Banken und Aktionäre haben die deutsche Staatskasse allein zwischen den Jahren 2001 und 2016 um mindestens 31,8 Milliarden Euro erleichtert. Zählt man ähnliche Fälle in anderen EU-Ländern hinzu, summiert sich die gestohlene Geldmenge auf über 60 Milliarden Euro.
Zu diesem Schluss gelangt ein Gutachten zu den sogenannten Cum/Ex-Geschäften, das der Steuerexperte Prof. Christoph Spengel von der Universität Mannheim für eine Untersuchungskommission des Bundestags erstellt hat. Eingerechnet sind nur die bisher bekannten Betrugsfälle, die Dunkelziffer liegt weit höher.
Bei den Cum/Ex-Geschäften geht es nicht einfach um Steuerhinterziehung, sondern um bandenmäßigen Diebstahl. Die Banken ließen sich Steuern zurückerstatten, die sie in Wirklichkeit gar nie bezahlt hatten.
Beteiligt war die Crême de la Crême der internationalen Finanzindustrie. In Deutschland waren alle bekannten Großbanken mit dabei – die Deutsche Bank, die Commerzbank, auch Landesbanken oder Institute, die zum Teil in Staatseigentum sind, wie die DekaBank, sowie Investitionsfonds und Privatanleger.
Unterstützung erhielten sie von einem Heer von Finanzanwälten und Steuerberatern. Die Steuerbehörden und Finanzminister drückten beide Augen zu. Die Abgeordneten aller Parteien stimmten für Gesetze, die den Betrug erst ermöglichten.
Während Schwarzfahrer, die ein Bußgeld von 60 Euro nicht entrichten, schnell hinter Gittern landen, sitzt bisher kein einziger der Verantwortlichen für diesen wohl größten Raubzug der bundesdeutschen Geschichte im Gefängnis. Zwei britische Aktienhändler, die das Bonner Landgericht im März dieses Jahres in einem Musterprozess wegen Steuerhinterziehung in Höhe von 447,5 Millionen Euro verurteilte, kamen mit milden Haftstrafen auf Bewährung davon.
Inzwischen wird zwar gegen mehr als 100 Banken auf vier Kontinenten und rund 1000 Verantwortliche ermittelt. Doch die Verfahren ziehen sich zäh dahin und die Angeklagten setzen auf Verjährung.
Das betrügerische Modell der Cum/Ex-Geschäfte war einfach und leicht zu durchschauen. Es spielte sich jeweils um den Stichtag der Dividendenausschüttung ab. Aktienpakete wanderten von einer Hand in die andere, mit (cum) Anspruch auf Dividendenzahlung oder ohne (ex), falls die Aktie erst nach diesem Termin erworben wurde. Obwohl die Kapitalertragssteuer von 25 Prozent plus 5,5 Prozent Solidaritätszuschlag nur einmal entrichtet wurde, ließen sich anschließend mehrere zeitweilige Besitzer der Aktienpakete die Steuer zurückerstatten.
Dieser offensichtliche Betrug galt in der Finanzbranche als „legales Geschäftsmodell“. Jeder wusste Bescheid, dass da etwas faul war, aber kein Bundesfinanzminister der Jahre 1999 bis 2017 – Hans Eichel (SPD), Peer Steinbrück (SPD) und Wolfgang Schäuble (CDU) – ergriff Maßnahmen, die den Betrug unterbunden hätten. Im Gegenteil, die Anwaltskanzleien der Finanzjongleure konnten sich auf Gesetze berufen, die die Regierungen seit den 1990er Jahren auf den Weg gebracht hatten.
