In Hessen befinden sich seit heute früh um 2:30 Uhr rund 4400 Busfahrer der privaten Omnibusbetriebe im unbefristeten Streik. Eine Urabstimmung ergab letzte Woche eine Zustimmung von 99,5 Prozent für unbefristete Kampfmaßnahmen. Der Streik betrifft 22 Kommunen, darunter Frankfurt am Main, Kassel, Gießen, Fulda, Hanau, Langen, Darmstadt und Offenbach.
Der Streik hat erneut die Bedingungen in den Blick gerückt, denen bundesweit 130.000 Busfahrer ausgesetzt sind. Sie gehen mit Billiglohnarbeit, Dauerstress, überlangen Früh-, Nacht- und Wochenendschichten, zeit- und nervenraubenden „gesplitteten“ Diensten und unbezahlten Wendezeiten einher. Infolge der niedrigen Löhne ist für die Fahrer, welche diesen Stress Tag für Tag mitmachen, am Ende die Altersarmut vorprogrammiert.
Der Landesverband Hessischer Omnibusunternehmer (LHO) hat seinen Fahrern auch in der fünften Verhandlungsrunde nur eine schrittweise Erhöhung der Stundenlöhne von 13,50 Euro auf 15,60 Euro angeboten, und zwar über vier (!) Jahre gestreckt. Das würde an den Hungerlöhnen, mit denen im teuren Rhein-Main-Gebiet ein vernünftiges Leben unmöglich ist, nichts ändern.
Arrogant schreibt der Geschäftsführer der Omnibusunternehmer, Volker Tuchan, auf der Website der LHO: „Hessens Busunternehmer können keine Wunschkonzerte der Gewerkschaft finanzieren.“ Drohend fügt er hinzu, die Forderungen würden den hessischen Mittelstand „in die Insolvenz treiben“. Der LHO behauptet, erst vor kurzem seien im Saarland die privaten Busbetreiber zu einem Tarifabschluss gedrängt worden, der „über ihren wirtschaftlichen Möglichkeiten“ liege. Um nicht Bankrott zu machen, hätten mehrere Unternehmen dort ihre Verkehrskonzessionen schon zurückgegeben.
Für die Probleme der mittelständischen Betriebe können die Busfahrer keine Verantwortung übernehmen. Diese Unternehmen konnten im Gegenteil nur deshalb Gewinne erzielen, weil die Fahrerinnen und Fahrer dafür ihre Zeit, ihre Gesundheit und Nerven und das Wohl ihrer Familien aufs Spiel setzten. Die Wehklagen der Unternehmer offenbaren heute nur die Bilanz des letzten Vierteljahrhunderts, in dem auf Kosten der Beschäftigten seit den 1990er Jahren große Teile des öffentlichen Dienstes dereguliert und privatisiert worden sind.
Dass die Busfahrer heute dringend höhere Löhne, verbesserte Arbeitsbedingungen und eine vernünftige Altersabsicherung benötigen, steht außer Zweifel. Im Grunde macht schon der Personalmangel eine Verbesserung unausweichlich, denn an allen Ecken und Enden fehlen Busfahrer, um den Normalbetrieb aufrechtzuerhalten.
Allerdings ist keine grundsätzliche Änderung zu erreichen, wenn die Busfahrer die Führung des Arbeitskampfs in den Händen der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi belassen.
Die Gewerkschaft hat nur bescheidene Forderungen aufgestellt. Statt wie angeboten die Löhne auf 15,60 Euro anzuheben, fordert Verdi eine Anhebung auf 16,60 Euro – sagt aber nicht, in welchem Zeitraum. Auf eine vierjährige Laufzeit des Lohntarifs hat sich die Gewerkschaft zuletzt schon im Saarland eingelassen. Damit würde auch eine vierjährige Friedenspflicht einhergehen, in der Streikmaßnahmen ausgeschlossen wären.
Daneben gibt es weitere Forderungen wie fünf Urlaubstage mehr, die offenbar wenig ernst gemeint sind, wie schon beim letzten Streik 2017 die Altersversorgung, auf welche die Fahrer heute noch warten. Insbesondere für Gewerkschaftsmitglieder fordert Verdi darüber hinaus zwei zusätzliche Urlaubstage extra – eine ausdrückliche Privilegierung, mit der sie offenbar versucht, Busfahrer zum Eintritt in die Gewerkschaft zu motivieren.
Für die Interessen und Nöte der Unternehmer hat Verdi großes Verständnis. Das ist schon an dem Satz zu sehen, den die Gewerkschaft im hessischen Nahverkehrs-Tarifvertrag von 2014 in die Präambel hineinschrieb: „Dieser Tarifvertrag dient der Schaffung und Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit der öffentlichen Nahverkehrsunternehmen.“
In diesem Sinn haben die DGB-Gewerkschaften und die mit ihnen verbündeten Parteien SPD, Linke und Grüne gemeinsam mit CDU und FDP den ganzen privatwirtschaftlichen Kurs mitorganisiert. Sie haben den öffentlichen Dienst in einen riesigen Niedriglohnsektor verwandelt und der Finanzwelt große Bereiche als Kapitalanlage und Profitquelle angedient.
