Die Schweiz in Zeiten von Corona

Auf der ganzen Welt steigen die Zahlen der Coronavirus-Infizierten, und ein Zentrum der Pandemie ist auch die Schweiz. Sie ist als erzkapitalistisches Land denkbar schlecht darauf vorbereitet.

Die Schweiz weist mittlerweile die zweithöchste Steigerungsrate von COVID-19 auf, höher als Spanien und fast so hoch wie Italien. In einer Woche haben sich die Infizierten-Zahlen von 2300 auf 9200 vervierfacht. Bis am Dienstagnachmittag sind in der Schweiz 122 Personen verstorben, fast so viele wie in Deutschland, das eine zehnmal so große Bevölkerung hat.

Die Art und Weise, wie das Land auf das Coronavirus reagiert, ist bezeichnend. Vor allem ist die Regierung entschlossen, Milliarden Franken für die Rettung der Banken aufzubringen. Bedenkenlos ist sie bereit, das Leben der Arbeiter für die Wirtschaft aufs Spiel zu setzen. Das zeigt schon ein Blick auf die Umsetzung der Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie.

Die Schweiz hat ihren Zeitvorsprung seit Beginn der Pandemie im Januar ungenutzt verstreichen lassen. Das Land, das neben den größten Banken auch die mächtigsten Pharmakonzerne aufweist, setzt bis heute die elementarsten Anweisungen der Experten nicht um. Laut der Weltgesundheitsorganisation WHO, die auch in der Schweiz (in Genf) residiert, ist das A und O der Eindämmung die „entschlossene Ausweitung der Tests, der Isolation und der Kontaktverfolgung“. Ohne dies, so WHO-Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus, bekämpfe man eine Feuersbrunst mit verbundenen Augen.

Aber die Schweizer Regierung hat die Bereitstellung von Coronavirus-Testkits der Pharmaindustrie überlassen. Für ein frühzeitiges und umfassendes Testen der Bevölkerung reichen die Testkits bei weitem nicht aus. Nicht einmal alle Personen, die aus China, dem Iran oder Italien kommen, werden getestet.

„Breites Testen ist einfach nicht möglich“, behauptet Severin Schwan im Namen des Pharma-Dachverband IFPMA. Diese Aussage eines hochbezahlten Managers der Privatindustrie (Schwan kassierte als CEO des Schweizer Roche-Konzerns letztes Jahr mehr als 11,5 Millionen Schweizer Franken) kommt einem vernichtenden Urteil über die chaotische kapitalistische Misswirtschaft gleich. Die Roche-Gruppe mit Sitz in Basel verfügt über praktisch unbegrenzte Kapazitäten. Sie ist in über 100 Ländern mit rund 94.000 Mitarbeitern tätig. Im Jahr 2018 investierte sie 11 Milliarden in die Forschung und erzielte einen Umsatz von 56,8 Milliarden Franken.

Dennoch war es laut Schwan „einfach nicht möglich“, eine Krise vorauszusehen, die von den Virologen seit Jahren präzise vorausgesagt worden war, und dafür Vorsorge zu treffen.

In den Apotheken und Läden der reichen Schweiz sind seit Wochen Artikel wie Desinfektionsmittel, Thermometer, Handschuhe, Schutzbekleidung oder Schmerzmittel nicht erhältlich oder streng limitiert. Die Krankenhäuser sind fieberhaft damit beschäftigt, die Zahl der Intensivbetten aufzustocken, und es fehlt an Beatmungsgeräten. Andreas Wieland, Chef des weltweit führenden Beatmungsgeräteherstellers Hamilton mit Sitz in Bonaduz, Graubünden, bezeichnet die bisher vorhandenen rund 1200 lebensrettenden Maschinen als unzureichend: „Ich gehe davon aus, dass dies niemals ausreichen wird, wenn die Pandemie so heftig kommt wie in Italien“, sagte Wieland Swissinfo.

