Charles Dickens (1812-1870) war einer der größten Schriftsteller des 19. Jahrhunderts und eine literarische und kulturelle Persönlichkeit von welthistorischem Format. An bleibender Bedeutung und Popularität wird er in der englischsprachigen Literatur wohl nur von Shakespeare übertroffen.
Zu Dickens unvergänglichen Werken zählen Romane wie Oliver Twist, The Pickwick Papers (Die Pickwickier), Nicholas Nickleby, Martin Chuzzlewit (Leben und Abenteuer des Martin Chuzzlewit), Dombey and Son (Dombey und Sohn), David Copperfield, Bleak House (Bleakhaus), Hard Times (HarteZeiten), Little Dorrit (Klein Dorrit), A Tale of Two Cities (Eine Geschichte aus zwei Städten), Great Expectations (Große Erwartungen), Our Mutual Friend (Unser gemeinsamer Freund) und natürlich: A Christmas Carol (Eine Weihnachtsgeschichte), in der der Leser Ebenezer Scrooge, den Geizhals, kennenlernt.
Ende Juni sprühte jemand die Worte „Rassist Dickens“ an das Gebäude des Dickens House Museum, das im britischen Broadstairs, East Kent, steht. Ian Driver, der Übeltäter, ist ein ehemaliger grüner Stadtrat.
Ohne jedes Anzeichen von Reue sagte Driver später, er habe das Museum ausgewählt, weil es „für den tiefsitzenden institutionellen Rassismus der Stadt Broadstairs und des Distrikts Thanet“ stehe. In einer Erklärung beklagte er, dass „völkermörderische Rassisten wie Charles Dickens und König Leopold von Belgien“ gefeiert würden.
Driver mag eine exzentrische und instabile Person sein, doch sein Handeln fügt sich in ein allgemeines Muster ein. In den USA wurden Statuen von Thomas Jefferson, George Washington, Abraham Lincoln und Ulysses S. Grant entfernt, verunstaltet oder ihr Abriss angedroht.
Pseudolinke, feministische und postmodernistische akademische Kreise führen überdies schon seit Jahrzehnten eine Kampagne gegen Dickens; er sei ein Frauenhasser, Imperialist, Antisemit und reaktionärer Verteidigung von Recht und Ordnung.
D. A. Miller, ein amerikanischer, besonders von Michel Foucault beeinflusster Akademiker, behauptete in The Novel and the Police (1988), „Kaum jemand wird bestreiten (!), dass der englische Roman mit Dickens zum ersten Mal das Thema soziale Disziplinierung in den Vordergrund rückt.“ Eine Überschrift im Daily Mail im Mai lautete: „Charles Dickens, der Frauenhasser“, und darunter: „Er war ein Verfechter von Familienwerten – doch zu seiner Frau war der Schriftsteller grausam, er hasste seine Mutter, hatte eine Affäre …“
Einige unappetitliche Persönlichkeiten fühlten sich von der Kampagne gegen Dickens angezogen. Der verstorbene Christopher Hitchens, ein Schurke im Gewand eines Journalisten, teilte seinen Lesern 2010 mit, dass Dickens „der übelste von allen“ sei. Die Person, die hier mit moralischer Überheblichkeit auftritt, hat selbst politisch die Seiten gewechselt: Von der „linken“ oberen Mittelklasse, verkörpert in den britischen International Socialists, wechselte Hitchens Anfang 2000 ins Lager des Kriegstreibers George W. Bush, dessen mörderische und kriminelle Invasion des Iraks er begeistert unterstützte.
Das alles ist äußerst reaktionär und dumm, die übelste Form eines kurzsichtigen, ahistorischen Moralisierens. Soweit diese Bemühungen Erfolg hatten, sind sie Beleg für die intellektuelle und moralische Verkommenheit dieser wohlhabenden, kleinbürgerlichen Schichten.
