Kapitänin vor Gericht, weil sie Menschen aus Seenot rettete

In Italien wird gegen die Kapitänin und neun weitere Crewmitglieder des NGO-Schiffs „Juventa“ ermittelt. Pia Klemp drohen bis zu 20 Jahre Haft und hohe Geldstrafen. Sie hat bei insgesamt sechs Einsätzen etwa 5000 Menschen aus Seenot gerettet.

Die 36-jährige Kapitänin aus Bonn hatte nach einem Biologiestudium für die Meeresschutzorganisation „Sea Shepherd“ gearbeitet und sich an Missionen gegen illegalen Walfang beteiligt. Klemp, die zunächst als einfache „Deckshand“, später Bootsfrau zur See fuhr, arbeitete sich bis zur Kapitänin hoch. Ab 2015 beteiligte sie sich an Seenotrettungen auf mehreren Schiffen der Nichtregierungsorganisation „Jugend rettet“ und „Sea-Watch“.

Im August 2017 wurde die „Juventa“ des Berliner Vereins „Jugend rettet“ im Hafen von Lampedusa beschlagnahmt. Die offizielle Leitstelle für Seenotrettung (MRCC) in Rom hatte sie dorthin gelotst, wo schon mehrere Schiffe der Küstenwache mit Blaulicht und bewaffneter Besatzung auf sie warteten und das Schiff festsetzten.

Seither hat die sizilianische Staatsanwaltschaft in Trapani ein Verfahren gegen die Kapitänin und neun weitere Crewmitglieder eingeleitet. Sie beschuldigt sie der „Beihilfe zur illegalen Migration“, worauf eine Strafe bis zu 20 Jahren Haft steht. Konkret wird ihnen vorgeworfen, mit Schleusern zusammengearbeitet und Schlauchboote zur Weiterverwendung nach Libyen zurückgeschickt zu haben. Dabei stützt sich die Staatsanwaltschaft auf konstruierte Daten und Aussagen. Wie sich herausstellte, hatte der italienische Geheimdienst die „Juventa“ verwanzt, die Mobiltelefone der Crew abgehört und verdeckte Ermittler in ihre Reihen eingeschleust.

Pia Klemp geht davon aus, dass die Vorwürfe leicht zu widerlegen seien. Das Ganze sei nichts weiter als „an den Haaren herbeigezogener, fingierter, dilettantischer Quatsch“, wie sie der Basler Zeitung sagte. „Wir haben nur internationales Recht befolgt, vor allem das Seerecht, wo es das alleroberste Gebot ist, Menschen aus Seenot zu retten“, so Klemp. Im Grunde gehe sie nicht von einer Verurteilung aus und sei bereit, notfalls „bis nach Straßburg“ zu gehen, doch habe der Prozess jetzt schon schlimme Folgen: „Die Seenotrettung wird kriminalisiert. Wir sind jetzt schon lahmgelegt. Und deshalb sterben Menschen auf dem Mittelmeer.“

Die Hilfsorganisation SOS Méditerrannée und Ärzte ohne Grenzen haben ausdrücklich davor gewarnt, dass noch viel mehr Menschen sterben könnten. Das Risiko, beim Überqueren des Mittelmeers zu ertrinken, sei heute viermal höher als im vergangenen Jahr. Seitdem Italien letztes Jahr die Häfen für die Seenotretter konsequent abriegelt, seien allein im zentralen Mittelmeer mindestens 1151 Menschen ertrunken.

Wer es schafft, aus Seenot gerettet zu werden, hat in der Regel eine jahrelange Odyssee durch Nordafrika hinter sich. In Libyen sind tausende geflüchtete Menschen in barbarischen Internierungslagern gefangen, in denen sie Folter, Vergewaltigung, Sklaverei und sogar Mord ausgesetzt sind. Eine Delegation der EU hatte diese Gefängnisse bereits offiziell als „Konzentrationslager“ definiert.

Das hält die EU-Staaten nicht davon ab, ihre Gesetze zu verschärfen, um zu verhindern, dass die Flüchtlinge aus dieser Hölle nach Europa entkommen. Am 11. Juni hat die italienische Regierung auf Betreiben des Innenministers Matteo Salvini (Lega) erneut ein Dekret verabschiedet, das die Seenotrettung weiter behindert. Es bedroht private Rettungsschiffe, die mit geretteten Menschen in italienische Hoheitsgewässer einfahren, mit Strafen zwischen 10.000 und 50.000 Euro.

Der Spiegel stellte am 14. Juni fest: „Die Träume von Europas Hardlinern sind wahr geworden: Die Seenotrettung ist fast eingestellt, die Routen über das Mittelmeer sind mehr oder weniger dicht.“

Allerdings sind dafür nicht allein die „Hardliner“ Europas verantwortlich, wie der Spiegel nahelegt. An den Beschlüssen sind nicht nur Salvini, Sebastian Kurz oder Horst Seehofer beteiligt, sondern genauso auch die sozialdemokratischen Regierungen in Spanien und Malta und die Syriza-Regierung in Griechenland, eine enge Partnerin der Partei Die Linke.

Die EU hat seit 2015 ihre eigenen Rettungsschiffe aus dem Mittelmeer abgezogen und gewalttätige Milizen wie die libysche Küstenwache finanziert, damit sie als Türsteher der EU die Flüchtlinge daran hindern, nach Europa zu gelangen. Gleichzeitig werden immer mehr Menschen durch neue bewaffnete Konflikte im Maghreb und in Zentralafrika vertrieben und zur Flucht genötigt.

