkündet hatte. Mit dem sprichwörtlichen Schaum vor dem Mund stellten die Sprecher der großen Unternehmen und Wirtschaftsverbände klar, dass sie keinen einzigen zusätzlichen Tag akzeptieren würden, an dem die Bänder stillstehen und keine Profite generiert werden können.
„Plötzliche Betriebsstilllegungen sind für eine international vernetzte Wirtschaft nicht darstellbar,“ erklärte die Präsidentin des Verbands der Automobilindustrie (VDA), Hildegard Müller. „Lackierwerke und Energiezentralen sowie vieles andere mehr“ könnten „nicht einfach auf Zuruf stillgelegt werden“. Und der Präsident des Verbands Familienunternehmer, Reinhold von Eben-Worlée, wetterte: „Wer zahlt denn für diesen zusätzlichen Ausfall? In der Regierung herrscht offenbar das Motto: Das Geld kommt aus der Steckdose.“
Bereits am darauffolgenden Tag entschuldigte sich Merkel. Es könne „keinen Zweifel daran geben“, dass „die Idee der sogenannten Osterruhe ein Fehler“ gewesen sei, beteuerte sie im Rahmen einer offiziellen Fragerunde im Bundestag. „Aufwand und Nutzen“ müssten immer in „einem halbwegs vernünftigen Verhältnis stehen“. In diesem Fall hätten „viel zu viele Fragen von der Lohnfortzahlung durch die ausgefallenen Arbeitsstunden bis zu der Lage in den Geschäften und Betrieben“ nicht so gelöst werden können, wie es nötig wäre.
Was folgte, war der Jubel der gleichen Wirtschaftsvertreter, Medien und Politiker, die die Kanzlerin noch am Tag zuvor scharf angegriffen hatten. „Ich finde es ein Zeichen von Größe, wenn man Fehler eingesteht“, frohlockte die VDA-Chefin Müller. „Dass die Bundeskanzlerin sie so rasch und bei Übernahme persönlich voller Verantwortung getroffen hat, verdient großen Respekt,“ erklärte der Präsident des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks, Hans Peter Wollseifer.
Führende Politiker aller Parteien äußerten sich ähnlich. „Ja, es ist gut, Fehler zuzugeben. Das hilft der Demokratie weiter“, erklärte die Fraktionsvorsitzende der Grünen, Katrin Göring-Eckardt, im Bundestag. Selbst Alexander Gauland, der Führer der rechtsextremen AfD-Fraktion, feierte in seiner Rede Merkels Kehrtwende als „Tag, an dem alles anders wurde“. Zuvor hatten sich bereits die 16 Ministerpräsidenten, darunter Thüringens Bodo Ramelow (Die Linke), entschuldigt und die neue „Anti-Lockdown“-Linie unterstützt.
Was das bedeutet, ist offensichtlich. Unter Bedingungen, unter denen die Pandemie eskaliert und mehr Menschenleben bedroht sind als je zuvor, geht die herrschende Klasse dazu über, alle Corona-Schutzmaßnahmen zu beenden. Man müsse aus dem „Dauerkreislauf des Lockdowns“ rauskommen und „jetzt ein neues Kapitel aufschlagen“, erklärte der nordrhein-westfälische Ministerpräsident und CDU-Vorsitzende Armin Laschet am Mittwoch. „Das reine Schließen“ sei „an sein Ende gekommen“ und die NRW-Landesregierung werde befristete Projekte „schnell nach Ostern möglich machen“.
Der saarländische Ministerpräsident Tobias Hans (CDU) verkündete am Donnerstag, dass sein Land ebenfalls nach Ostern aus dem Lockdown aussteigen werde. „Ab dem 6. April wird wieder mehr privates, wieder mehr öffentliches Leben möglich sein.“ Konkret kündigte er die Wiederöffnung von Kinos, Fitnessstudios und der Außengastronomie an. Weitere Öffnungsschritte könne es dann nach dem 18. April geben.
In ihrer Regierungserklärung am Donnerstag stellte sich Merkel explizit hinter die Öffnungsoffensive. Man habe „gemeinsam mit den Ministerpräsidenten ein Öffnungskonzept am 3. März beschlossen, das ein viel höheres Maß an Regionalisierung enthält“. Sie sei der Meinung, „dass einige Bundesländer – ich denke ans Saarland, ich denke an Schleswig-Holstein – diese Möglichkeiten auch richtig nutzen“.
Merkel und die herrschende Klasse wissen genau, dass sie mit diesem Kurs eine Katastrophe vorbereiten. Führende Virologen wie Melanie Brinkmann und Christian Drosten hatten bereits im Februar davor gewarnt, dass weitgehende „Lockerungen“ der Schutzmaßnahmen im Sommer zu täglich 100.000 Neuinfektionen und bis zu 180.000 zusätzlichen Toten unter 60 Jahren führen könnten. Das vollständige Ende des Lockdowns würde Berechnungsmodellen zufolge allein hierzulande über eine Million Menschenleben kosten.