Dickens ist vor allem deshalb so beliebt, weil aus seinen Romanen ein tiefes Mitgefühl für alle spricht, die von der honorigen Gesellschaft unterdrückt und misshandelt werden. Dies gilt besonders für Kinder. Man kann sich kaum einen anderen Schriftsteller vorstellen, der in literarisch anspruchsvoller Form so viel Mitgefühl vermittelt, höchstens vielleicht Leo Tolstoi, der große russische Romancier. Dickens hatte natürlich einen „Heimvorteil“ aufzuweisen: Als Kind hatte er Armut und Misshandlung am eigenen Leib erlebt, besonders im Alter von zwölf Jahren, als er zehn Stunden am Tag in der Fabrik schuften musste, während sein Vater in einem Schuldturm einsaß.
Damit hängt, zweitens, zusammen, dass Dickens wie kein anderer in scharfzüngigen Worten Heuchler und Sophisten skizzierte, besonders jene, die vom Elend anderer profitieren, während sie die Unterdrückten belehren und ihnen Ratschläge über ihre angeblichen moralischen und religiösen Pflichten erteilen. Karl Marx zählte Dickens zu der „heutigen glänzenden Bruderschaft von Romanschriftstellern in England“, der die Schichten der englischen Mittelklasse als „voller Anmaßung, Heuchelei, kleinlicher Tyrannei und Ignoranz“ beschreibt.
Über Bleakhaus, eins von Dickens‘ Meisterwerken, schrieb der britische Autor George Gissing in einer klugen Studie 1898, dass die Satire des Schriftstellers „sehr viel umfasst; sie nimmt Prunk und Selbstherrlichkeit generell aufs Korn, die zur Zeit Dickens‘ verantwortlich waren für so viel Grausamkeit und Heuchelei, für sinnlose Verschwendung von Leben in Schmutz, Tristesse und Elend.“
Der Northern Star, die Zeitung der Chartisten-Bewegung, der revolutionären Bewegung der britischen Arbeiter zur damaligen Zeit, lobte Dickens als „Fürsprecher der Unterdrückten“. Edwin Pugh behauptet in seinem Buch von 1908, Charles Dickens, Apostle of the People (wenn auch zu Unrecht), dass Dickens für die Arbeiterklasse ein „unbewusster Sozialist“ gewesen sei. George Bernard Shaw meinte, Dickens‘ Klein Dorrit gehöre nicht nur zu den bedeutendsten, je in englischer Sprache geschriebenen Büchern – was stimmt, es sei auch „aufrührerischer als Das Kapital“ – was nicht stimmt. Tolstoi, der Dickens sehr bewunderte, sagte über ihn: „Er liebt die Schwachen und Armen und verachtet stets die Reichen.“
All das und noch viel mehr tat Dickens auf die lebendigste und oft sehr humoristische Weise. Er schuf eine Welt von Charakteren und Persönlichkeiten, die im Englischen, wieder abgesehen von Shakespeare, ihresgleichen sucht. Die ungewöhnlichen Namen seiner Personen sagen oft schon viel über sie aus. Eine kleine Auswahl: Vincent Crummles und Familie (crummles, dt.: Krümel), Henrietta Boffin (Eierkopf), Affery Flintwinch, Tom Gradgrind (ein schrecklicher Lehrer), Mr. und Mrs. Gulpidge (Essensgäste, to gulp: schlingen), der Lehrer M’Choakumchild, Newman Noggs, „The Infant Phenomenon (Das Wunderkind), Herbert Pocket, Jonas Chuzzlewit, Mr. Pumblechook, Mr. Smallweed (ein Geldverleiher), Wackford Squeers, Paul Sweedlepipe, Montague Tigg, Nathaniel Winkle und Mrs. Wopsie.
