„Nicht mit uns! Kein Pakt mit Faschisten – niemals und nirgendwo!“ Unter diesem Slogan fand am letzten Samstag, dem 15. Februar, eine Großdemonstration in Erfurt statt. Zehn Tage zuvor hatte die Wahl des Ministerpräsidenten mit den Stimmen von AfD, CDU und FDP im Thüringer Landtag gezeigt, dass die herrschenden Eliten wieder bereit sind, mit Faschisten zusammenzuarbeiten.
„Das ist ein Tabubruch, den wir nicht akzeptieren dürfen“, kommentierten Teilnehmer einer Gruppe aus Nordheim im Gespräch mit der WSWS das Geschehen. „Es ist unerträglich, dass sie hinter den Kulissen derartige Manöver mit Faschisten organisieren.“
„How dare you – wie konnten sie es wagen, solche Bündnisse zu schließen?“ formulierte Esther Bejarano den allgemeinen Protest in einer Erklärung, die am Samstag von der Erfurter Bühne herab verlesen wurde. Das Statement der 95-jährigen Musikerin, KZ-Überlebenden und Vorsitzenden des Auschwitz-Komitees endet mit dem Fazit: „Die Nazis sind nie weggewesen.“
Gegen eine Rückkehr des Faschismus versammelten sich an diesem Tag auf dem Domplatz über 18.000 Teilnehmer, die anschließend in einer langen Demonstration durch Thüringens Hauptstadt und an der Staatskanzlei vorbeizogen. Weitere 2000 blockierten gleichzeitig einen europäischen Neonazi-Aufmarsch in Dresden.
Zur Erfurter Kundgebung hatten dutzende Organisationen aufgerufen, darunter gewerkschaftlich geprägte und der Linkspartei nahestehende Gruppen, sowie Naturfreunde, jüdische, Migranten-, Jugend- und Rentnergruppen („Omas gegen Rechts“) und unzählige antifaschistische Initiativen, von denen viele aus Thüringen und Sachsen kamen.
Die Sozialistische Gleichheitspartei (SGP) war mit der Erklärung „Der Kampf gegen die AfD erfordert eine sozialistische Perspektive“ vor Ort, von der sie 3000 als Flyer verteilte. Der SGP-Flyer wies auch auf den Fall des rechtsradikalen Berliner Professors Jörg Baberowski („Hitler war nicht grausam“) hin, der nicht nur den Schutz der renommierten Humboldt-Universität, sondern auch den der Bundesregierung genießt. In Erfurt hatten viele Teilnehmer schon davon gehört und waren neugierig, Näheres zu erfahren.
Während die offiziellen Sprecher von DGB, IG Metall und Kirchen bemüht waren, die Kritik auf CDU und FDP zu fokussieren, waren viele Teilnehmer von einer prinzipiellen Ablehnung des Faschismus motiviert, die den Kapitalismus mit einschließt. Viele äußerten sich deshalb auch kritisch über die SPD, die Grünen und die Linke.
So sagte Gerhard, ein Rentner aus dem Saarland, er sehe den bisherigen thüringischen Ministerpräsidenten Bodo Ramelow (Die Linke) „ähnlich wie zum Beispiel Kretschmann in Baden-Württemberg. Am Kapitalismus hat sich doch nichts geändert, und Ramelow ist kein Sozialist. Sobald diese Leute Ministerpräsidenten werden, dienen sie zwangsläufig dem Kapitalismus.“
Gerhard wies auf den Zusammenhang mit den sozialen Fragen hin und sagte: „Die AfD hat davon profitiert, dass alle Parteien für die einfachen Leute zu wenig tun. Hohe Mieten, Arbeitslosigkeit, die ganzen sozialen Fragen geraten immer mehr und mehr ins Abseits, und keiner kümmert sich drum. Stattdessen werden Milliarden ins Militär gesteckt.“
Auch Silvia aus Erfurt sah den Aufstieg der Rechtsextremen im Zusammenhang mit der sozialen Ungleichheit: „Hinter der AfD stehen Millionäre und Unternehmer, die sie mit großen Summen finanzieren“, sagte sie. „Die Politik hält sich die Rechtsradikalen warm, weil man sie vielleicht noch braucht.“
Das gelte auch für die rechtsextremen Netzwerke in Polizei und Militär: „Die werden nicht aufgedeckt und ausgehoben, weil sie gar nicht aufgedeckt werden sollen.“ Nach dem Zweiten Weltkrieg sei „die ganze Nazi-Geschichte nie vernünftig aufgearbeitet worden“, sagte Silvia, „und das rächt sich jetzt“.
