Die Artikelserie erschien im Dezember 2018 in englischer Sprache, als Noah Carl an die Cambridge University berufen wurde. Die International Youth and Students for Social Equality (IYSSE) in Großbritannien organisierten am 23. Februar 2019 eine Veranstaltung gegen die Propagierung von Eugenik.
Das Auftreten von Sozialdarwinismus und seine politischen Folgeerscheinungen an Universitäten ist kein neues Phänomen. Anfang bis Mitte der 1900er Jahre hatte die Eugenik eine bedeutende Anhängerschaft in akademischen und herrschenden Kreisen. 1907 wurde die British Eugenics Education Society gegründet, gefolgt von der American Eugenics Society 1921 und vom Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik 1927. Internationale Eugenik-Konferenzen fanden in London 1912 und in New York City 1921 und 1932 statt. Zu den prominentesten Anhängern zählten u.a. John Maynard Keynes, H.G. Wells, Bertrand Russell und George Bernard Shaw.
Es gibt bestimmte soziale und politische Gründe, weshalb diese Ideen Verbreitung finden. Eugenik wurde als Denkschule erstmals in den späten 1800er Jahre etabliert und gewann dann zur Jahrhundertwende, als der Kapitalismus in eine lange Periode von Krisen eintrat, eine breitere Anhängerschaft. Im Verlauf dieser turbulenten Jahrzehnte stellte sich die Frage nach der Revolution in einem Land nach dem anderen.
Ein Teil der Denker, die an der grundlegenden Rationalität der kapitalistischen Wirtschaft festhielten, konnten jedoch nicht akzeptieren, dass das System selbst die Schuld an den Krisen trägt. So waren sie gezwungen, die Ursachen für soziale Probleme in „mangelhaftem menschlichen Material“ zu suchen. Diese Bemühungen wurden auch von der Angst einer „nationalen Degeneration“ vorangetrieben, entfacht durch bittere imperialistische Rivalitäten und die Gefahr eines Krieges.
Psychisch kranke Menschen waren oft die ersten Betroffenen und wurden Programmen zur Zwangssterilisation in den USA, Deutschland, Dänemark, Schweden, Kanada, Belgien und Japan unterworfen. Einige Eugeniker gingen sogar einen Schritt weiter und forderten ihre Ausrottung. In manchen Kreisen schloss die Definition „untauglicher“ Bevölkerungen bald die „Rückständigen“ ein, d.h. die Benachteiligten, chronisch Arbeitslosen, Verelendeten und Kranken der Gesellschaft. Diese Denkweise wurde mit imperialistischer Ideologie gepaart, um so eine neue, „wissenschaftliche“ Rechtfertigung für die Behauptung ethnischer und nationaler Überlegenheit zu schaffen. Diese Ideen fanden in der Entfesselung der faschistischen Konterrevolution und den Konzentrationslagern der Nazis ihre grauenhafte Vollendung.
Nach 1945 wurden Eugeniker durch die weitverbreitete Ablehnung ihrer Ideen in ein Schattendasein gedrängt. Heute jedoch, während die Krise des Kapitalismus einen neuen Höhepunkt erreicht, wird Eugenik als Teil der allgemeinen Rehabilitierung rechtsextremer Ideologie von der herrschenden Klasse wiederbelebt. In Großbritannien soll das im Januar letzten Jahres neu gegründete „Office for Students (OfS)“ („Amt für Studenten“) der Tory-Regierung diese Kampagne anführen. Laut des ehemaligen Ministers für Hochschulen und Wissenschaft, Jo Johnson, soll es „noch weiter gehen, um sicherzustellen, dass Universitäten freie Meinungsäußerung im Rahmen des Gesetzes fördern“. Ihm zufolge sollte die Regierung befugt sein, Einrichtungen zu sanktionieren, die ihrer Ansicht nach Debatten unterdrücken.
Die Nominierung von Toby Young für die Leitung des OfS hat klar gemacht, um welche Art von „freier Meinungsäußerung“ es sich dabei handeln wird. Youngs einzige Qualifikation für die Position ist eine enge Verknüpfung zur Konservativen Partei, unzählige Angriffe auf angeblichen linksradikalen Autoritarismus an Universitäten und eine lange Liste von Tweets die, einschließlich mehrerer anstößiger Bemerkungen, Anspielungen auf „vage missgebildete“ Studenten aus Arbeiterfamilien und „funktional analphabetische Troglodyten“ beinhaltet.
In Anbetracht der Ernennung Noah Carls durch die Universität Cambridge ist beachtlich, dass auch Young in der Vergangenheit über „progressive Eugenik“ geschrieben hat. Kurz nach seiner Ernennung beim OfS kam zudem heraus, dass er an der London Conference on Intelligence teilgenommen hat.
Young wurde in Folge von massivem öffentlichen Protest gezwungen zurückzutreten, allerdings nicht bevor ihn wichtige Regierungsvertreter, einschließlich des damaligen Außenministers Boris Johnson, nachdrücklich verteidigt hatten. Young wurde wegen seiner rechtsradikalen Ansichten für den Posten ausgewählt und erst entlassen, als seine Position untragbar wurde.