In diesem Zusammenhang wurde auch der öffentliche Nahverkehr heruntergewirtschaftet. In einer Werbebroschüre der Frankfurter Nahverkehrsgesellschaft traffiQ wird beschrieben, wie man die Busbetriebe seit Ende der 1990er Jahre umgekrempelt hat. Wie es dort heißt, entschloss man sich im Jahr 2001, „eine lokale Aufgabenträgerorganisation aus der VGF auszugliedern und den Busverkehr in fünf ‚mittelstandsfreundlichen‘ Bündeln auszuschreiben. Die Umstellung gelang reibungslos. Seit 2004 ging Jahr für Jahr … ein Bündel in den Wettbewerb. Trotz anspruchsvoller Qualitätsanforderungen gab es eine etwa 25-prozentige Kostensenkung gegenüber dem ohnehin schon reduzierten Marktvergleichspreis bei den auferlegten Verkehren. Ein Erfolg auf der ganzen Linie sozusagen.“
Auf dem Weg zu diesem „Erfolg“, der vollständig zu Lasten der Beschäftigten geht, tragen jeder Vertrag und jedes Abkommen die Unterschriften der Gewerkschaftsführer. Jochen Koppel, Verdi-Streikführer, sitzt im Aufsichtsrat der Frankfurter Verkehrsgesellschaft VGF. Er arbeitet seit Jahren eng mit Leuten wie Klaus Oesterling (SPD), dem Frankfurter Verkehrsdezernenten, oder dem früheren Geschäftsführer des Rhein-Main-Verkehrsverbundes GmbH (RMV), Volker Sparmann, zusammen, der vor zwei Jahren als Schlichter und rechte Hand des grünen Verkehrsministers Tarek Al-Wazir erfolgreich dazu beitrug, den letzten Busstreik abzuwürgen.
In diesem Jahr hat Verdi die Ausrufung des Streiks so lange wie möglich hinausgezögert. Schon im März 2019 war der letzte Vertrag ausgelaufen. Im Oktober und November hatten wütende Warnstreiks die Kampfbereitschaft der Busfahrer unter Beweis gestellt. Bis zuletzt versuchte Verdi, Zugeständnisse von den Unternehmern zu erreichen, um die Fahrerinnen und Fahrer zu beschwichtigen. Noch am letzten Donnerstag fand eine fünfte Verhandlungsrunde mit den privaten Omnibusbetreibern statt. Nun ist für Verdi der Streik in erster Linie ein Mittel, um „Dampf abzulassen“.
Die Gewerkschaft achtet streng darauf, dass der Streik sich nicht zu einer breiten Bewegung entwickelt. So trennt sie den Kampf der Busfahrer sorgfältig von demjenigen anderer ÖPNV-Beschäftigter. In Frankfurt am Main finden am selben Dienstag und Mittwoch Betriebsversammlungen beim VGF statt, wo die Straßenbahn- und S-/U-Bahn-Fahrer ebenfalls unter immer größerem Druck arbeiten. Diese Fahrer zu gemeinsamen Streikaktionen aufrufen, ist mit Verdi nicht zu machen.
Schon als die Warnstreiks im September stattfanden, streikten gleichzeitig die Busfahrer im Saarland volle zwei Wochen. Doch Verdi achtete darauf, dass die Streiks nicht gemeinsam geführt wurden. Im Saarland spaltete die Gewerkschaft die Busfahrer der kommunalen Betriebe von denjenigen der privaten Omnibusunternehmer. Und ein gemeinsamer Streik mit den Busfahrern der BVG in Berlin, die gerade mit einem Angriff auf ihr Weihnachtsgeld konfrontiert sind – Gott bewahre! Das wäre wirklich ein rotes Tuch für Verdi, die derartige gemeinsame Aktionen um jeden Preis verhindern wird.
Auf diese Weise ist es unmöglich, die Bedingungen der Fahrer, wie auch der Arbeiter anderer Betriebe, grundsätzlich zu verbessern. Deshalb müssen die Busfahrer, um wirklich was zu erreichen, ihren Kampf in die eigenen Hände nehmen. Dafür schlagen die World Socialist Web Site und die Sozialistische Gleichheitspartei (SGP) vor, unabhängige Aktionskomitees zu gründen.
Solche Aktionskomitees könnten ihre Entscheidungen nicht nach dem Diktat der Bankiers, Aktienbesitzer und Finanzhaie, sondern nach den Bedürfnissen der großen Bevölkerungsmehrheit richten. Sie würden den Kampf auf alle Beschäftigten ausweiten, die für den öffentlichen Dienst arbeiten. Es ist ein Unding, dass im 21. Jahrhundert auch Krankenschwestern, Altenpfleger, Lehrerinnen und Lehrer, Straßenbahnfahrer, Müllarbeiter, etc. unter sinnlosem Stress, unerträglicher Ausbeutung und Niedriglohnarbeit leiden.
Schon beim letzten Streik vor knapp drei Jahren, als die Busfahrer die Gewerkschaft zwangen, den Streik zwei Wochen lang fortzusetzen, konnten sie am Ende den Ausverkauf durch Verdi nicht verhindern, als es der Gewerkschaftsführung gelang, den Streik mit einem üblen Ausverkauf abzuwürgen. Es ist Zeit, die Lehren aus diesem Ausverkauf zu ziehen!
Der hessische Busfahrerstreik fällt in eine Situation, in der sich weltweit und auch in Deutschland der Klassenkampf wieder regt. An diesem Freitag werden beispielsweise in Stuttgart tausende Automobil- und Zuliefererarbeiter demonstrieren, die bei Daimler, Bosch und anderswo von Massenentlassungen bedroht sind. Weltweit finden Massenstreiks und Proteste unter anderem in Spanien, Tschechien, Bolivien, Chile, Hongkong, dem Libanon, etc. statt. Gleichzeitig rüsten sich die imperialistischen Regierungen – die deutsche eingeschlossen! – erneut auf Krieg und Diktatur. Es ist Zeit, die Lehren aus der Geschichte zu ziehen und sich einer sozialistischen Perspektive zuzuwenden.