Am Protesttag beteiligten sich tausende Jugendliche, darunter auch Celine, Evion, Evelin, Line und Miriam, Studierende am Fachbereich „Internationale Beziehungen“ der Universität Erfurt. „Wir beschäftigen uns jeden Tag mit diesen Sachen. Wir erleben hier, wie wichtig es ist, auf die Straße zu gehen, die Stimme zu erheben und ein Zeichen zu setzen, und dass man sich zusammentut gegen Rechts. Wir wollen zeigen, dass wir so etwas nicht tolerieren.“
Die Wahl des Thüringischen Ministerpräsidenten mit den Stimmen der AfD halten sie für „einen absoluten Tabubruch. Wenn man das jetzt als normal ansieht und nichts macht und nicht demonstrieren würde, dann würde es wieder so kommen wie schon vor dem Zweiten Weltkrieg. Da muss man extrem wachsam sein. Sonst schleichen sich solche Kleinigkeiten in unsere Gesellschaft ein, man nimmt es als immer selbstverständlicher wahr, und irgendwann ist man wieder in einer von Rechts geführten Diktatur.“
Auch Hans und Isa, die ebenfalls in Erfurt studieren, erklärten, in Thüringen handle es sich um „einen Angriff auf die Demokratie. Das zeigt, dass in Deutschland die politische Kultur ziemlich zerrüttet ist.“ In Thüringen habe ja die Linke die meisten Stimmen gewonnen, und jetzt würde sie noch mehr gewinnen. „Wenn CDU und FDP mit der AfD paktieren, ist das ein klares Missachten des Wählerwillens. Wir müssen den Politikern zeigen, dass sie nicht einfach machen können, was sie wollen. Wir sind die wachsame Öffentlichkeit“, schloss Hans.
Lisa, Lennard und Hilja studieren Politik- und Sozialwissenschaften an der Georg-August-Universität in Göttingen. Sie fanden es besonders empörend, wie der bisherige thüringische Ministerpräsident der Linken „Ramelow zu einer Art Honecker hochstilisiert wurde. Es wird so dargestellt, als wäre er das schlimmere Übel als die AfD, und das ist eine Sichtweise, die so nicht stehen gelassen werden kann. Die bezeichnen sich immer als die ‚Bürgerlichen‘, als ‚die Mitte der Gesellschaft‘. Aber was sollte die ‚Mitte der Gesellschaft‘ denn sein? Links zu sein bedeutet, für freiheitliche Werte einzustehen, und rechts zu sein bedeutet, dagegen zu stehen. Ich verstehe nicht, wo da noch eine Mitte sein soll. Das muss man sich mal überlegen.“
Die Gruppe ist sich einig, „dass man eine Partei wie die Linke nicht mit der AfD gleichsetzen sollte“, und dass Neuwahlen die richtige Lösung wären. Ob es dazu kommt, bezweifeln sie, aber gerade deshalb sei es wichtig, dass viele Menschen auf die Straße gehen.
Die Reporter der WSWS zeigten den Studierenden aus Göttingen das Video, auf dem zu sehen ist, wie Professor Baberowski einen Vertreter der IYSSE tätlich angreift. Sie hatten schon davon gehört und waren sehr daran interessiert, sich dem Widerstand gegen die von oben forcierte Rechtsentwicklung an den Universitäten anzuschließen.
