Ein Moskauer Gericht hat den russischen Oppositionellen Alexei Nawalny zu einer dreieinhalbjährigen Haftstrafe verurteilt. Er wurde für schuldig befunden, gegen Bewährungsauflagen verstoßen zu haben, die nach einer Anklage wegen Unterschlagung im Jahr 2014 gegen ihn verhängt wurden. Von dieser Strafe wurden die Monate abgezogen, die er zuvor in Hausarrest verbracht hatte, sodass er zwei Jahre und acht Monate in einer Strafkolonie verbringen muss. Seine Anwälte werden Berufung gegen das Urteil einlegen.
Bevor Nawalny im Januar nach Russland zurückkehrte, hatte er fünf Monate in Deutschland verbracht. Dorthin wurde er ausgeflogen, nachdem er im August 2020 während eines Flugs von Sibirien nach Moskau erkrankt war. Nawalny, die USA und die Europäische Union behaupten, er sei im Auftrag des Kremls mit Nowitschok vergiftet worden. Doch diese Behauptungen haben von Anfang an zahlreiche Widersprüche und Rätsel aufgeworfen. Am 17. Januar wurde Nawalny dann sofort nach seiner Ankunft in Moskau von der Polizei verhaftet, wie es der Kreml zuvor angedroht hatte.
Vor Gericht nannte Nawalny die Vorwürfe gegen ihn unrechtmäßig und bezeichnete Putin als „Vergifter der Unterhosen“. Damit spielte er auf die jüngste Version der Geschichte über den angeblichen Mordversuch der russischen Regierung an: Eine Eliteeinheit des FSB soll Nowitschok in Nawalnys Unterhose platziert haben.
Das Gerichtsgebäude, in dem der Prozess stattfand, war von einem massiven Polizeiaufgebot umstellt, mindestens 300 Demonstranten wurden verhaftet. Auch in anderen Teilen des Landes, in denen für Nawalny demonstriert wurde, kam es zu großen Polizeieinsätzen.
An den letzten zwei Wochenenden demonstrierten in Moskau, Petersburg und Dutzenden weiteren Städten Zehntausende für Nawalny. Der Kreml reagierte daraufhin mit brutalen Polizeiangriffen und Tausenden Verhaftungen. Mehrere Verbündete Nawalnys stehen mittlerweile unter Hausarrest.
Nach der Urteilsverkündung wurde in Moskau die Nationalgarde mobilisiert und der Platz vor dem Kreml für Besucher und Touristen gesperrt. Die von den USA unterstützten liberalen Oppositionsparteien PARNAS und Jabloko kündigten für dieses Wochenende Demonstrationen zur Unterstützung Nawalnys an.
Auch viele Pseudolinke in Russland unterstützen Nawalny. Laut Presseberichten steht die stalinistische Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF), die lange Zeit eine wichtige Stütze der Putin-Regierung war, wegen Nawalny kurz vor der Spaltung, da ein beträchtlicher Teil der Partei ihn jetzt unterstützt.
Das Urteil löste bei den imperialistischen Mächten sofort einen Aufschrei aus. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, dessen eigene Regierung in den letzten Jahren immer wieder brutale Polizeigewalt gegen Proteste eingesetzt hat, bezeichnete das Urteil auf Twitter als „inakzeptabel“ und erklärte: „Politischer Dissens ist niemals ein Verbrechen.“
Die deutsche Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer und der US-Außenminister Antony Blinken forderten Nawalnys sofortige Freilassung. Der britische Außenminister Dominic Raab bezeichnete das Urteil als „pervers“.
Die politischen Spannungen, die Nawalny im Inland und international ausgelöst hat, sind Ausdruck einer umfassenderen Krise. Die Corona-Pandemie hat die Gesellschaft in Russland und weltweit enorm destabilisiert. In Russland sind weit über 70.000 Menschen an Covid-19 gestorben, mehr als eine Million Menschen haben ihren Job verloren und viele weitere Millionen wurden ins Elend gestürzt. Die russische Wirtschaft ist im letzten Jahr um 3,1 Prozent geschrumpft.
Bereits zuvor hatte der Konflikt um die Ukraine und die Sanktionen der USA sowie der EU eine jahrelange wirtschaftliche Rezession ausgelöst. Die russische Oligarchie hat der Arbeiterklasse die volle Last dieser Krise aufgebürdet. Vor Beginn der Pandemie sind die Reallöhne bereits sechs Jahre in Folge ständig gesunken. Im letzten Jahr gingen die Einkommen erneut um 3,5 Prozent zurück, während die Inflation bei 4,9 Prozent liegt.
30 Jahre nach der Auflösung der Sowjetunion hat Russland eines der höchsten Level an sozialer Ungleichheit unter den großen Volkswirtschaften. Im Jahr 2017 besaßen die obersten zehn Prozent der Bevölkerung 89 Prozent des Gesamtvermögens. Die große Mehrheit der Arbeiter muss von einigen hundert Dollar im Monat überleben, während die zehn reichsten Oligarchen zusammen 151,6 Milliarden Dollar besitzen.