Am 3. Juni hat eine Gruppe von Anwälten Anklage gegen die EU beim Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag gestellt. Sie beschuldigen sie aufgrund ihrer Flüchtlingspolitik der Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Diese Politik habe im Mittelmeer in den letzten drei Jahren zu über 14.000 Todesfällen geführt. Die EU und die italienische Regierung, so die 244-seitige Anklageschrift, verfolgten besonders die NGOs „mit Einschüchterung, Verleumdung, Schikane und offizieller Kriminalisierung“. Diese Anklage und der Bericht darüber auf der englischsprachigen WSWS enthüllen, dass die EU eine bewusste Politik des Massenmordes betreibt.

Die Crew der „Juventa“ ist nicht der einzige Fall, bei dem selbstverständliche Hilfsleistungen kriminalisiert und mit juristischen Verfahren überzogen werden. Die Londoner Forschungsgruppe Institute of Race Relations (IRR) hat jüngst eine Studie darüber erstellt, wie oft EU-Bürger vor Gericht landen, weil sie Flüchtlingen geholfen haben.

Schon vor einem Monat wurde der „Lifeline“-Kapitän Claus-Peter Reisch auf Malta zu 10.000 Euro Geldstrafe verurteilt, weil sein Schiff, mit dem er Migranten vor dem Ertrinken gerettet hatte, laut Auffassung des Gerichts nicht ordnungsgemäß registriert gewesen sei.

Auch an Land gehen die Behörden immer aggressiver gegen Menschen vor, die Migranten, Flüchtlingen und Menschen ohne legale Papiere helfen. Die Londoner Gruppe listete allein aus dem letzten Jahr 99 Fälle auf, bei denen schon wegen geringer Hilfeleistungen Menschen angeklagt oder verurteilt worden seien. Im Vorjahr waren es nur halb so viele, nämlich 45 Fälle, gewesen. Wie der Berliner Tagesspiegel kommentiert, sind die Fälle Reisch und Klemp nur „die sichtbare Spitze eines recht beeindruckenden Eisbergs“.

Auf der Liste standen so skandalöse Fälle wie der des Bürgermeisters von Riace, der geflüchtete Menschen in seiner Gemeinde aufgenommen hatte. Er wurde unter Hausarrest gestellt, während die Salvini-Regierung alle Einwanderer aus seinem Dorf deportieren ließ. Weiter waren sechs tunesische Fischer betroffen, die Schiffbrüchige gerettet hatten, sowie auch eine in Marokko lebende Spanierin, die ehrenamtlich die Küste beobachtet hatte, um bei Notfällen die Seenotretter zu informieren. Auch ein französischer Bergsteiger wurde gerichtlich verfolgt, nachdem er an der italienisch-französischen Grenze einer nigerianischen Familie geholfen und die hochschwangere Mutter ins Krankenhaus gebracht hatte.

Seenotretter wie Pia Klemp und Claus-Peter Reisch und viele andere, die ihr Leben und Vermögen einsetzen, um geflüchteten Menschen zu helfen, werden zur Abschreckung mit Gerichtsprozessen überzogen, die ihre Existenz vernichten könnten. Nicht zuletzt hat die Verschleppung des WikiLeaks-Gründers und mutigen Journalisten Julian Assange aus der ecuadorianischen Botschaft in das britische Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh dieses üble Vorgehen staatlicher Behörden regelrecht entfesselt und verstärkt. Wie die WSWS aufzeigte, hat sie „eine neue Etappe der Zerstörung demokratischer Rechte“ eingeleitet.

Die Londoner Gruppe IRR konstatierte in ihrem Bericht allerdings auch das Anwachsen von Solidarität und Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung. Offensichtlich wächst in ganz Europa und weltweit die Opposition gegen diese brutale Politik. Das zeigt sich allein schon an der Spendenbereitschaft und Unterstützung, die die Seenotretter erhalten. Eine Petition auf Change.org, die fordert, die Crew der „Juventa“ sofort freizusprechen, hat bisher weit über 200.000 Unterschriften erhalten.

Über die Juventus-Kapitänin erklärte Peter Scott Smith, der Sohn des bekannten Zweite-Weltkriegs-Veteranen Harry Leslie Smith, in einem Tweet: „In früheren Zeiten hätte Pia Klemp Juden vor der Vernichtung gerettet. Dass ihr im Jahr 2019 zwanzig Jahre Haft bevorstehen könnten, weil sie Flüchtlinge aus Seenot gerettet hat, verurteilt die EU wegen Heuchelei und Begünstigung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, weil sie diesen Schauprozess in Italien zulässt.“

Im Mai verlieh eine Stiftung in St.Gallen den Crew-Mitgliedern der „Juventa“ den „Grüninger-Preis“, der mit 50.000 Franken ausgestattet ist. Der Name erinnert an den Schweizer Grenzbeamten Paul Grüninger, der während der Nazizeit Juden in die Schweiz aufnahm und dafür aufgrund des Betreibens der Schweizer Regierung seine Arbeitsstelle einbüßte.

Zum Abschluss ihres Interviews mit der rechtsbürgerlichen Basler Zeitung erklärte Pia Klemp den verwunderten Journalisten: „Ich möchte keine Gesellschaft, in der jemand 50 Jahre lang putzen geht und statt Rente Hartz IV beantragen muss, während woanders Banker sitzen, die Millionen auf dem Konto liegen haben, obwohl sie zur Finanzkrise beigetragen haben. Diesen räuberischen, verbrecherischen Kapitalismus will ich einfach nicht.“

Die Anwälte von Pia Klemp und der „Juventa“-Crew rechnen mit einer Anklageerhebung noch vor dem nächsten Herbst.

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