Ansteckendere Covid-19-Stämme könnten zu rasanter Ausbreitung im Frühling führen

Die Direktorin der US-Seuchenschutzbehörde CDC, Rochelle Walensky, erklärte in einem Interview mit Moderator Ari Shapiro vom National Public Radio, dass sie über den Verlauf der Pandemie in den nächsten Wochen äußerst besorgt sei. Sie tat dies in einer Weise, wie es unter hohen Funktionsträgern selten der Fall ist.

Sie erklärte: „In den nächsten zwei oder drei Monaten könnte sich die Lage in eine von zwei möglichen Richtungen entwickeln. Wenn alles geöffnet wird und wir nicht wirklich vorsichtig sind, könnte es nach den Frühjahrsferien einen genauso starken Anstieg der Fallzahlen geben wie nach Weihnachten. Es könnte viel mehr Erkrankte und viel mehr Tote geben.“

Ein Forscher im Labor für Virologie der Universität für Tropenmedizin in Sao Paulo (Brasilien) arbeitet an der Entwicklung eines Tests, der die neue Variante P.1 des Coronavirus erkennen kann. (AP Photo/Andre Penner)

Ähnliche Bedenken werden in ganz Europa geäußert, wo diese Woche nach einem anhaltenden Rückgang in den letzten sechs Wochen mehr als eine Million neue Fälle gemeldet wurden. Dies bedeutet einen Anstieg um neun Prozent im Vergleich zur Vorwoche. Der Regionalchef der Weltgesundheitsorganisation (WHO) für Europa, Hans Kluge, erklärte am Donnerstag: „Wir erleben ein Wiederaufleben in den mittel- und osteuropäischen Ländern, in denen die Raten ohnehin bereits hoch waren.“

Das Gesundheitssystem der Tschechischen Republik, das besonders stark betroffen ist, steht weiterhin vor beträchtlichen Belastungen. Kluge rief die Staaten zur Rückkehr zu „den Grundlagen“ öffentlicher Gesundheitsmaßnahmen auf. Der Anstieg der Infektionen ist ein Ergebnis der Lockerung von Einschränkungen und der zunehmenden Dominanz der infektiöseren Stämme des Coronavirus.

Laut einer Karte der CDC, auf der die Varianten von Covid-19 aufgeführt sind, gab es am 2. März 2.506 Fälle von B.1.1.7-Varianten in 46 Bundesstaaten. Mehr als 100 bestätigte Fälle gab es u.a. in Florida, Michigan, New York, Georgia, Texas und Kalifornien. Die Stämme B.1.351 und P.1 mit verringerter Immunantwort breiten sich ebenfalls aus, wenn auch nicht im gleichen Maße.

Der Virologe Dr. Michael Worobey von der Universität von Arizona forderte, in den USA mehr Aufmerksamkeit auf die Variante P.1 zu richten. Er äußerte die Befürchtung, sie könne sich weiter verbreiten, auch wenn sie mit der Variante B.1.1.7 konkurrieren würde. Gegenüber der New York Times erklärte er: „Zumindest wird sie am Wettbewerb teilnehmen.“

Diese Entwicklungen haben den früheren Optimismus getrübt, den viele Wissenschaftler anfangs zeigten, als der Einsatz effektiver Impfstoffe gegen Covid-19 im Dezember begann. Die Stämme aus Südafrika und Brasilien haben sich als leichter übertragbar erwiesen, verringern die Wirksamkeit des Impfstoffs und könnten sogar die Immunität durch frühere Infektionen umgehen.

Der Direktor des Instituts für Health Metrics and Evaluation (IHME), Dr. Chris Murray, äußerte Bedenken, dass sich die Variante aus Südafrika oder andere Varianten mit ähnlichen Mutationen ausbreiten und zu den dominanten Varianten werden könnten. Stationäre Behandlungen und Todesfälle durch Covid-19 könnten dann im nächsten Winter viermal größer sein als durch die Grippe. Er erklärte gegenüber Reuters, im schlimmsten Fall würde dies bis zu 200.000 weitere Todesfälle durch Covid-19 bedeuten. Diese Zahlen sind von den staatlichen Schätzungen zu den jährlichen Opferzahlen durch die Grippe abgeleitet.

