Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) warnte letzte Woche vor dem „exponentiellen Anstieg“ der Covid-19-Fälle in Europa. Allein in den letzten zehn Tagen wurden auf dem Kontinent über eine Million neuer Fälle verzeichnet, womit die Gesamtzahl seit Beginn der Pandemie auf über sieben Millionen gestiegen ist.
Europa ist zum Zentrum einer neuen weltweiten Welle von Covid-19-Infektionen geworden, doch EU verfolgt eine Politik, die noch weitaus mehr Menschenleben zu kosten droht die 200.000 Toten dieses Frühjahrs.
Nachdem die erste Infektionswelle durch Lockdowns abgeschwächt worden war, prahlten Regierungen in ganz Europa damit, dass sie das Virus unter Kontrolle gebracht hätten. Die Zentralbanken Europas schnürten Rettungspakete in Höhe von 1,25 Billionen Euro für die Eurozone und 645 Milliarden Pfund für Großbritannien, während die EU für Unternehmen ein Rettungsprogramm über 750 Milliarden Euro aushandelte. Zur selben Zeit verlangten die Regierungen, dass Arbeiter an ihren Arbeitsplatz und Jugendliche in die Schule zurückkehren. Die Vermeidung eines weiteren Lockdowns habe oberste Priorität.
Mittlerweile wurden diese Prahlereien entlarvt. Die Zahl der täglichen Neuinfektionen in Europa ist explosionsartig auf über 150.000 angestiegen, und das Virus ist außer Kontrolle geraten. Frankreich vermeldet im Schnitt über 30.000 Neuinfektionen pro Tag, Großbritannien fast 20.000, die Tschechische Republik fast 10.000, Italien 9.000, Belgien, Polen und die Niederlande jeweils 8.000 und Deutschland 7.000. Die Behörden melden täglich 13.000 neue Fälle in Spanien – bis vor Kurzem das am schwersten betroffene Land Europas –, doch die Zeitungen berichten, dass die Regierungen der Regionen Tausende Fälle aus ihren Statistiken herausnehmen.
Selbst wenn die Ansteckungsrate auf dem derzeitigen Niveau von 4,5 Millionen Fällen pro Monat stabil bliebe, würde dies die europäischen Gesundheitssysteme überfordern. Die Regierungen der EU-Staaten lehnen Ausgangsbeschränkungen und Lockdowns jedoch nach wie vor ab und fordern stattdessen, dass Arbeiter auch in nicht lebensnotwendigen Produktionsbereichen wieder in die Betriebe zurückkehren. Es geht darum, die nötigen Gewinne zu erwirtschaften, um die gigantischen Kapitalspritzen für Finanzmärkte und Großunternehmen wieder hereinzuholen. Die EU opfert die Gesundheit und das Leben der Arbeiter den Profiten der Finanzaristokratie.
In Spanien, Großbritannien und Frankreich haben Regierungsvertreter in bestimmten Städten nächtliche Ausgangssperren oder Mobilitätsbeschränkungen verhängt, um die zunehmend aufgebrachte und besorgte Öffentlichkeit zu beruhigen. Von Madrid bis Marseille, Paris und Liverpool haben diese Maßnahmen jedoch eines gemeinsam: Sie zwingen Arbeiter und Jugendliche weiterhin dazu, zur Arbeit und zur Schule zu gehen, wo die überwiegende Mehrheit der Infektionen stattfindet. Aufgrund dieser Politik wird die Zahl der Neuinfektionen weiterhin exponentiell ansteigen.
Während auf der nördlichen Hemisphäre der Winter beginnt – die Jahreszeit, in der sich die Menschen vermehrt in schlecht belüfteten Innenräumen aufhalten und Infektionen sich am schnellsten ausbreiten – droht Europa und der ganzen Welt eine Katastrophe.