- Im Dezember 1999 bestätigte der Bundesfinanzhof (das oberste Gericht für Steuer- und Zollsachen), dass das „wirtschaftliche Eigentum“ an Aktien bereits bei Vertragsabschluss an den Käufer übergeht, also bevor das Aktienpaket später tatsächlich geliefert wird. Damit bot er den Finanzjongleuren die rechtliche Grundlage für ihren Betrug, den sogenannten „Leerverkauf“. Dabei werden Aktien verkauft und weiterverkauft, die sich noch gar nicht im Besitz des Verkäufers befinden. Sie können so blitzschnell mehrere Besitzer durchlaufen, ohne dass sie tatsächlich in deren Eigentum übergehen.
- Als diese Betrugsmasche zunahm, bekam der Bundesverband deutscher Banken kalte Füße und machte das Finanzministerium Ende 2002 auf die Problematik doppelter Steuerbescheinigungen bei Leerverkäufen von Aktienpaketen aufmerksam – um seine Mitglieder vor Haftungsrisiken bei diesen Geschäften zu bewahren. Die rot-grüne Regierung reagierte lange Zeit nicht, „da man keine andere praktikable technisch-organisatorische Abwicklung fand, die nicht die Wettbewerbssituation von Kreditinstituten beeinträchtigt hätte“, so ein Untersuchungsbericht des Bundestags.
- Erst fünf Jahre später gab es Änderungen im Jahressteuergesetz 2007. Dieses Gesetz behinderte den Steuerbetrug jedoch nicht, sondern wirkte wie ein Brandbeschleuniger, denn jetzt wurden ausländische Banken mit ins Boot genommen. Ein geständiger Insider berichtete der TV-Sendung Panorama, „dass ab 2007, als dieses neue Gesetz dann in Kraft getreten ist, die Industrie, die Investmentbanker, die Anwälte, die Steuerberater, die Wirtschaftsprüfer genau wussten, wie es geht. Es gab jetzt eine Blaupause, schwarz auf weiß im Bundesgesetzblatt.“
- Ein weiteres Gesetz vom Jahr 2012 sollte dann angeblich dem Steuerbetrug einen Riegel vorschieben. Neue Recherchen und Durchsuchungen bei Geldhäusern und Anwaltskanzleien haben jetzt aufgedeckt, dass der Steuerbetrug weiterging, nur mit ausgefeilteren Tricks.
Vor den Interessen der Finanzwirtschaft knickten alle Regierungen ein. Der derzeitige Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) war in seiner Zeit als Hamburger Bürgermeister mitverantwortlich dafür, dass es die Finanzverwaltung versäumte, von der Warburg Bank eine zu Unrecht gezahlte Steuerrückerstattung in Höhe von 46,8 Millionen Euro vor der Verjährungsfrist zurückzufordern. Scholz erklärte dazu bei einer Anhörung im Bundestag, die Hamburger Finanzverwaltung habe das Risiko eines Rechtsstreits mit Warburg nicht eingehen wollen.
Der schiere Umfang des Steuerbetrugs und die Beihilfe des Staates zeigen, dass es sich hier nicht einfach um Vergehen einzelner, krimineller Individuen handelt. Die Finanzialisierung der Wirtschaft – die Verlagerung der Anhäufung von Profit und Reichtum von der Realwirtschaft auf Spekulationsgeschäfte – hat die Grenze zwischen Geschäft und Verbrechen zunehmend verwischt.
In den vergangenen 25 Jahren ereigneten sich ähnliche Finanzskandale in immer kürzeren Abständen. Enron, WorldCom und Bernard Madoff in den USA oder Wirecard in Deutschland sind nur einige der bekanntesten Fälle. 2008 brachte der Schwindel mit faulen Hypotheken, an dem sich alle Großbanken der Welt beteiligten, die Weltwirtschaft an den Rand des Zusammenbruchs. Die Regierungen und Notenbanken reagierten, in dem sie Billionen in die Banken pumpten, was vor allem eines bewirkte – kriminelle Spekulationsgeschäfte wurden noch weiter angeheizt.
