Eine Pressemeldung aus der Schweiz sorgte am Dienstag für Aufsehen. Darin schreibt die SGI (Schweizerische Gesellschaft für Intensivmedizin): „Alle Personen – vor allem diejenigen, die durch das neue Coronavirus besonders gefährdet sind – werden gebeten, sich im Rahmen einer Patientenverfügung Gedanken dazu zu machen, ob sie im Falle einer schweren Erkrankung lebensverlängernde Maßnahmen erhalten möchten oder nicht.“
Diese Aufforderung kommt einer Bankrotterklärung des vielgerühmten Schweizer Gesundheitssystems gleich. Viele ältere oder vorerkrankte Menschen verstehen sie zu Recht als Appell an sie, zugunsten von jüngeren, gesünderen Menschen auf eins der knappen Intensivbetten zu verzichten und freiwillig aus dem Leben zu scheiden. Denn in dem gleichen Rundschreiben heißt es auch, dass sämtliche 876 zertifizierten Intensivbetten der Schweiz „aktuell praktisch vollständig belegt“ seien.
Diese Entwicklung sei „tragisch, da vermeidbar gewesen“, kommentiert dies die Genfer Virologin Isabella Eckerle. Eine berechtigte Feststellung. Diese Wendung der Pandemie ist keine Naturkatastrophe, sondern das voraussehbare Ergebnis von bewussten politischen Entscheidungen. Auf Druck der Wirtschaft und der Banken hat die Schweizer Regierung ausdrücklich darauf verzichtet, die zweite Corona-Welle durch einen Lockdown zu brechen. Wörtlich erklärte Mitte September der Finanzminister des Bankenlands Schweiz, Ueli Maurer (SVP): „Die Schweiz kann sich keinen zweiten Lockdown leisten. Dafür haben wir das Geld nicht.“
Die Devise der Regierung war klar darauf gerichtet, alles zu tun, damit die Wirtschaft wieder läuft und die Profite sprudeln. Seither wurden nicht nur sämtliche Betriebe und damit Schulen und Kitas offen gehalten, sondern auch die Bars, Restaurants, Theater und Museen. Noch im Oktober wurde eine Vorschrift gekippt, die Veranstaltungen mit über 1000 Leuten verbieten sollte.
Nicht verwunderlich, hat sich das Virus in der ganzen Gesellschaft ausgebreitet und greift jetzt voll auf Senioren und Risikogruppen über. Die Folgen sind Ausbrüche in Alten- und Pflegeheimen, überfüllte Intensivstationen und rasch ansteigende Todeszahlen.
„In der Schweiz sind alle Intensivbetten belegt“ – das brisante Thema wurde am Donnerstag auch von den internationalen Medien aufgegriffen. Rasch protestierte das offizielle Schweizer Nachrichtenportal nau.ch und versicherte, dies sei nicht wahr. „Fake News um Schweizer Intensivstationen“, heißt ein Artikel vom Donnerstagabend auf nau.ch. Darin wird behauptet, die Intensivstationen könnten jederzeit durch „Ad Hoc“-Betten erweitert werden. „Noch sind viele Betten frei.“ Es seien „ausländische Medien“, die das Gegenteil behaupteten.
Tatsächlich ist die Lage zunehmend katastrophal. Die Schweiz ist zum regelrechten Covid-19-Hotspot Europas geworden. Das Land hat zurzeit eine 14-Tages-Inzidenz pro 100.000 Einwohner von 933 Fällen und liegt damit zwischen Tschechien (1002) und Slowenien (939), fast doppelt so hoch wie Schweden (556).
Die hohen Zahlen sind nicht auf umfangreiche Tests zurückzuführen: In dieser Beziehung liegt die Schweiz auf dem Niveau der Vereinigten Staaten. Die Positivrate bei den Tests liegt landesweit bei nicht weniger 27,9 Prozent, verglichen mit 8,5 Prozent in Schweden und 8,3 Prozent in den Vereinigten Staaten. Laut WHO-Angaben bedeutet aber eine Positivrate von über fünf Prozent, dass das Virus außer Kontrolle geraten ist.
Mit der zweiten Welle sind die Neuinfektionen regelrecht explodiert, und sie haben auch die Todesfallrate angetrieben. Von den über 290.000 Coronafällen endeten laut John Hopkins University bisher 3.962 mit dem Tod. Die Dunkelziffer könnte aber weit höher liegen, wie das Bundesamt für Statistik anhand einer Übersterblichkeitsrate zeigt. Demnach starben in der ersten Novemberwoche – ähnlich Anfang April – etwa 50 % mehr Menschen als statistisch erwartet. Dies ist besonders in der Romandie der Fall, und es betrifft fast ausschließlich die über 65-jährige Bevölkerung.
In einer Diskussionsrunde im Schweizer Radio SRF zum Thema: „Wer soll behandelt werden, wenn der Platz in den Krankenhäusern knapp wird?“, bestätigte der Intensivmediziner Miodrag Filipovic aus St. Gallen am Donnerstagabend, dass die zertifizierten Intensivbetten tatsächlich bereits zu 95 % belegt seien. Es sei zwar möglich, zusätzliche Betten zu schaffen, der springende Punkt sei jedoch das fehlende Fachpersonal.
Hierzu berichtete eine Pflegekraft im Corona-Bereich über Zwölfstundenschichten und gestrichene Urlaubstage, und eine Covid-19-Krankenschwester bestätigte, wie ausgelaugt sich das Pflegepersonal bereits fühle: „Im März hat man den roten Teppich für uns ausgerollt, aber jetzt wird alles von uns als selbstverständlich erwartet.“ Sie sei nicht sicher, ob ihr Team noch diesen ganzen Winter durchhalten werde.
Interessant sind die Kommentare zu dieser SRF-Sendung. Mit der Aufforderung zur „Selbst-Triage“ und zum Verzicht auf ein Intensivbett gehen die Zuhörer äußerst kritisch um. „Die Schweiz ist 2020 auf Platz 2 der reichsten Länder der Welt“, lautet beispielsweise der Kommentar einer Zuhörerin. „Ich finde den Sozialdarwinismus in der Schweiz unerträglich. Offensichtlich will die Schweiz in der Corona-Pandemie ihren Reichtum auf Kosten der Risikogruppen (1.605.800 Menschen) verteidigen. Sie hätte im Vergleich zu vielen anderen Ländern wahrlich andere Optionen.“