Nur durch die politische Mobilisierung der europäischen und internationalen Arbeiterklasse kann das Schlimmste verhindert werden. In der Tat war es nur das unabhängige Eingreifen der Arbeiterklasse, das Europas Regierungen im Frühjahr dazu zwang, Schutzmaßnahmen zu verhängen. Millionen Menschenleben wurden dadurch nach Einschätzung von Epidemiologen gerettet. Spontane Streiks, die im Fiat-Automobilwerk in Pomigliano begannen und sich auf Stahl-, Maschinenbau- und Lebensmittelbetriebe in Italien und anderen Ländern Europas ausweiteten, legten die internationalen Lieferketten lahm und zwangen die EU-Regierungen dazu, Lockdowns und andere Maßnahmen zu verfügen.
Angesichts von weltweit über einer Million Covid-19-Toten – darunter über 230.000 in Europa – staut sich eine explosive soziale Opposition an. In Griechenland und Polen sind bereits Massenproteste von Jugendlichen gegen den Schulbetrieb ausgebrochen. Ebenso streiken Krankenschwestern in Spanien und Frankreich, die mehr Mittel und bessere Bezahlung fordern, um mit der Pandemie fertig zu werden. Pflegekräfte und Mediziner verurteilen die Politik der „Herdenimmunität“, die von Regierungen auf der ganzen Welt stillschweigend angenommen wurde. Nun hat auch das weltbekannte britische Medizinjournal The Lancet diese Strategie einer vernichtenden Kritik unterzogen.
The Lancet schreibt: „Das Eintreffen einer zweiten Welle und die vor uns liegenden Herausforderungen haben das Interesse an der sogenannten Herdenimmunität neu belebt. Dieser Ansatz besteht darin, einen großen unkontrollierten Ausbruch in der risikoarmen Bevölkerung zuzulassen, während die Gefährdeten geschützt werden. Befürworter meinen, dass diese Infektionen im weniger gefährdeten Bevölkerungssegment zur Entstehung einer Immunität führen würden, was letztlich auch die Gefährdeten schützen solle. Dies ist ein gefährlicher Trugschluss, der nicht durch wissenschaftliche Beweise belegt ist.“
„Eine unkontrollierte Ausbreitung unter jüngeren Menschen birgt die Gefahr einer erheblichen Morbidität und Mortalität in der gesamten Bevölkerung“, warnt The Lancet. Dies drohe, so das Journal weiter, „die Fähigkeit der Gesundheitssysteme zu überfordern, die Verfügbarkeit von Akut- und Routineversorgung zu gewährleisten“. Dies würde zudem den Boden für „wiederkehrende Epidemien“ bereiten und „das Risiko bergen, die sozioökonomischen Ungleichheiten weiter zu verschärfen (…), die durch die Pandemie bereits offengelegt wurden“.
The Lancet schreibt, dass die häuslichen Quarantänemaßnahmen, die zu Beginn des Jahres ergriffen wurden, „unerlässlich waren, um die Sterblichkeitsrate zu senken, zu verhindern, dass die Gesundheitsdienste überlastet werden und um die nötige Zeit für die Einrichtung von Reaktionssystemen zu gewinnen, die nach dem Lockdown einer Ausbreitung der Pandemie entgegenwirken konnten.“
Sieben Monate nach Inkrafttreten der Lockdowns in Europa steht es völlig außer Frage, dass die Schließung nicht lebenswichtiger Unternehmen in Verbindung mit massiven Investitionen in die öffentliche Gesundheit, Tests, Quarantäne und die Kontaktverfolgung die einzige wissenschaftliche Strategie zur Bekämpfung des Virus darstellen. Was noch zu klären bleibt, ist das politische Programm, auf dessen Grundlage sich die wachsende Opposition in der Arbeiterklasse in einen bewussten Kampf verwandeln kann, der einen entsetzlichen Verlust von Menschenleben verhindert. Eine wissenschaftliche Politik kann nur durch die internationale Vereinigung und Mobilisierung der Arbeiterklasse im Kampf für Sozialismus verwirklicht werden.