Vor diesem Hintergrund ist die enge personelle Verflechtung zwischen Politik und Finanzwirtschaft zu verstehen, die die betrügerischen Cum/Ex-Geschäfte überhaupt erst möglich machen.
In der höchsten Steuerbehörde des Bundes, dem Bundeszentralamt für Steuern (BZSt), arbeiteten Lobbyisten, die von Bankenverbänden bezahlt wurden und damit direkt bei der Gestaltung von entsprechenden Finanzmarktgesetzen Einfluss nehmen konnten.
So wurde der Jurist Arnold Ramacker in den 90er Jahren nach einer Karriere im Finanzministerium NRW, als Richter beim Finanzgericht Düsseldorf und schließlich als Referent im Bundesfinanzministerium mehrere Jahre lang vom Bundesverband deutscher Banken (BdB) finanziert. Er war maßgeblich bei der Gestaltung von entsprechenden Gesetzesvorlagen zum Aktienhandel involviert.
Investmentbanker und Wirtschaftsanwälte erkannten die Chance für Extraprofite dieser Geschäfte. Viele verließen ihre Managementpositionen in den Großbanken und etablierten ihr eigenes Geschäft, spezialisiert auf Cum/Ex-Geschäfte.
Beispielhaft ist der Anwalt für Steuer- und Finanzprodukte, Hanno Berger, der nach einer Laufbahn als Regierungsdirektor – als ranghöchster Steuer-Bankprüfer in Hessen – seine Karriere in der Privatwirtschaft fortsetzte und nach mehreren Stationen in amerikanischen Anwaltskanzleien seine eigene Steuerberatung gründete, mit der er das Betrugsgeschäft für zahlreiche Investoren und Finanzinstitute ankurbelte. Als Bergers Kanzlei ins Visier der Justiz geriet, löste er sie auf und setzte sich in die Schweiz ab. Vor Gericht verteidigen lässt er sich neben anderen Anwälten vom führenden FDP-Politiker Wolfgang Kubicki.
Niemand sollte sich der Illusion hingeben, die viel zu späten Ermittlungen der Justiz oder die zahmen Gesetzesvorschläge des Bundestags würden an diesen Zuständen etwas ändern.
Die Justiz wurde erst aktiv, nachdem 2011 eine Sachbearbeiterin im Finanzamt Köln eine merkwürdige Forderung nach Steuerrückzahlung in Höhe von fast 54 Millionen Euro von einem amerikanischen Ein-Mann-Pensionsfonds erhalten hatte. Investigative Journalisten untersuchten den Betrug, Datenträger von Whistleblowern mit geheimen Informationen wurden gekauft; aber erst im Jahr 2015 richtete der Bundestag eine Untersuchungskommission ein.
Personell sind die Steuerfahndungsstellen dem Heer der Wirtschaftsanwälte, die die beschuldigten Finanzinstitute vertreten, hoffnungslos unterlegen. Von „Waffengleichheit“ könne keine Rede sein, zitiert die Süddeutsche Zeitung einen Ermittler der Staatsanwaltschaft.
Ein 830 Seiten langer Bericht der Untersuchungskommission des Bundestags vom Juni 2017 bietet Einblick in die Akteure und beschreibt ihre kriminelle Vorgehensweise, die bereits seit den 1970er Jahren nachweisbar war und seit der Jahrtausendwende rasant an Umfang gewann.
Die staatliche Überwachung des Finanzsektors wird durch gesetzliche Bestimmungen behindert. So rechtfertigte Wolfgang Schäuble, Finanzminister von 2009 bis 2017, die mangelnde Überwachung des Finanzsektors mit der „strengen Verschwiegenheitspflicht“. Als er die griechische Bevölkerung nackt ausziehen ließ, um die Schulden bei den internationalen Banken zu begleichen, kannte er solche Skrupel nicht.