Am Universitätsspital Zürich ist die erste Intensivstation schon voll, während die Zahl der Patienten täglich steigt. Das Hauptproblem ist der Mangel an Pflegefachleuten, wie der Berufsverband der Pflegefachfrauen und –männer seit langem warnt. Krankenschwestern sollen sogar zum Weiterarbeiten aufgefordert worden sein, obwohl sie positiv getestet waren.

Jetzt rächt sich der neoliberale Kurs, der seit dreißig Jahren Krankenhäuser und das ganze Gesundheitswesen den Sparmaßnahmen und der Kommerzialisierung unterwirft. Auch die Rentenkassen, die Arbeitslosenversicherung und die Sozialhilfe wurden durch Kürzungen und Sparmaßnahmen unterhöhlt. Gleichzeitig wurden die Unternehmenssteuern in der Schweiz, die im internationalen Vergleich schon sehr niedrig sind, noch weiter abgesenkt. Statt Steuerschlupflöcher zu beseitigen, bemühen sich die Politiker seit Jahrzehnten, aus der Schweiz ein Steuerparadies für Superreiche zu machen.

Die Privatisierungsorgie des letzten Vierteljahrhunderts hat jetzt im Gesundheitswesen zu der absurden Situation geführt, dass mehrere Privatkliniken wegen der Coronakrise Kurzarbeit anmelden. Darüber berichtete am Dienstag das Nachrichtenportal Nau.ch in einem Artikel, der nach wenigen Stunden wieder verschwand. Demnach stehen die Krankenschwestern in bestimmten Privatkliniken ohne Arbeit an leeren Betten, weil alle nicht-lebensnotwendigen Operationen, wie zum Beispiel Schönheitsoperationen, aufgeschoben werden müssen. Derweil arbeiten ihre Berufskollegen in anderen Krankenhäusern am Rande der Erschöpfung. Bisher war nur der Kanton Freiburg so vernünftig und hat am Wochenende zwei Privatkliniken per Verordnung zu seiner Verfügung übernommen.

Andere Krankenhäuser und Kantonsregierungen setzen Medizinstudenten ein. Der Bundesrat, die siebenköpfige Regierung, hat in einer Notverordnung beschlossen, die Schweizer Armee, die eine Milizarmee ist, zu mobilisieren, um die Krankenhäuser zu entlasten. Am 17. März hat der Bundesrat die Obergrenze für den Assistenzdienst der Armee bis Ende Juni auf 8000 Soldaten angehoben. Einberufen werden vor allem medizinisch ausgebildete Soldaten, die sonst nicht in Krankenhäusern und Arztpraxen tätig wären.

Der Auftrag sieht jedoch auch vor, dass Soldaten außer im Gesundheitswesen und in der Logistik auch für die Aufrechterhaltung der Sicherheit, also der öffentlichen Ordnung eingesetzt werden können.

Der Bundesrat hat diese Entscheidung im Alleingang getroffen, obwohl dafür ein Parlamentsbeschluss nötig wäre. Seit zehn Tagen entscheidet die Regierung per Notrecht, ohne Einbezug des National- und des Ständerats, nachdem die Räte wegen der Coronakrise ihre Frühlingssession und die Arbeit in den Kommissionen abgebrochen haben. Den vorzeitigen Abbruch hatten die Präsidien der beiden Kammern und aller Fraktionen am 15. März gemeinsam beschlossen.

Kurz darauf stellte die regierende Allparteienkoalition am 17. und am 20. März ihr Notprogramm für die Wirtschaft vor. Die Schweizer Nationalbank (SNB) versicherte, dass sie am Negativzins von 0,75 Prozent festhalten und verstärkt Devisen aufkaufen werde, um den Schweizer Franken zu stützen. Seit dem Bankencrash von 2008 hat die SNB jedes Jahr mehr ausländische Devisen aufgekauft, im letzten Jahr für bis zu 800 Milliarden Franken. Die Regierung ist zweifellos bereit, für die Rettung des Finanzplatzes Schweiz weitere gigantische Summen locker zu machen.