Nur ein umfassender, revolutionärer Angriff auf das kapitalistische Eigentum kann die tief verwurzelten wirtschaftlichen Interessen besiegen, die eine derart mörderische Corona-Politik diktiert haben. Die unausweichliche Schlussfolgerung aus dem Lancet-Artikellautet, dass die Öffnungspolitik der EU-Regierungen eine falsche, wissenschaftsfeindliche Strategie war, die Arbeitern und Jugendlichen von der Finanzaristokratie auf der Grundlage von Lügen aufgezwungen wurde.
EU-Regierungskreise wussten, dass ihre Politik zu einem Massensterben führen würde. Im März, als sie aufgrund von Streiks gezwungen waren, einem Lockdown zuzustimmen, erstellte das deutsche Innenministerium einen geheimen Bericht, demzufolge ohne Notfallmaßnahmen „über eine Million“ Deutsche im Jahr 2020 an Covid-19 sterben könnten. Auf einer Sitzung des französischen Nationalen Sicherheitsrates nahmen Regierungsvertreter Berichten zufolge streng geheime Warnungen vor Hunderttausenden Todesopfern zur Kenntnis. Diese Warnungen wurden jedoch vor der Bevölkerung geheim gehalten und von den Medien verschwiegen, damit die Banken und Regierungen die Rückkehr an die Arbeit erzwingen und den Strom der Profite wieder in Gang bringen konnten.
Europas Gewerkschaftsbürokratien und die mit ihnen verbündeten Parteien der Mittelschicht – wie die Linkspartei in Deutschland, Podemos in Spanien oder die NPA in Frankreich – sind an dieser kriminellen Politik beteiligt. Nachdem sie im Frühjahr nichts unternommen haben, um die Beschäftigten zu mobilisieren, unterstützten sie jetzt die Durchsetzung der Öffnungspolitik. Nachdem die deutschen und französischen Gewerkschaften in diesem Sommer eine Erklärung unterzeichnet haben, in der sie sich für EU-Rettungsaktionen aussprachen, erwarten sie nun, dass Milliarden an Rettungsgeldern auch in ihre Aktienportfolios und Gewerkschaftskassen fließen. Tausende oder Millionen Arbeiter hingegen überlassen sie ihrem tödlichen Schicksal.
Die Sektionen des Internationalen Komitees der Vierten Internationale (IKVI) haben Arbeiter und Jugendliche dazu aufgerufen, in Betrieben und Schulen unabhängig von den Gewerkschaften Sicherheitskomitees zu organisieren, um sich der Politik der „Herdenimmunität“ der herrschenden Klasse entgegenzustellen. Mittlerweile ist völlig klar, dass es unmöglich ist, die Gesundheit und Sicherheit an Arbeitsplätzen und Schulen zu verteidigen, ohne eine gemeinsame revolutionäre Strategie zu haben, die der Politik der Finanzaristokratie entgegentritt – eine Politik, die massenhafte Infektionen und massenhaftes Sterben bedeutet.
Das erfordert den Aufbau des IKVI als revolutionäre Führung in der internationalen Arbeiterklasse. So wird die politische Grundlage für massenhafte, koordinierte Streikaktionen, eine systematische Opposition und die Übernahme der politischen Macht geschaffen, damit die Ressourcen beschlagnahmt werden können, die für einen wissenschaftlichen und humanen Kampf gegen Covid-19 notwendig sind. Dazu gehört, dass Schüler und alle Arbeiter in nicht lebensnotwendigen Betrieben zu Hause bleiben können. Alle Beschäftigten und alle Kleinunternehmer, deren Einnahmen wegbrechen, müssen finanziell abgesichert werden. Erforderlich ist ein revolutionärer Kampf der Arbeiterklasse, der die EU stürzt und durch die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa ersetzt.