Vertreter des öffentlichen Gesundheitswesens reagieren zunehmend zögerlich auf Fragen der Medien, wann wieder mit einer Rückkehr zur Normalität zu rechnen ist. Dr. Anthony Fauci, Präsident Joe Bidens wichtigster medizinischer Berater, erklärte: „Selbst nach der Impfung würde ich weiterhin eine Maske tragen wollen, wenn noch eine Variante in Umlauf ist. Alles, was man braucht, ist das Aufkommen einer Variante, die einen neuen Anstieg der Fallzahlen auslöst, und schon ist die Vorhersage Makulatur.“

In einem Interview mit Wired erklärte er: „Wir sollten den Sieg nicht zu früh verkünden. Wir wollen ja nicht, dass der derzeitige Rückgang auf einem viel zu hohen Niveau verharrt. Momentan infizieren sich täglich 60.000 bis 70.000 Menschen. Das ist eindeutig zu viel, als dass es hinnehmbar wäre.“ Dieses Niveau ist mit den Höchstständen während des letzten Sommers vergleichbar.

In Texas und Mississippi reagierten die Gesundheitsämter mit großer Sorge auf die Entscheidung der Bundesstaatsgouverneure, Einschränkungen wie die Maskenpflicht aufzuheben und die vollständige Öffnung von Geschäften zu erlauben. Der texanische Gouverneur Greg Abbott twitterte unverfroren: „ÖFFNET 100 PROZENT. ALLES.“ Angesichts solch rasanter Manöver trotz mehrerer zirkulierender Virenstämme sind Wissenschaftler besorgt, dass ein alarmierender Anstieg der Fallzahlen die Gesundheitssysteme wieder überlasten könnte.

Biden kritisierte die Gouverneure von Texas und Mississippi für ihr Vorgehen mit den Worten: „Das Letzte, was wir brauchen, ist ein Neandertaler-Denken, dass inzwischen alles in Ordnung ist, wir unsere Masken abnehmen und es vergessen können.“ Das ist die pure Heuchelei, wenn man bedenkt, dass er die Öffnung aller Schulen bis zur 12. Klasse fordert. Aus Kanada und Großbritannien sind neue Beweise dafür aufgetaucht, dass Schulen und Kinder treibende Vektoren bei Übertragungen sind. Zudem treten die neuen Varianten scheinbar am häufigsten bei kleinen Kindern auf. Die Öffnung der Schulen wird den Anstieg dominanter Virenstämme ergänzen und Öl in ein glimmendes Feuer gießen. Beispielhaft hierfür ist die Dezember-Welle in Manaus (Brasilien).

Seit Beginn der Pandemie in der Region wurden im Amazonas 18 Varianten des Sars-CoV-2-Virus entdeckt. Eine davon, die Variante P.1, entwickelte sich im November zur dominanten Variante und war im Dezember bereits für 51 Prozent der sequenzierten Proben verantwortlich. In der ersten Januarhälfte war P.1 für 91 Prozent der sequenzierten Coronaviren verantwortlich. Dieser kometenhafte Anstieg ging einher mit einem schrecklichen Ausmaß an Elend und Tod, da den Krankenhäusern und Intensivstationen der medizinische Sauerstoff ausging.

In Brasilien steigt die Zahl der Neuinfizierten und der Toten weiterhin täglich auf Rekordniveau. Während die Gesundheitssysteme und Intensivstationen des Landes unter extremem Druck stehen und sich kurz vor dem Zusammenbruch befinden, erklärt Präsident Jair Bolsonaro weiterhin, es werde „keine Lockdowns“ geben.

Die Vereinigung der Gesundheitsminister des Landes erklärte in einer Stellungnahme: „Die Ausbreitung der Epidemie in mehreren Bundesstaaten führt zum Zusammenbruch der öffentlichen und privaten Krankenhaussysteme, der sich schnell auf alle Regionen Brasiliens ausweiten könnte.“

Die Universität Oxford, das Imperial College in London und die Universität Sao Paulo führten vor Kurzem eine gemeinsame Studie zur brasilianischen Variante P.1 durch, laut der diese zwischen 1,4- und 2,2-mal leichter übertragbar ist. Sie konnte außerdem 25 bis 61 Prozent der schützenden Immunität aus früheren Infektionen umgehen, was Zweifel an der Effektivität der derzeitigen Impfstoffe auslöste. Wichtiger war jedoch, dass sie zu verstehen versuchten, warum die Dezember-Welle in Manaus diejenige im April sowohl bei Fallzahlen als auch bei der Intensität der Übertragungen übertroffen hatte, obwohl sich bereits im April ein Großteil der Bevölkerung infiziert hatte.