Gisela aus Weimar hielt die Ursachen für die Entstehung und den Aufstieg der AfD für „vielschichtig“. Sie verwies auf die soziale Spaltung der Gesellschaft. Viele Menschen fühlten sich abgehängt, insbesondere auf dem flachen Land: „Das ist, glaube ich, ein Problem in Ost und West gleichermaßen. Ländliche Strukturen haben überall zu kämpfen. Es gibt keine Busanbindungen, keine Vor-Ort-Versorgung auf den Dörfern, wenig Arbeitsplätze – da kommt vieles zusammen.“
Gisela ist in einem Bürgerbündnis gegen Rechts aktiv, weil sie es für wichtig hält, sich für demokratische Strukturen zu engagieren. „Das ist heute ein dringender Anlass in der Landespolitik“, sagte sie. „Dieses Getuschel und Gemauschel hinter verschlossenen Türen, diese Verabredungen und die Penetranz der AfD, auf diese Weise zur politischen Macht zu kommen, finde ich unangebracht, und ich bin dagegen.“ Von der Demonstration erhoffte sich Gisela ein „starkes Zeichen für Demokratie und gegen Nationalismus und Hetze“. Sie sagte, sie empfinde besonders die Kriegsgefahr als „bedrückend“, die sich in der Weltpolitik abzeichnet.
Sarah war mit zwei selbstgemachten Schildern aus dem benachbarten Hessen gekommen und sagte: „Ich fürchte mich vor der Rückkehr der Faschisten in der Maske der Demokraten.“ Die Gefahr bestehe, „dass reaktionäre Gruppen wie die AfD auf demokratischem Wege sich als Bürger geben, in die Demokratie kommen und sie dann von oben stückweise abbauen. Das ist meine große Angst. Mit diesem Dammbruch in Thüringen hat sich angedeutet, dass das wieder möglich ist, und deshalb bin ich hier.“
Als die WSWS-Reporter auf das gezielte Vorgehen der etablierten Parteien verwiesen, das die AfD hoffähig machen soll, sagte Sarah, sie sehe die Ursachen dafür auch „in der Grundhaltung der Gesellschaft“: „Wenn die Gesellschaft andere Werte vertreten würde, als sie es tut, würde die AfD niemals zu dieser Macht kommen.“
Auf die Nachfrage, an welche Werte sie da in erster Linie denke, antwortet Sarah: „Für mich ist alarmierend, wie menschenverachtende Dinge offen ausgesprochen werden, wie ganze Gruppen diskriminiert werden und wie das gerechtfertigt wird.“ Sie habe „zunehmend Angst, dass Dinge normalisiert werden und im Parlament gesagt werden können und dadurch eine gewisse Gültigkeit und Rechtfertigung erlangen“.
In diesem Zusammenhang schilderten die Reporter der WSWS den Widerstand der Studierenden an der Berliner Humboldt-Universität, wo rechtsextreme Ideologien wieder hoffähig gemacht werden. Professor Baberowski vom Institut für osteuropäische Geschichte stellt die Verbrechen der Nazis als legitime Reaktion auf den Widerstand sowjetischer Partisanen dar, hat Hitler in einem Spiegel-Interview von 2014 als „nicht grausam“ bezeichnet und vor kurzem sogar im Rahmen der Wahlen zum Studierendenparlament Plakate der sozialistischen IYSSE heruntergerissen und einen Studierenden tätlich angegriffen.
„Solche Aussagen werden immer anerkannter“, meint Sarah. Man dürfe so etwas nicht ignorieren, „weil es zu Mord führt, weil es zu Toten führt, weil es zu Gewalt führt“.