Welche reaktionären Ziele die herrschende Klasse mit ihrer mörderischen Öffnungspolitik verfolgt, ist offensichtlich. Zum einen will sie die gigantischen Summen, die im Rahmen der Corona-Notpakete vor allem an die Großunternehmen, Banken und Supperreichen geflossen sind, wieder aus der Arbeiterklasse herauspressen. Ein weiterer Faktor ist die aggressive Durchsetzung der geostrategischen und wirtschaftlichen Interessen des deutschen und europäischen Imperialismus.
In ihrer gestrigen Regierungserklärung zum EU-Gipfel schärfte Merkel den Bundestagsabgeordneten ein, dass Deutschland und Europa die Situation nutzen müssten, um ihren Einfluss im internationalen Wettstreit der Großmächte zu erhöhen. „Wir wissen, dass Europa in der Krise weder erstarren noch verharren darf, sondern dass wir die Herausforderungen annehmen müssen“, erklärte sie. Unter anderem gehe es darum, dass „Europa seine digitale Souveränität entschlossen umsetzt. Es geht hier ums Tempo. Es geht nicht nur um das Wie, sondern es geht auch um das Wann.“
Auch die Produktion und der Vertrieb der lebensrettenden Covid-19-Impfstoffe werden den kapitalistischen Profitinteressen und geopolitischen Auseinandersetzungen untergeordnet. „Wir werden darüber sprechen, wie wir auch europaweit unabhängiger werden. Dazu gehört vor allen Dingen auch die Frage der Impfstoffproduktion,“ erklärte Merkel. Das Problem bei der Impfstoffversorgung liege „in der Frage: Wie viel kann auf europäischem Grund im Augenblick gefertigt werden? Denn wir sehen ganz genau: Britische Fertigungsstätten fertigen für Großbritannien; die Vereinigten Staaten exportieren nicht.“
Während die herrschende Klasse Impfstoff-Nationalismus und -Geschäftemacherei betreibt, sind in Deutschland lediglich 4,3 Prozent der Gesamtbevölkerung vollständig geimpft. Zusätzliche Milliarden fließen nicht etwa in ein europaweit und global koordiniertes Impfprogramm, sondern in Aufrüstung und Krieg. Am Mittwoch beschloss das Bundeskabinett, den Verteidigungsetat im kommenden Jahr um weitere fünf Prozent auf dann 49,29 Milliarden Euro zu erhöhen. Am Donnerstag verlängerte das Parlament den Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan um ein weiteres Jahr.
Die World Socialist Web Site hat die Pandemie bereits vor einem Jahr als Trigger Event bezeichnet, als „auslösendes Ereignis“, das die wirtschaftliche, soziale und politische Krise des kapitalistischen Systems rapide beschleunigt. Überall verschärft die herrschende Klasse ihre Politik der sozialen Angriffe und der inneren und äußeren Aufrüstung. Die mörderische Öffnungs- und Durchseuchungspolitik ist direkter Bestandteil dieser Offensive.
Dagegen entwickelt sich weltweit der Widerstand. Arbeiter organisieren sich in unabhängigen Aktionskomitees, um sich gegen unsichere Arbeitsbedingungen zu wehren und Angriffe auf ihre Arbeitsplätze und Löhne zurückzuschlagen, die vom Management und den Gewerkschaften organisiert werden. Lehrer und Schüler kämpfen gegen die unsichere Rückkehr an die Schulen. Am Mittwochabend befand sich der Hashtag #Generalstreik mehr als drei Stunden lang auf Platz 1 der meistdiskutierten Trendbegriffe auf Twitter.
Die Vorbereitung eines Generalstreiks, um einen wirklichen Lockdown zu verhängen – d.h. Betriebe und Schulen als Haupttreiber der Pandemie zu schließen – erfordert eine klare politische Führung und Perspektive. Vor wenigen Tagen schrieb die Sozialistische Gleichheitspartei in ihrer Erklärung „Ein Jahr Coronavirus-Pandemie: Eine vom Kapitalismus verursachte Katastrophe“:
„Die Pandemie hat bewiesen, dass es notwendig ist, das kapitalistische Nationalstaatensystem abzuschaffen. Die Verteidigung der grundlegendsten Lebensinteressen der Gesellschaft ist untrennbar damit verbunden, die Finanzoligarchie zu enteignen und dem Privateigentum an den Produktionsmitteln ein Ende zu setzen. Sie macht die dringende Notwendigkeit einer wissenschaftlich gelenkten, rational organisierten und demokratisch kontrollierten Weltwirtschaft deutlich.
Der Kampf für Sozialismus ist ein globaler Kampf für eine Gesellschaft, die das Leben über den Profit, die menschlichen Bedürfnisse über den Reichtum der Oligarchen und die internationale Zusammenarbeit über nationale Konflikte stellt.“
Mit dem de facto Ende des Lockdowns in Deutschland ist diese Perspektive mehr denn je eine Frage von Leben und Tod.
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