Abgesehen von der deutlich höheren Übertragbarkeit – sogar im Vergleich zur Variante B.1.1.7 – helfen die Mutationen in der Variante P.1 dem Virus auch, Antikörpern von früheren Infektionen zu entkommen. Laut der New York Times schätzen der Virologe Dr. Nuna Faria vom Imperial College und sein Forscherteam, die die Forschung leiten, dass „sich von 100 Menschen, die sich letztes Jahr in Manaus mit einem anderen Stamm als P.1 infiziert haben, zwischen 25 und 61 Menschen erneut infiziert haben könnten, wenn sie mit P.1 in Kontakt gekommen sind. ... Dr. Faria erklärte, dass ‚immer mehr Beweise‘ darauf hindeuten, dass die zweite Welle das Ergebnis von erneuten Infektionen war.“

Laut einem weiteren, jüngst veröffentlichten Bericht haben Forscher entdeckt, dass das Immunplasma von früher infizierten Covid-Patienten den Stamm P.1 sechsmal schlechter neutralisiert.

Reinfektionen müssen nicht unbedingt zu schweren Erkrankungen führen, da die Immunität der T-Zellen trotz verringerter Antikörper das Ausmaß künftiger Infektionen abschwächen kann. Allerdings gibt es dennoch Schwierigkeiten beim Erreichen von Herdenimmunität durch natürliche Infektionen oder Impfungen, wenn bereits Infizierte oder Geimpfte sich erneut infizieren und Vektoren für weitere Übertragungen werden können. Die Variante P.1 hat sich in ganz Brasilien und 24 anderen Staaten ausgebreitet, u. a. wurden in sieben US-Bundesstaaten 13 Fälle entdeckt.

Angesichts dieser Ergebnisse ist es erforderlich, alle Maßnahmen zu treffen, um die Übertragung des Virus so stark wie möglich einzuschränken. Das Konzept hinter der „Zero Covid“-Strategie beinhaltet, dass strenge Eindämmungsmaßnahmen für eine bestimmte Zeit aufrechterhalten und mit sozialer Unterstützung für die Bevölkerung kombiniert werden, um die tägliche Rate der Neuinfektionen auf nahe „Null“ zu verringern. Ein strenger Lockdown für zwei Monate könnte die Zahl der Covid-Fälle auf nahezu nicht mehr nachweisbare Werte verringern, selbst wenn die neuen Varianten die Dominanz erlangen. Gleichzeitig würde die Zahl der Toten um das Sechsfache sinken.

Dies würde es den Kommunalverwaltungen und Bundesstaatsregierungen ermöglichen, die öffentliche Gesundheitsinfrastruktur zu stärken und mit Unterstützung durch die Bundesbehörden Massenimpfkampagnen durchzuführen. Zudem muss dieser Impfstoffe in vielen Regionen der Welt produziert und verteilt werden, um genug dieser lebensrettenden Behandlungsmethoden verfügbar zu machen. Die Bewältigung der ersten Phase der Pandemie macht es erforderlich, Todesfälle und Krankheitsraten so weit wie möglich zu verhindern und gleichzeitig die Gesundheitssysteme zu schützen. Die herrschenden Eliten auf der Welt ordnen ihre Reaktion auf die Pandemie den Anforderungen des kapitalistischen Marktes unter und haben sich damit als unfähig erwiesen, diese Aufgabe zu bewältigen. Deshalb muss die Arbeiterklasse auf der Grundlage eines sozialistischen Programms intervenieren.

Bei der virtuellen Pressekonferenz der WHO am 1. März erklärte Generaldirektor Dr. Tedros Adhanom Ghebreyesus: „Es ist bedauerlich dass einige Länder weiterhin jüngere und gesündere Erwachsene in ihrer eigenen Bevölkerung gegenüber den Beschäftigten im Gesundheitswesen und den Alten bevorzugen. Die Staaten befinden sich nicht im Wettlauf gegeneinander. Wir befinden uns in einem gemeinsamen Wettlauf gegen das Virus. Wir fordern von keinem Land, dass es seine Bevölkerung gefährdet. Wir fordern alle Länder auf, sich an den globalen Bestrebungen zu beteiligen, das Virus überall zu unterdrücken... Wir rufen alle Regierungen und Personen auf, daran zu denken, dass Impfstoffe alleine sie nicht sicher machen werden.“

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