In seinem glänzenden Essay, Dickens: The Two Scrooges (1939) sagt der amerikanische Literaturkritiker Edmund Wilson, dass der Schriftsteller „beinahe ausnahmslos gegen Institutionen“ Stellung bezog. Zwar erkannte er „Kirche und Staat“ in Worten an, so Wilson, doch wann immer Dickens in seiner Kunst auf „Gesetze, Gerichte und Diener des Staates, auf Religion, seien es protestantische Abweichler oder die Kirche von England, zu sprechen kommt, dann macht er sie entweder lächerlich, oder er demonstriert ihre Grausamkeit, oder beides zusammen“.
Weiter sagt Wilson über Dickens: „Er war einer der ganz wenigen britischen Intellektuellen, denen man die Möglichkeit bot, in die regierende Klasse aufzusteigen, und die diese Ehrung tatsächlich ablehnten.“
Wenn Dickens Rassismus nachgesagt wird, bezieht sich das auf Bemerkungen, die er gelegentlich über Indien, Afrika, China und Irland und über die britische Kolonialherrschaft in diesen Regionen machte. Einige seiner Kommentare sind reaktionär und schießen weit übers Ziel hinaus. Die schlimmsten beziehen sich auf die Rebellion in Indien 1857, auch bekannt als Sepoy-Aufstand, in deren Verlauf 120 britische Frauen und Kinder von Rebellen getötet wurden.
In ihrem klugen Buch, Dickens and Empire, kommentiert Grace Moore: „Um Dickens‘ unappetitliche und blutrünstige Forderung nach Rache unmittelbar nach dem Massaker wurde viel Aufhebens gemacht; doch rückte er bereits nach sechs Monaten davon ab. Als deutlich wurde, dass das gleichermaßen abstoßende Verhalten der Briten den Untaten der Sepoy in nichts nachstand, stellte Dickens seine Ausfälle sofort ein.“
Interessanterweise legt Moore im Weiteren dar, dass in Eine Geschichte aus zwei Städten (1859) „Dickens seine Haltung gegenüber den Sepoy-Soldaten und den Rebellen, die sich ihnen anschlossen, [änderte], indem er sie wohlwollend in einem Atemzug mit dem französischen Dritten Stand von 1789 nannte und auch mit den englischen arbeitenden Klassen verglich. Und nach seinen Ausbrüchen von 1857 war Dickens in der Tat viel vorsichtiger, wenn er über Rassenfragen sprach.“
In jedem Fall ist ein regelrechter Markt entstanden, klein, aber lukrativ, der Dickens als Rassist, Frauenhasser und Bösewicht entlarven will.
Nur wenige Literaten oder Künstler von Rang sind von solchen Anfeindungen verschont geblieben. Shakespeare wurde in dem Film Anonymous (2011) von Roland Emmerich auf idiotische Weise als halbgebildeter Aufschneider, Trunkenbold und Mordgeselle durch den Schmutz gezogen, der sich für Werke feiern ließ, die in Wirklichkeit der Earl of Oxford verfasst hatte.
Auch Tolstoi wurde in dem Roman The Last Station (dt. Verfilmung: Ein russischer Sommer, 2009) zu einem gewissen Grad verfälscht und trivialisiert, wenn auch nicht so bösartig. Percy Shelley und Lord Byron erging es in Mary Shelley (2017) ähnlich. Papa: Hemingway in Cuba (2015) präsentierte Ernest Hemingway und seine Kunst auf erschreckend niedrigem Niveau. Nicht ganz so schlimm erging es Orson Welles in Me and Orson Welles (2008, Ich & Orson Welles) und RKO 281 (1999, Citizen Kane – Die Hollywood-Legende). Einige Bücher wurden eigens geschrieben, um den Ruf des deutschen Dramatikers und Dichters Bertolt Brecht zu zerstören, etwa John Fuegis Brecht & Co (1994).