Nawalny hat versucht, von dieser sozialen Unzufriedenheit zu profitieren und zu diesem Zweck ein Video produziert, das scheinbar einen Palast zeigt, der für Putin am Schwarzen Meer gebaut wurde. Dieses Video wurde bereits mehr als 100 Millionen Mal angesehen. Der Kreml behauptet jetzt, der Palast gehöre dem Oligarchen Arkadi Rotenberg, einem engen Verbündeten Putins. Eine 24-jährige Demonstrantin erklärte am 23. Januar in einem Interview mit Al Jazeera, das Video habe sie erschüttert. Sie verwies auf die Armutslöhne der Beschäftigten im Gesundheitswesen, die an vorderster Front gegen die Corona-Pandemie kämpfen, und kommentierte sarkastisch: „Ich kann mir vorstellen, was für einen Bonus Ärzte bekommen: etwa 17.000 Rubel [186 Euro].“
Die politische Krise in Russland, die sich in den Spannungen um Nawalny zeigt, ist ein Symptom des allgemeinen Zusammenbruchs des Weltkapitalismus. Die erbitterten inneren Konflikte der russischen Oligarchie werden vor allem von den eskalierenden Klassenspannungen geschürt.
Aus Angst vor der wachsenden Wut der Arbeiterklasse in Russland versuchen Nawalny und seine Unterstützer, diese Stimmung in reaktionäre Kanäle zu lenken. Nawalny, dessen Beziehungen zur extremen Rechten ausführlich dokumentiert sind, spricht für eine Schicht der Oligarchie, die eine direktere Kooperation mit den USA anstrebt. Teile der amerikanischen herrschenden Klasse sehen das Schüren von separatistischen Stimmungen in Russland als Mittel, die Vorherrschaft der USA über die Region auszudehnen.
Aus diesem Grund wurde die Frage von Putins Reichtum als persönliche Korruption dargestellt. Auf dieser Basis können selbst die reaktionärsten Kräfte mobilisiert werden, darunter Monarchisten und Ultranationalisten. Gleichzeitig haben die politischen Kräfte, die die Proteste dominieren, jede Benutzung des Begriffs „Kapitalismus“ untersagt – von Nawalny selbst bis hin zu seinen Unterstützern in der pablistischen Sozialistischen Bewegung Russlands.
Die Konflikte innerhalb der herrschenden Klasse Russlands werden auch vorangetrieben von den geopolitischen Spannungen in Folge des Scheiterns ihrer Außenpolitik. Seit der Auflösung der Sowjetunion 1991, bei der die stalinistische Bürokratie Hand in Hand mit dem US-Imperialismus und der deutschen herrschenden Klasse zusammengearbeitet hat, ist die russische Oligarchie sowohl politisch als auch wirtschaftlich in höchstem Maße vom Weltimperialismus abhängig.
Das Putin-Regime hat jahrelang versucht, Russlands zunehmende Einkesselung durch den US-Imperialismus mit einer Vertiefung der Beziehungen zu einem bedeutenden Teil der deutschen herrschenden Klasse auszugleichen. Die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den beiden Ländern, vor allem in der Energiebranche, sind noch immer eng, obwohl Deutschland den antirussischen Putsch in der Ukraine 2014 und die Sanktionen gegen Russland unterstützt und die militärische Aufrüstung gegen Russland verschärft hat.
Da die Biden-Regierung mit zahlreichen Personen besetzt ist, die mit einer aggressiven Haltung gegenüber Russland assoziiert werden, sind die deutsch-russischen Beziehungen zu einem zentralen Brennpunkt der zunehmenden Spannungen zwischen den USA und Deutschland geworden. Am deutlichsten äußert sich dies im Konflikt um die Pipeline Nord Stream 2, die russisches Gas direkt und ohne den Umweg über die Ukraine nach Deutschland transportieren soll.
Die USA, die schon immer alle deutsch-russischen Pipeline-Initiativen abgelehnt haben, verhängten mit parteiübergreifender Zustimmung im Kongress Sanktionen gegen Nord Stream 2, weshalb der Bau im letzten Jahr faktisch unterbrochen wurde. Mehrere Großunternehmen wie die Zurich Insurance Group und der deutsche Bau- und Ingenieurskonzern Bilfinger SE haben sich deshalb von dem Projekt zurückgezogen.
Der französische Minister für europäische Angelegenheiten, Clément Beaune, rief Deutschland am Dienstag auf, das Projekt einzustellen. Es ist das erste Mal, dass Paris eine solche Forderung aufstellt. Die Bundesregierung beharrt jedoch bisher auf ihrer Unterstützung für Nord Stream 2. In der deutschen Presse wird im Kontext des Falls Nawalny hitzig über das Projekt debattiert.
Die Arbeiterklasse muss auf die Krise des Weltkapitalismus antworten, indem sie ihre eigenen Interessen vertritt, auf der Grundlage eines sozialistischen Programms und unabhängig von den zerstrittenen Fraktionen der Oligarchie und der imperialistischen Mächte. Dies erfordert ein gründliches Studium der Oktoberrevolution 1917 und des trotzkistischen Kampfs gegen die stalinistische Bürokratie, die die Revolution in Russland und weltweit verraten hat und schließlich die UdSSR auflöste und so die Bedingungen für die seit Jahrzehnten andauernde Katastrophe geschaffen hat.