Wenn bei der Verfolgung einer Steuerstraftat „ein zwingendes öffentliches Interesse“ besteht, gilt diese Verschwiegenheitspflicht außerdem nicht. Doch dazu zählen die Cum/Ex-Geschäfte nicht, wie die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) in ihrem Jahresbericht 2016 schrieb. „Banken bewegen sich häufig im Spannungsfeld zwischen Legalität und Legitimität. Nicht alles, was legal ist, ist auch legitim“, schreibt die BaFin – soll heißen: Es ist zwar moralisch verwerflich, aber legal.
Die Bundesregierung bestätigte dies in ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage im Bundestag: Die BaFin überprüfe „keine konkreten Einzelgeschäfte der beaufsichtigten Institute“, sondern überwache die organisatorischen Anforderungen. Mit anderen Worten: Die BaFin überprüft, ob die Geschäfte – also auch die kriminellen – „ordnungsgemäß“ verbucht werden.
Die ertappten Großbanken setzen jetzt auf eine Verjährung der Straftaten und der Steuerrückzahlungen, denn nach §47 der Abgabenordnung erlöschen die Ansprüche des Staates auf Eintreiben der Steuerschuld bei Verjährung der Straftat. Ein neues Gesetz, das der Bundestag am 29. Juni verabschiedet hat, dehnt zwar die Verjährungszeit für kriminellen Bandenbetrug von 10 auf 25 Jahre aus. Doch die Anwälte der Beschuldigten berufen sich darauf, dass der Gesetzgeber nicht rückwirkend die Regeln ändern könne.
Die Fraktion der Linken enthielt sich im Bundestag der Stimme, als das Gesetz verabschiedet wurde. Aber auch sie setzt auf den kapitalistischen Staat, der bei allen Betrügereien seine Hand im Spiel hatte, um den kapitalistischen Räubern das Handwerk zu legen. Im Untersuchungsausschuss des Bundestags forderte sie die Einrichtung einer „Bundesfinanzpolizei“, die gegen die organisierte Finanzkriminalität vorgehen solle.
Es gibt keine Gesetzesreform, die die kriminellen Machenschaften der Finanzwirtschaft unterbinden würde. Die deutsche Justiz verurteilt Arme, wenn sie „containern“ – also Lebensmittel mit abgelaufenem Haltbarkeitsdatum aus den Containern der Geschäfte entnehmen –, während die Reichen sich mit einem Heer von Anwaltskanzleien einer Bestrafung wegen Milliardenbetrug entziehen können.
Die Regierungsparteien CDU/ CSU und SPD wiesen im Mehrheitsbericht des Untersuchungsausschusses jede Verantwortung von sich: „Dieser Untersuchungsausschuss war nicht erforderlich“, schreiben sie. „Alle Vorwürfe sind widerlegt, mit denen seine Einsetzung begründet wurde. Der Ausschuss hat die Überzeugung gewonnen, dass in den Behörden, aus denen er Akten beigezogen und Zeuginnen und Zeugen gehört hat, sachgerecht und pflichtgemäß gearbeitet wurde.“
Im Rahmen der Coronakrise wirft die Große Koalition denselben Banken, die den Fiskus bestohlen haben, erneut hunderte Milliarden Euro in den Rachen. Gleichzeitig bereitet sie Massenentlassungen und Lohnsenkungen vor, öffnet trotz steigender Infektionszahlen die Schulen und treibt die Arbeiter unter Gefährdung von Gesundheit und Leben in die Betriebe zurück, um die gestohlenen und verschenkten Gelder aus ihnen heraus zu pressen.
Diese verantwortungslose und kriminelle Politik kann nur eine unabhängige Bewegung der Arbeiterklasse stoppen, die für ein sozialistisches Programm kämpft. Die Banken und Finanzspekulanten müssen enteignet und ihre Vermögen eingezogen werden. Das wirtschaftliche Leben muss den Bedürfnissen der ganzen Gesellschaft dienen, und nicht der Profitmaximierung der Reichen.