Dickens war bereits 2013 in Ralf Fiennes‘ Filmbiografie, The Invisible Woman (2013), unter Beschuss geraten, die seine 13-jährige, außereheliche Beziehung mit der sehr viel jüngeren Schauspielerin Ellen Ternan thematisiert. Die Filmemacher äußerten ihr Missfallen darüber, wie Dickens seine Frau und seine Geliebte behandelte, und ignorierten die Tatsache, wie die WSWS schrieb, dass der Schriftsteller „ein Produkt seiner Zeit und der sozialen Umstände war (die eine Scheidung unmöglich machten).“
Wir fügten hinzu: „Offen gestanden, ist die Entschiedenheit des Schriftstellers, in seinen Romanen das Leben darzustellen, tausendmal wichtiger und dauerhafter als die ihm angelasteten Sünden. Wer hat diese kleinbürgerlichen Kritiker zur moralischen Instanz erhoben, um über weit zurückliegende Ereignisse zu richten? Wessen können sie sich rühmen? Man sollte nicht übersehen, dass das Drehbuch von Abi Morgan ist, die auch das Drehbuch für die peinliche Huldigung an Margaret Thatcher The Iron Lady (Die Eiserne Lady, 2011) schrieb.“
Diese Vorgänge deuten wieder einmal auf ein sehr ungünstiges künstlerisches und gesellschaftliches Klima hin. In einer Zeit, in der der Mangel an künstlerischem Genie vom Format eines Shakespeares, Dickens’, Tolstois, Balzacs und anderer nicht zu leugnen ist, verspüren mittelmäßige Kritiker den unwiderstehlichen Drang, entschieden zu leugnen, dass es überhaupt jemals so etwas wie Genius gegeben hat. Der Künstler der Vergangenheit muss auf Normalmaß zurechtgestutzt werden, damit der Kritiker von heute, dem es an Format gebricht, sich besser fühlen kann. „Also, sie waren auch nicht so viel anders als wir, letztlich auch kleinkariert, selbstsüchtig, nachtragend …“ Mehrere Generationen von Intellektuellen, die großenteils nach rechts gegangen sind, können sich nicht vorstellen, was künstlerische Größe auf dem Niveau eines Charles Dickens bedeutet, und welche Selbstaufopferung und erschöpfende geistige Arbeit damit verbunden ist (eine Arbeit, die dazu beitrug, dass er bereits mit 58 Jahren starb).
Diese Leute halten Ausschau und entdecken allenthalben Kleinkariertheit und niedrige Beweggründe, weil genau diese ihr eigenes Leben und Handeln prägen. Skandale provozieren, Geschwätz und dergleichen bestimmen ihr Leben, und das projizieren sie auf all diejenigen, deren Werke sie kritisieren.
Zu den schlimmsten Fehlern von Dickens zählt aus der Sicht heutiger Akademiker seine ungebrochene Popularität. Keins seiner Werke wird nicht mehr aufgelegt. Eine Geschichte aus zwei Städten soll zu den meistgelesenen Romanen aller Zeiten gehören. Der Kulturhistoriker Arnold Hauser sagte, mithilfe von „kurzen monatlichen Kapiteln gewinnt er [Dickens] eine völlig neue Klasse für die Literatur, eine Klasse von Menschen, die zuvor nie Romane gelesen haben“.
Für den modernen, akademischen Zyniker, der sich mit seiner eigenen Bedeutungslosigkeit und Ohnmacht abgefunden hat, ist dies natürlich Grund genug, Dickens zu verachten. Was die Masse der Bevölkerung anzieht, muss wertloses Zeug sein, weil die Masse nichts als Rückständigkeit verkörpert. Es passt ins Bild, dass der Angriff auf das Dickens House in Broadstairs von einem Mitglied der Grünen Partei geführt wurde, eine kleinbürgerliche, neomalthusianische Bewegung, die der Arbeiterklasse zutiefst feindlich gegenübersteht.
Wie es heute üblich ist, gelingt es einem nennenswerten Teil der gegenwärtigen, akademischen Dickens-Kritiker, ihre hartnäckige Abneigung gegen die breiten Bevölkerungsschichten in „linke“ Sprüche zu verpacken. Dickens wird letztlich angekreidet, keine sozialistischen und internationalistischen Ansichten vertreten zu haben. Die Tatsache, dass er bereits 38 von seinen 58 Jahren gelebt und acht große Romane geschrieben hatte, bevor der sozialistische Internationalismus überhaupt in organisierter Form existierte, das interessiert diese Kritiker nicht. (Die erste Ausgabe des Kommunistischen Manifests wurde erst gegen Ende der 1850er Jahre in England bekannt.)
