Ohne Nahrung mit Sandalen im Schnee – über 3000 Migranten müssen im Nordwesten von Bosnien-Herzegowina ohne ein Dach über dem Kopf Minusgraden trotzen. Diese katastrophale Situation ist – ähnlich wie die Verhältnisse im griechischen Flüchtlingslager Kara Tepe auf Lesbos und das Massensterben im Mittelmeer – ein Ergebnis der kriminellen Flüchtlingspolitik der Europäischen Union.
Nun überlassen die europäischen Regierungen die verzweifelten Menschen ihrem Schicksal. Am 5. Januar lies die Bundesregierung mitteilen, dass sie keine Aufnahme von Schutzsuchenden aus Bosnien-Herzegowina plane.
In der Nähe der 43-tausend Einwohner Stadt Bihać, wenige Kilometer vor der kroatischen EU-Außengrenze, wurde am 23. Dezember 2020 das provisorische Zeltlager für Geflüchtete in Lipa mit ca. 1300 Bewohnern aufgelöst, da versäumt worden war, es winterfest zu machen.
Das Camp ist seit April 2020 in Betrieb und hatte nie eine funktionierende Strom- und Wasserversorgung. Die dünnen Zelte ohne Heizung schützten kaum vor der Kälte. Kurz vor der Räumung waren dann mehrere Zelte und Container in Flammen aufgegangen. Seitdem kämpfen die Bewohner in Lipa buchstäblich ums Überleben.
Gegenüber der Zeit berichtet die Schweizerin Anja (25), die seit November in Bihać für die spanische Hilfsorganisation „No Name Kitchen“ arbeitet und aus Sorge um ihre eigene Sicherheit lieber anonym bleiben will: „Nach dem Brand waren sie auf sich allein gestellt und haben leer stehende Häuser außerhalb des Camps besetzt. Einige haben sogar WC-Container als Zuhause umfunktioniert.“
Die Zustände in dem von der Internationalen Organisation für Migration (IOM) geführten Camp waren bereits vor dem Beginn des Winters unerträglich und haben sich durch den Brand und den einsetzenden Frost kolossal verschlechtert. Es fehlt an allem. Hinzu kommt die ständige Infektionsgefahr inmitten der tödlichen Covid-19 Pandemie, die auch in Bosnien-Herzegowina außer Kontrolle ist. Laut Worldometers haben sich in dem Land mit nur knapp 3,5 Millionen Einwohnern bereits über 113.000 Menschen mit Corona infiziert, mehr als 4200 sind an dem Virus gestorben.
Zum Jahreswechsel wurde den Flüchtlingen Hoffnung gemacht, in ein anderes beheiztes Lager in Bradina – eine alte Kaserne – verlegt zu werden. Am 29. Dezember wurden sie in 20 Busse gesetzt, aus denen sie nach 30 Stunden wieder aussteigen mussten – und zwar am selben Ort an dem sie eingestiegen sind: im niedergebrannten Camp in Lipa. Dabei steht am Stadtrand von Bihać, wenige Kilometer vom ausgebrannten Lager in Lipa entfernt, das vollausgestattete und seit Mitte 2020 leer stehende Aufnahmezentrum Bira. Dort gibt es Heizung, Strom, fließendes Wasser und sichere Schlafplätze für 1500 Menschen.
In Lipa wurden zwar inzwischen einige Notzelte vom bosnischen Militär wieder aufgebaut. Aber das ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein, wie die Mitarbeiterin der Hilfsorganisation „No Name Kitchen“ berichtet.
„Es gibt kein fließendes Wasser und keinen Strom. Auch vor Kälte schützen die Zelte kaum, es hat oft Temperaturen unter null Grad, da Lipa relativ hoch gelegen ist. Aus Protest gegen diese Zustände sind einige der Bewohner an Neujahr in einen Hungerstreik getreten – laut unseren Informationen sind es mehrere Hundert Personen, die daran teilnehmen. Erst gestern haben sie diesen offenbar beendet. Die Menschen haben Transparente geschrieben mit Slogans wie ‚We want freedom‘ und ‚We are not animals‘.“
Es gibt kaum Planen, Schlafsäcke oder Decken zum Schutz vor den Temperaturen, wie die Hamburger Morgenpost berichtet: „Die Schließung des Camps in Lipa einen Tag vor Weihnachten war bereits unmenschlich, aber jetzt befinden sich die ehemaligen Bewohner in einer lebensbedrohlichen Situation. Ohne Heizung und angemessene Kleidung müssen 1300 Migrantinnen und Migranten draußen schlafen, weil sie keinen Zufluchtsort mehr haben. Einige von ihnen wurden mit Sandalen im Schnee zurückgelassen“, erzählte Sumka Bucan von der Hilfsorganisation „Care“ der Zeitung.
Der Danish Refugee Council (DRC) versorgt inzwischen regelmäßig Menschen mit Erfrierungen, wie die Landesdirektorin der Hilfsorganisation Nicola Bay gegenüber der Süddeutschen Zeitung berichtet: „Die Lage dort ist absolut instabil und gefährlich. […] Es hat in den vergangenen Tagen viel geschneit, und jetzt droht das Dach unter den Schneemassen einzustürzen.“
Gegenüber Euronews German berichtet ein Bewohner des Camps, der mit Sandalen und einer kurzen Hose im Schneetreiben steht: „Wir leben wie Tiere. Sogar die Tiere leben besser als wir.“
Einige der 1300 Bewohner des Lagers haben inzwischen Unterschlupf in leerstehenden Fabrikhallen oder anderen Ruinen in der Umgebung gesucht. Fensteröffnungen sind oft nur notdürftig mit Plastiktüten abgedichtet. Im sogenannten „Jungle“ am Stadtrand leben weitere Migranten in Zelten und unter Planen.
Laut den Recherchen von Tagesschau.de leben in der Gegend um Lipa und Bihać zusätzlich zu den 1300 Bewohnern des Camps weitere 2000 Migranten ohne Dach über dem Kopf. Insgesamt sind dort also über 3300 Menschen schutzlos der Kälte ausgesetzt und hoffen nach ihrem beschwerlichen Weg über die „Balkanroute“ auf ein menschenwürdiges Leben in der EU.
Anja schildert am Telefon gegenüber der Zeit, dass ihre NGO auf ihren Fahrten in das Camp von weiteren Geflüchteten angesprochen wird: „Wir haben seit fünf Tagen nicht gegessen, bitte gebt uns auch etwas.“ Sie berichtet weiter: „Es ist uns verboten, Essen und Kleidung zu verteilen – seitdem machen wir das heimlich. Flüchtende werden als Kriminelle angesehen, demnach werden auch ihnen Helfende als kriminell angesehen.“
Darüber hinaus sind sie mit außerländerfeindlichen und rassistischen Methoden konfrontiert. Migranten ist es verboten gewisse Busse zu nehmen und gewisse Tankstellen und Cafés zu betreten. Auf der kroatischen Seite der Grenze werden unter der Ägide der EU systematisch brutale Pushbacks durchgeführt. Dabei stützen sich die europäischen Regierungen zunehmende auf faschistische Kräfte, die Kriegsflüchtlinge und andere Migranten an den EU-Außengrenzen abwehren und regelrecht terrorisieren.