Darauf erklärte Sarahs Freundin „die Tatsache, dass die rechtsextreme Terrorgruppe NSU jahrelang ungehindert morden konnte“, mit den „tendenziell eher rechten Werten in Justiz und Polizei“. Sie sehe ein großes Problem darin, dass dieses Treiben von Teilen der Bevölkerung akzeptiert und toleriert werde, weil es sich vordergründig „nur“ gegen Minderheiten richtet. Das Problem sei die „rassistische Verfasstheit“ der Gesellschaft: „Die Polizei und Justiz haben den NSU aus ideologischen Gründen gewähren lassen … Die Frage ist, wen der Rechtsstaat schützt, welche Leute mehr geschützt werden. Alle Menschen sind gleich, aber manche Leute sind eben gleicher.“
„Vor allem wird das alles immer als Einzelfall behandelt“, so die Einschätzung der beiden zum Mord an dem CDU-Politiker Lübcke im letzten Juni. „Dabei ist es ein Netzwerk, das jetzt noch weitergeht.“
Auch der Anschlag auf eine Synagoge in Halle am 9. Oktober 2019 stehe „im Zusammenhang mit diesem Netzwerk, das nicht aufgedeckt wird“, meinte Sarahs Freundin. Die Angehörigen des rechten Terrornetzwerks „werden immer aufs Neue geschützt. Da wird nicht geschaut, wer sind die Unterstützer. Es könnte viel mehr aufgedeckt werden, wenn anerkannt würde, dass es sich nicht um Einzeltäter und Psychopathen handelt, sondern um gefestigte rechtsradikale Strukturen.“
„Die Strukturen sind sogar bekannt, aber man lässt sie gewähren“, meinte Sarah. Sie schloss mit der Hoffnung, dass die Demonstration alle Menschen „motiviert, auf die Straße zu gehen und sich nicht einschüchtern zu lassen“.
Auch anderswo auf der Demonstration waren die rechten Netzwerke, die bis in Polizei, Armee und Verfassungsschutz hineinreichen, zentrales Thema. Jugendliche aus Zwickau trugen deshalb ein Transparent mit der Aufschrift: „Verfassungsschutz abschaffen“. Sie erklärten der WSWS, sie seien „beunruhigt darüber, dass niemand etwas tut, um die rechten Netzwerke aufzulösen“.
Ella, eine junge Frau aus dem Vogtland, erklärt dazu: „Man hat den Eindruck, die Faschisten werden toleriert, weil sie vielleicht nochmals gebraucht werden.“ Sie wies darauf hin, dass gleichzeitig überall neue, undemokratische Polizeigesetze eingeführt werden. „Das wird von unsern Steuergeldern bezahlt, und dann wird es gegen uns gerichtet, um uns besser zu kontrollieren.“
Auch Thomas aus Erfurt war zur Demonstration gekommen, um „nicht zuzulassen, dass die Politiker gemeinsame Sache mit den Faschisten machen. Unter Demokraten muss es einen Grundkonsens geben, der von der Gleichheit aller Menschen ausgeht“, erklärte er. Das sei jedoch bei keiner Partei der Fall.
Thomas versteht das Aufkommen des Faschismus als Ergebnis einer fundamentalen Krise des Kapitalismus. „Heute erleben wir einen gewaltigen Strukturwandel, beispielsweise in der Autoindustrie“; erklärte er. „Durch die Digitalisierung werden in den Unternehmen sehr viele Arbeiter entlassen, für die es keine neuen Arbeitsplätze gibt. Daher fürchtet die Politik einen sozialen Aufstand.“
So erkläre er sich die Existenz von Terrorbanden wie der SS und SA im Dritten Reich, sowie heute der rechten Netzwerke, die tief in den Staat hineinreichen. „Sie werden bewusst nicht aufgedeckt“, sagte Thomas. „Wenn ein einzelner wie Franco A. medienwirksam entlarvt wird, dann dient das nur als Alibi.“
In Ramelow und die Linkspartei habe er deshalb auch kein Vertrauen, denn „das ist kein Sozialismus. Was in der DDR vorherrschte, das war Stalinismus.“ Durch Stalin sei schon damals, nach der Oktoberrevolution, die Rätedemokratie der jungen Sowjetunion entmachtet worden. „Das eigentliche Problem, der Kapitalismus, wurde letztendlich nicht gelöst“, sagte Thomas, der sich freute, eine Partei gefunden zu haben, die den Namen Sozialistische Gleichheitspartei trägt, und sie gerne näher kennenlernen wollte.