Als ernstzunehmender Belletrist und Chronist des städtischen, auch des proletarischen städtischen Lebens, wurde Dickens Mitte der 1830er Jahre in der Öffentlichkeit bekannt. Vor ihm gab es in England schon Persönlichkeiten mit klangvollem Namen wie Daniel Defoe, Tobias Smollett, Laurence Sterne, Henry Fielding, Samuel Richardson, Fanny Burney oder Walter Scott. Aber er schrieb eine völlig neue Art von Gesellschaftsroman. Wie viele vor ihm gab es, die ihm den „richtigen“ Weg weisen konnten? Solche Fragen stellen sich unsere heutigen Kritiker nie.
Ebenso wenig interessiert sie der enorme Druck, der auf einem Schriftsteller der damaligen Zeit lastete. Leo Trotzki erwähnte einmal die erstaunliche Tatsache, dass Tolstoi Krieg und Frieden (ein 1200-Seiten-Roman) siebenmal neu schrieb und überarbeitete! Ebenso erstaunlich ist aber die Tatsache, dass Tolstoi die Muße fand, diesen unvorstellbaren Kraftakt zu vollbringen. Dickens schrieb seine großen, komplexen Romane in monatlichen Kapiteln, in „Echtzeit“, sozusagen. Wenn ein Kapitel erschienen war, gab es kein Zurück. Diese Methode, darauf wies George Gissing hin, „bei der dem Autor nur wenig Zeit bis zum nächsten Erscheinungstermin blieb, war so ziemlich das Schlimmste, was ein Schriftsteller sich vorstellen kann“.
Dickens hatte viele menschliche Schwächen. Einige von ihnen waren unvermeidlich, für andere war er selbst verantwortlich. Einen bedeutsamen Künstler ohne persönliche Schwächen wird man nur schwerlich finden. Die Klassengesellschaft beschädigt, deformiert und behindert die Talentierten oft genauso wie die übrigen Menschen. Künstlerische Genialität zum einen, persönliche Eigenheiten, Selbstsucht oder sogar zerstörerische Seiten zum anderen können in ein und derselben Person vereint sein.
Die Projektion heutiger kleinbürgerlicher Wertvorstellungen auf vergangene Zeiten, die Auffassung, man müsse nur die Gedanken, Gefühle und Motive der heutiger Menschen in die Vergangenheit verlegen, wie George Lukacs sie vertrat, all das sind besonders schädliche und kontraproduktive Methoden. Der heutige Kleinbürger, der sich an Dickens‘ gelegentlicher Rückständigkeit und an seinen Vorurteilen stößt (die der Schriftsteller oft nur privat äußerte), bleibt vollkommen unberührt von dem tiefempfundenen Mitgefühl des Romanciers für die Unterdrückten und Geschundenen, wie es in seinen Romanen zum Ausdruck kommt, denn er oder sie kennt solche Gefühle nicht. Was zählt, ist außer den aktuellen Identitäts-Themen höchstens die eigene Befindlichkeit, sowie ein gerüttelt Maß an Egoismus und Selbstmitleid. Die Probleme der großen Masse der Bevölkerung interessieren diese Leute kaum. Schlimmer noch, die aufgeblasene Mittelklasse verdrängt solche existenziellen Probleme und die Menschen, denen sie im Nacken sitzen, völlig aus dem Rampenlicht und von der gesellschaftlichen und intellektuellen Bühne.