Sein Abgang hat die Agenda des OfS nicht um ein Jota geändert. Das Amt hat, zusammen mit dem ehemaligen Minister für Hochschulen und Wissenschaft, Sam Gyimah, wiederholt die Notwendigkeit, Universitäten für „Debatten“ zu öffnen, betont - womit sie die Öffnung nach Rechts meinen. Gyimah kündigte außerdem an, Klarheit über „die Regeln und Vorschriften für eingeladene Sprecher und Veranstaltungen zu schaffen, um Bürokraten und Saboteure daran zu hindern, Lücken für ihre eigene Zwecke auszunutzen.“
OfS-Vorsitzender Sir Michael Barber hat das Bedürfnis nach „herausfordernder und unpopulärer“ Ansichten betont. Er wird über Mittel verfügen, Institutionen, die dem OfS zufolge gegen diese Prinzipien verstoßen, öffentlich bloßzustellen und mit einer Geldstrafe zu belegen. Damit wurde den Universitäten und Studentenvereinigungen grünes Licht gegeben, um jeden beliebigen Reaktionären auf den Campus einzuladen – während die Regierung bereitsteht, um Studenten zu denunzieren, die dagegen protestieren und die reaktionären Ideen entlarven.
Unterdessen spielt Young die gleiche Rolle, die er als Leiter des OfS gespielt hätte, und zwar in der Presse. Als Antwort auf eine Petition gegen Carl schrieb er einen Artikel im Wochenmagazin Spectator, in dem er „die skandalöse Anprangerung Noah Carls“ durch „einen Mob von unzufriedenen Professoren“ verurteilt. Es folgte der Artikel „Wird Noah Carl eine faire Anhörung bekommen?“ in dem er Chris Skidmore, gegenwärtiger Minister für Hochschulen und Wissenschaft, dazu auffordert, „für geistige Freiheit und freie Meinungsäußerung einzutreten“.
Das Magazin Spiked, ein rechtes libertäres Blatt, das seit einiger Zeit den Kreuzzug für sogenannte „Meinungsfreiheit“ an Universitäten anführt, um rechte Figuren zu verteidigen, hat eine verlogene Verteidigung Carls mit dem Titel „Der Aufstieg des akademischen Mobbings“ von Joanna Williams veröffentlicht. Williams behauptet zwar, Carls Ansichten müssten „rigoros hinterfragt werden“, jedoch schlägt sie dann vor: „Anstatt sich auf einen jungen Akademiker zu stürzen und seine Entlassung zu verlangen, täte der Mob besser daran, sich mit den Ideen auseinanderzusetzen, die er als so anstößig empfindet.“
Die Versuche, Carl als einen jungen Forscher darzustellen, der von älteren Akademikern „gemobbt“ und zum Schweigen gebracht wird, sind eine Verdrehung der Tatsachen. Mehr als 200 besorgte Studenten des St Edmund’s College Cambridge, wo Carl momentan tätig ist, haben seine Entlassung verlangt und einen offenen Brief an die Universitätsleitung geschrieben, in dem sie seine Forschung als „methodisch fehlerhaft“ und „offen rassistisch“ und seine Ernennung als „unvertretbar“ bezeichnen. Mittlerweile ist die Zahl der Unterzeichner auf über 1400 angestiegen, darunter auch zahlreiche Professoren und Dozenten.
Young und Spiked bedienen ein rechtes Narrativ, das sich über die letzten Jahre in der Presse etabliert hat. Melanie Philips, Autorin für die Times, hat sich zuvor darüber beklagt, dass „Universitäten [dem] Dogma und dem rücksichtslosen Vorgehen“ von „linken Tyrannen und feigen Behörden“ nachgegeben haben.
Im Juni letzten Jahres schrieb sie für die Times einen Kommentar unter dem Titel „Linker Hetzmob kann freie Meinungsäußerung nicht ausstehen“. Der Artikel war eine Reaktion auf die Forderung von Studenten der Stanford University, Charles Murray auszuladen, dessen rechtes Buch The Bell Curve die Ansichten der Eugenik widerspiegelt. Stephen Glover von der Daily Mail hat Universitäten beschuldigt, eine „aus Linken bestehende fünfte Kolonne“ aufzubauen, während der Telegraph über einen Bericht des Adam Smith Instituts aus dem Jahr 2017 lamentierte, der besagt, dass acht von zehn Akademikern in Großbritannien links seien.
Carl hat ähnliche Schriften verfasst - beispielsweise „Wie die Unterdrückung der Debatte über Ethnie, Gene und IQ Schaden anrichten kann“ oder „Die links-liberale Beeinflussung in den westlichen Medien“.
Die reaktionärsten Kräfte fühlen sich immer mehr dazu ermutigt, ihre Agenda auf dem Campus durchzusetzen. Erst im November letzten Jahres wurde Stephen Bannon an der Oxford Union (ein prestigeträchtiger Debattierklub) als Sprecher eingeladen - ohne jede Kritik.
Dagegen muss eine politische Offensive organisiert werden.
Die WSWS und die International Youth and Students for Social Equality unterstützen die Kampagne gegen Carls Ernennung. Seine Beförderung durch die Cambridge University ist Teil einer breiteren rechten Offensive die, wie in der Vergangenheit, in der extremen Krise der kapitalistischen Gesellschaft ihre Wurzeln findet. Die bürgerliche Politik braucht eine „intellektuelle“ Rechtfertigung für die wachsende soziale Ungleichheit im Innern und die räuberische imperialistische Außenpolitik. Dem muss ein Programm der sozialistischen Revolution entgegengesetzt werden. Nur so kann die Meinungsfreiheit und der akademische Diskurs wirklich verteidigt werden.