Der Bundesrat hat den Konzernen und den kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) ein Hilfsprogramm über 42 Milliarden CHF versprochen, das auch Kurzarbeitergeld finanzieren soll. Auch Zeit-, Leih- und befristete Arbeiter sollen angeblich berücksichtigen werden. Allerdings gibt es tausende Arbeiter und Tagelöhner, die im Tourismus- und Dienstleistungsland Schweiz von einer prekären Beschäftigung leben.

Die Wochenzeitung (WoZ) zeigt in einem Bericht auf, dass das Maßnahmenpaket des Bundesrats für sehr viele aus „vagen Hilfsversprechungen“ besteht. So habe beispielsweise das Fünfsterne-Hotel Dolder in Zürich zwar Kurzarbeit für seine Festangestellten beantragt, aber die im Stundenlohn Beschäftigten einfach nicht weiter eingesetzt. Im Gastgewerbe ist nach Zahlen des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds jeder Dritte im Stundenlohn beschäftigt. In der Hotellerie, dem Gaststättengewerbe oder dem Wintersport verlieren jetzt Tausende ihre Existenz.

Besonders betroffen sind die Grenzgänger, von denen sehr viele aus Italien kommen. Seit einer Woche stehen im Tessin, im Wallis und im Graubünden 68.000 Grenzgänger mit italienischem Pass vor verschlossenen Grenzen, wenn sie zur Arbeit kommen. Wie viele Unternehmen sich den bürokratischen Aufwand sparen, auch für sie das Kurzarbeitergeld einzufordern, ist unbekannt.

Am Wochenende kam es zu einer bezeichnenden öffentlichen Kontroverse, als die Tessiner Kantonsregierung am Samstag alle Baustellen und Industriebetriebe mit Ausnahme der lebensnotwendigen Betriebe schloss. Der an Italien grenzende Kanton reagierte damit auf die Entwicklung der Corona-Infektion, die im Tessin der übrigen Schweiz etwa ein bis zwei Wochen voraus ist. Gleichzeitig wurde das Kantonsspital Locarno zum Covid-19-Krankenhaus umgerüstet.

Von der Schließung betroffen sind auch die drei Edelmetallbetriebe Argor Heraeus, Valcambi und PAMP im Tessin. Dort werden die in der Krise heißbegehrten Goldbarren und Edelmetalle für Luxusuhren und andere Artikel hergestellt. Für die ungehinderte Goldbarrenproduktion hatte Argor Heraeus in Mendrisio schon Arbeiter in Hotels einquartiert.

Italienische wie Schweizer Beschäftigte mussten also bis zur Schließung täglich ihr Leben für eine völlig unnötige Produktion aufs Spiel setzen, und zweifellos war die Unruhe unter diesen Arbeitern sehr groß. Das ist der Grund, warum auch die unternehmerfreundliche Unia, die größte Schweizer Gewerkschaft, den Shutdown im Tessin unterstützte. Im Gespräch mit dem Boulevardblatt Blick begründete dies Unia-Präsidentin Vania Alleva mit den Worten: „Wenn sich die Pandemie weiter ausbreitet, wird das die Wirtschaft viel härter treffen.“

Der Präsident der Schweizer Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie (SwissMEM), Hans Hess, ging jedoch auf die Barrikaden. Hess ist auch Vizepräsident des größten Unternehmerverbands Economiesuisse und pensionierter Oberst im Generalstab. Zornig behauptete Hess, der Shutdown im Tessin sei „nicht im Interesse der Bürger“, und forderte den Bundesrat aggressiv auf, dagegen vorzugehen.

Die Tessiner Maßnahme sei „eine Desavouierung des Bundesrates“, sagte der Unternehmerpräsident. „Ich hoffe, dass das Tessin noch zur Vernunft kommt und zurückkrebst.“ Dem Blick sagte Hess: „Die Produktion muss weiterlaufen. Die Industrie ist ein komplexes System. Das kann man nicht ohne Folgeschäden ganz herunterfahren.“ Eilfertig hieß es nur Stunden später aus dem Justizministerium, der Kanton Tessin habe tatsächlich gegen Bundesrecht verstoßen, und man prüfe jetzt, ob die Maßnahme rückgängig gemacht werde.

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