Im Jahr 1898, als Gissing seinen Essay schrieb, geriet Dickens bereits unter Beschuss von Ästheten, gebildeten Modernisten und anderen Kleinbürgern. Gissing wandte sich scharf gegen die ahistorische, anachronistische Herangehensweise an die Kunst. Er meinte, der große Schriftsteller habe „in Wirklichkeit ein neues Zeitalter der englischen Belletristik eingeläutet, und der Kritiker unserer Tage, der dies übersieht und Dickens zu dessen Nachteil mit späteren Schriftstellern vergleicht, begeht das schlimmste Unrecht! Dickens ist ein Meister des Erzählens. Er hat der Kunst seiner Vorgänger neue Lebenskraft verliehen, indem er sich ganz dem Leben zuwandte. Dass er das Leben nicht mit den Augen einer späteren Generation gesehen hat, kann ihm wohl kaum zum Vorwurf gemacht werden; dass seine Individualität [also individuelle und spezifische Gegebenheiten] seine Sichtweise beeinflusste, das gilt wohl für jeden Künstler.“ Sehr richtig.
Edmund Wilson meinte, dass Dickens von allen viktorianischen Schriftstellern „vielleicht im schärfsten Gegensatz zum viktorianischen Zeitalter stand“. Scheinbar im Widerspruch dazu behauptete Gissing, dass Dickens „abgesehen von seinem Genius, ein typischer kleinbürgerlicher Engländer [war]“.
Bei richtiger Betrachtung gibt es hier vielleicht gar keinen Widerspruch. Wenn man von der Kunst von Dickens spricht, vor allen Dingen in seinen späteren, düsteren Romanen (Martin Chuzzlewit, Dombey und Sohn, Bleakhaus, Klein Dorrit, Große Erwartungen und Unser gemeinsamer Freund), mit ihrer enormen schöpferischen Kraft, ihrem rastlosen und schonungslosen moralischen Radikalismus, ihrem instinktiven Hass auf alles Offizielle, dann hat Wilson zweifelsohne recht. Der Künstler Dickens befindet sich im Krieg mit seiner Zeit und deren Kultur.
Als hochangesehenes, gut bezahltes Mitglied der britischen Gesellschaft, damals die reichste und mächtigste der Welt, war Dickens in seinen gesellschaftlichen Ansichten und seinem Gebaren gleichwohl in hohem Maße ein „typischer Engländer der Mittelklasse“. Zu einer Zeit, als Nationen und Nationalität noch viel größeres Gewicht hatten und sehr großen Druck ausübten, waren „britische Bedürfnisse“ für Dickens „absolut vorrangig“, wie Grace Moore konstatiert.
Dickens verspottet und verhöhnt mit Vorliebe Missionare und andere Wohltäter (zum Beispiel Mrs. Jellyby in Bleakhaus), die sich große Sorgen machen um das Schicksal von Afrikanern und anderen, obwohl es so viel Elend in England gibt. Doch, wie Eine Geschichte aus zwei Städten und Barnaby Rudge (ein historischer Roman im Stile Scotts, der zur Zeit der Gordon-Unruhen von 1780 spielt) zeigen, dass der Schriftsteller mit der Masse der Bevölkerung, im eigenen Land wie im Ausland, „sympathisiert und sie gleichzeitig fürchtet“, wie Wilson schrieb.
Alle Widersprüche entwickeln sich systematisch und logisch, und das gilt auch für Dickens‘ zwiespältige oder noch schlimmere Empfindungen gegenüber den Kolonialvölkern.
