Corona-Stufenplan öffnet Schleusen für erneutes Massensterben

In der Nacht zum Donnerstag einigten sich Bund und Länder nach einem neunstündigen Geschacher hinter verschlossenen Türen auf einen Pandemie-Beschluss, der trotz steigender Fallzahlen und einem verheerenden europaweiten Pandemiegeschehen die systematische Beseitigung der verbleibenden Schutzmaßnahmen vorsieht. Die vom Bundeskanzleramt und den Ministerpräsidenten ausgearbeitete Agenda öffnet die Schleusen für ein weiteres katastrophales Massensterben.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) zusammen mit dem bayrischen Ministerpräsidenten Markus Söder (CSU) und dem Berliner Oberbürgermeister Michael Müller (SPD) auf der Pressekonferenz nach dem Corona-Gipfel am 3. März (AP Photo/Markus Schreiber, Pool)

Bereits in den vergangenen Wochen war es aufgrund der kontinuierlich weiterlaufenden Betriebe und der erneuten Öffnung von Kitas und Grundschulen bundesweit immer wieder zu Massenausbrüchen der ansteckenderen Coronavirus-Mutanten gekommen. Das gestern veröffentlichte Papier ermöglicht Ländern und Kommunen nun auch die Aufhebung der Shutdownbestimmungen für Handel, Freizeiteinrichtungen und Gastronomie.

Demnach sollen in den kommenden vier Wochen zunächst Einzelhandel, Museen, Zoos und Außensporteinrichtungen unter Auflagen geöffnet werden, gefolgt von der Außengastronomie, Theatern, Kinos und Fitnessstudios vierzehn Tage später. Weitere zwei Wochen später sollen „Freizeitveranstaltungen im Außenbereich“ und „Kontaktsport“ genehmigt werden können, sodass die Bereiche „Veranstaltungen, Reisen und Hotels“ bereits im Rahmen der nächsten Ministerpräsidentenkonferenz am 22. März ins Auge gefasst werden können.

Der Beschluss hält explizit fest, dass die Wiederöffnung von Kleidungsgeschäften, Parfümerien, Fitnessstudios und Biergärten auch bei Inzidenzzahlen von bis zu 100 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern und Woche möglich sein soll – das heißt, in einer Situation mit täglich hunderten oder tausend Toten. Im Papier heißt es dazu, man sehe die „Chance, dass durch die deutliche Ausweitung von Tests und ein Testprogramm in Verbindung mit einer besseren Nachvollziehbarkeit der Kontakte… Öffnungsschritte auch bei höheren 7-Tage-Inzidenzen mit über 50 Neuinfektionen … möglich werden.“

Erst wenn die Inzidenz „an drei aufeinanderfolgenden Tagen“ über 100 liegt, soll eine sogenannte „Notbremse“ greifen. Doch dabei handelt es sich um die bislang gültigen Regeln, die sich als unzureichend erwiesen haben, die Ausbreitung der mutierten Stämme B117 und B135 aufzuhalten.

Der Immunologe Michael Meyer-Hermann betonte am Mittwoch gegenüber der Tagesschau, dass „eine umsichtige Öffnungsstrategie“ zur Voraussetzung habe, „dass die Inzidenz niedrig genug ist, um Kontaktcluster flächendeckend wirklich vollständig nachzuverfolgen“ – davon sei man jedoch weit entfernt. Meyer-Hermann ist Mitverfasser eines „No-Covid“-Strategiepapiers, dessen Unterzeichner für den Fall umfassender Lockerungen vor hunderttausenden Toten allein in Deutschland gewarnt haben.

Dass die von ihr gefassten Beschlüsse innerhalb weniger Wochen zu einer erneuten massenhaften Erkrankungswelle und tausenden Todesfällen führen werden, ist der Regierung bewusst. Der SPD-Bundestagsabgeordnete Karl Lauterbach – der die Öffnung der Wirtschaft begrüßt – erklärte auf Twitter unverblümt: „Spätestens Anfang April liegt die Inzidenz über 100.“ Als die Sieben-Tage-Inzidenz zwischen November und Januar in Deutschland zum ersten Mal über 100 lag, starben bundesweit täglich Einstausend Menschen an Covid-19.