Dickens empfand „wirkliche Abscheu“ für die Sklaverei (Moore) und die Gewalt, die man männlichen und weiblichen Sklaven zufügte. Das geht aus seinen American Notes (Aufzeichnungen aus Amerika) hervor, die von seiner entmutigenden Lesereise durch die USA 1842 handeln. Moore schreibt weiter: „Dickens setzte sich sehr für die Emanzipation aller Sklaven ein und glaubte, dass sie schließlich als mit den Weißen Gleichberechtigte in die Gesellschaft integriert werden könnten.“
Wie der größere Teil der englischen Mittelklasse, die er in seinen Romanen so oft verspottete, sympathisierte Dickens beim Ausbruch des Bürgerkriegs mit dem Süden. Er tat dies im Namen des „Freihandels“ und rechtfertigte das in einem Brief damit, dass „der Norden den Neger [hasst], und er hasste die Abolitionisten und hatte für sie nichts als Spott übrig, bis es opportun erschien, Mitleid mit dem Neger als Grund für den Bürgerkrieg anzuführen. Abgesehen davon gibt es keinen Unterschied zwischen beiden Parteien. Beide werden große Worte machen und lügen und kämpfen, bis sie einen Kompromiss erzielen, und der Sklave wird in diesem Kompromiss vorkommen oder nicht vorkommen, wie es sich gerade ergibt.“
Dickens leistete seinen großartigen Beitrag als Künstler, nicht als gesellschaftlicher Denker oder politischer Philosoph. In seinen Büchern findet man kleinbürgerliches Pathos, Melodram und Sentimentalität en masse – und auch oft Ausblendung der gesellschaftlichen Realität –, aber sie enthalten sehr viel mehr unverfälschtes Leben, auch das „schmutzige, geschäftige, abstoßende London“.
Ein bedeutender Künstler bereichert das menschliche Verständnis und Fühlen, insbesondere das der progressiven oder aufsteigenden Klassen. Aspekte der gesellschaftlichen und psychologischen Realität, die dem menschlichen Bewusstsein verborgen waren, werden ihm dadurch bewusst. Das Wort „Dickensian“ ging nicht ohne Grund in den englischen Wortschatz ein. Den Schriftsteller befähigten seine starken und manchmal grausamen Erfahrungen, sein Mitgefühl und seine große künstlerische Intuition dazu, der herrschenden Elite wie im Spiegel zu zeigen, welches Leid und Elend sie der Bevölkerung zufügte. Und er zeigte auch die Reaktion der Bevölkerung, die manchmal komplex, manchmal explosiv ausfiel. Ein Künstler tritt meistens nicht für ein politisches Programm ein. Sein oder ihr Radikalismus hat damit zu tun, wie ehrlich er oder sie sich mit dem Leben auseinandersetzt.
Alexander Woronski, der sowjetische Literaturkritiker, betonte in seinem Essay „Über Kunst“ (1925): „Der wahre Wissenschaftler entdeckt Naturgesetze, sonst gehört er zu den Stümpern, bestenfalls zu den Faktensammlern, aber ebensolche Entdeckungen macht auch der Künstler.“ Darwin hat die Entstehung der Arten entdeckt und begründet, aber Tolstoi entdeckte die objektiv existierenden menschlichen Typen, die er in Krieg und Frieden auftreten lässt. Auf diese Weise „entdeckte“ auch Dickens Scrooge, Oliver Twist, Uriah Heep, Seth Pecksniff, Estella Havishman und Sam Weller … und Jarndyce gegen Jarndyce (in Bleakhaus), in dem unseligen, zermürbenden, ruinösen Erbschaftsstreit über mehrere Generationen, der „so komplex geworden ist, dass niemand seine Bedeutung versteht, die beteiligten Parteien am allerwenigsten“.
Woronski fügt hinzu: „Der wahre Künstler, wie auch der wahre Wissenschaftler, fügt dem, was es schon vor ihm gab, stets etwas hinzu, andernfalls wiederholt er nur.”
Wir lesen Dickens heute nicht, weil, sondern obwohl er ein angesehener viktorianischer Gentleman mit vielen Vorurteilen war. Er tat, was jeder große Künstler tut: Er verlieh seinen Ansichten und Stimmungen eine Reichhaltigkeit und Lebendigkeit, die sie über die Beschränkungen seiner Zeit, seiner Klasse und seines Milieus hinaushoben. Wie Trotzki sagte, er hob „die Erfahrung seiner Epoche auf eine beeindruckende künstlerische Höhe“. Alles andere ist zweitrangig.