Doch der Verlust an Menschenleben ist im menschenverachtenden Kalkül der Regierungschefs ein völlig untergeordneter Faktor. Stattdessen findet unter den politischen Vertretern der Finanzaristokratie eine bittere Auseinandersetzung darüber statt, wie das Programm von Seuche, Sozialkahlschlag und Profitmaximierung angesichts einer zunehmend fassungslosen und kampfbereiten Arbeiterklasse am besten vorangetrieben werden kann.

So berichtet das Handelsblatt von heftigen verbalen Feindseligkeiten zwischen Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) und Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU), die sich an der Frage entzündeten, ob ein „Härtefallfonds für Firmen“ zu gleichen Teilen durch Bund und Länder finanziert werden solle. Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) zeigte sich jedoch schließlich überzeugt von dem „guten Ergebnis der MPK“ und stellte zufrieden fest: „Viele Forderungen aus Sicht der Wirtschaft werden verantwortlich umgesetzt.“

Was die Profitmaschinerie zum Laufen bringen soll, ist laut Beschlusspapier ein „Vierklang aus Impfen, Testen, Kontaktnachvollziehung und Öffnungen“. Dazu wolle man die Zahl der „tatsächlich durchgeführten Impfungen pro Woche“ verdoppeln und die „Möglichkeit der Einbeziehung niedergelassener Ärztinnen und Ärzte weiterentwickeln“. Auch von der „Verfügbarkeit von Schnell- und Selbsttests in sehr großen Mengen“ ist die Rede.

In Wirklichkeit wird die flächendeckende Verfügbarkeit von Schnell- und Selbsttests – mit der Bund und Länder die Aufhebung des Shutdowns rechtfertigen – von Beobachtern frühestens ab Anfang April erwartet. Neben den Testskits fehlen darüber hinaus auch die dazugehörigen Infrastrukturen und Teststrategien. Bundeskanzlerin Angela Merkel erklärte zu Beginn der Woche in einer Sitzung der Unionsfraktion, man brauche „sicherlich den Monat März, um eine umfassende Teststrategie aufzubauen“.

Die private Beschaffung von Selbsttests – die im Vergleich zu PCR- und Bluttests überdies deutlich unzuverlässiger sind – stellt gerade für Geringverdienende eine erhebliche finanzielle Belastung dar. So sagte der Discountmarkt Aldi dem WDR am Mittwoch, dass eine Packung von fünf Abstrichtests ab Samstag für 25 Euro erhältlich sein werde. Eine Kostenübernahme durch den Bund wollte Gesundheitsminister Spahn zuletzt nicht zusichern.

Der Kölner Apotheker Thomas Preis, Vorsitzender des Apothekerverbands Nordrhein, rechnet gegenüber dem WDR sogar mit Kosten von etwa zehn Euro pro Test. Das Manager-Magazin, das von einem „Riesengeschäft mit Corona-Selbsttests“ spricht, titelte gestern: „Pharma- und Biotechfirmen aus aller Welt drängeln bereits, um bei dem Megageschäft mitzumischen.“

Auch die deutsche Impfkampagne – laut Merkel die „zweite Säule“ der gemeinsamen Öffnungspläne – versinkt in einem Mahlstrom aus kapitalistischer Gier und geopolitischen Berechnungen, mit dem Ergebnis, dass auch knapp zehn Wochen nach dem offiziellen Impfstart erst 10 Prozent der über 70-Jährigen eine Immunisierung erhalten haben.

Wie das Beschlusspapier selbst feststellt, „steigt der Anteil der Virusvarianten an den Infektionen in Deutschland schnell an, wodurch die Zahl der Neuinfektionen jetzt wieder zu steigen beginnt“. Die Erfahrungen in anderen Staaten zeigen, wie gefährlich die verschiedenen Covid19-Varianten sind.

Die Politik des Todes wird von sämtlichen Parteien unterstützt. Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linkspartei), der selbst regional begrenzte Lockdown-Maßnahmen stets strikt abgelehnt und die schwedische Politik der sogenannten Herdenimmunität umarmt hat, erklärte am Mittwochabend gegenüber der Presse: „Ich bin froh, dass wir nicht mehr an die Zahl 35 gekettet sind.“

Zuvor hatte Ramelow der „hilfsbereiten Bundeswehr“ für den „besten Friedenseinsatz aller Zeiten“ gedankt. Mit Blick auf die Gesamtzahl der Geimpften und Infizierten fügte Ramelow hinzu, es brauche „mutige Schritte, um die Immunisierung der Bevölkerung zu ermöglichen“. Dazu sei es nötig, „dass wir das Wort Herdenimmunität auch in den Mund nehmen“.

Loading