Die Grünen-Vorsitzende Annalena Baerbock hat sich für eine raschere Abschiebung „straffälliger Asylbewerber“ ausgesprochen. In einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung verlangt sie ein „konsequentes Durchgreifen“ und fordert: „Straffällige Asylbewerber, die unsere Rechtsordnung nicht akzeptieren und vollziehbar ausreisepflichtig sind, sollten bei der Abschiebung vorgezogen werden.“
„Straffällige Asylbewerber“ ist ein Codewort der extremen Rechten. Vermeintliche oder reale Straftaten von Flüchtlingen und Migranten werden aufgebauscht, um ein Klima der Verdächtigung und Angst zu erzeugen, Polizei und Justiz als ohnmächtig und überfordert darzustellen und den Aufbau eines Polizeistaats sowie die Beseitigung elementarer Grundrechte zu rechtfertigen. Das tut auch Baerbock in ihrem Interview; es ist von der ersten bis zur letzten Zeile ein Plädoyer für einen starken Staat.
So fordert sie, auf eine Straftat müssten zügig Urteil und Strafvollzug folgen, sonst entstehe bei manchen Straftätern der Eindruck, Gewalt habe in Deutschland keine Konsequenzen. Um dies zu verhindern, will sie die „rechtsstaatlichen Instrumente“ besser nutzen, strafrechtliche Sammelverfahren einführen, bei denen mehrere kleine Einzeldelikte zu einem großen Delikt zusammengefasst werden, und mindestens zehn Jahre lang jeweils 400 Millionen Euro zusätzlich für die Justiz ausgeben.
Baerbock begrüßt einen Vorstoß der 16 Regierungschefs der Bundesländer, Intensiv- und Mehrfachtäter nach schärferen Regeln abzuschieben und die strafrechtliche Schwelle abzusenken, ab der Abschiebungen möglich sind. Wer alle Integrationsbemühungen kaputtmache, gehöre bei Straftaten „nicht aufs Dorf, sondern ins Gefängnis“, fordert sie.
Baerbock verlangt nicht nur mehr Härte gegen Flüchtlinge, sie will dafür auch noch bedauert werden. Zynisch bezeichnete sie Abschiebungen als „ein schmerzhaftes Thema“ für ihre Partei. Doch wer das Grundrecht auf Asyl erhalten wolle, komme um die Durchsetzung von Rechtsstaatlichkeit nicht herum.
Das Eintreten der Grünen für Law and Order ist nicht neu. Schon der Europaparteitag im November war regelrecht besessen von der Forderung nach mehr Polizei. Baerbock eröffnete ihn mit einer Lobrede auf das Gewaltmonopol des Staates. Seine Verteidigung, sagte sie, „war den Grünen nicht in die Wiege gelegt“. Aber jetzt sei sie „unser Job“.
Das vom Parteitag verabschiedete Europawahlprogramm fordert unter anderem eine stärkere europäische Kooperation der Sicherheitsbehörden, einen EU-weiten Datenaustausch und den Ausbau der „weitgehend befugnisfreien europäischen Polizeibehörde Europol“ zu einer europäischen Polizei mit eigenen Ermittlungsteams. Dafür müssten ausreichend Ressourcen und Personal bereitgestellt werden.
Flüchtlinge dienen dieser Law-and-Order-Kampagne lediglich als leichte Zielscheibe und Sündenbock. Ihr eigentliches Ziel ist die gesamte Arbeiterklasse. Die Grünen reagieren damit auf das Anwachsen von Protesten und Klassenkämpfen in ganz Europa. Als Partei der wohlhabenden städtischen Mittelklasse sehen sie ihre gesellschaftliche Stellung durch die Rebellion verarmter Schichten gegen die soziale Ungleichheit bedroht.
Keiner hat dies deutlicher ausgedrückt als der Grüne der ersten Stunde Daniel Cohn-Bendit. In zahlreichen Interviews denunzierte er die französischen „gelben Westen“, die gegen den „Präsidenten der Reichen“ Emmanuel Macron protestieren, als Rechtsextreme. So sagte er dem Berliner Tagesspiegel: „Die Gelbwesten haben die Rechtsextremen gestärkt.“ Die von einigen Demonstranten erhobene Forderung nach Volksinitiativen sei „eine Losung von Marine Le Pen“, der Vorsitzenden des rechtsextremen Rassemblement National.
Cohn-Bendit hatte seine politische Karriere 1968 als Sprachrohr der Pariser Studentenrevolte begonnen und in den siebziger Jahren gemeinsam mit seinem Freund Joschka Fischer in Frankfurt am Main Häuser besetzt. Schon damals hatte er die Arbeiterklasse abgelehnt und sich als „Sponti“, als antikommunistischer Anarchist, verstanden. Ende der 1970er Jahre begannen er und Fischer ihre Karriere bei den Grünen, die Fischer zwei Jahrzehnte später an die Spitze des deutschen Außenministeriums führte, wo er die ersten deutschen Kriegseinsätze seit 1945 verantwortete.
Cohn-Bendit spielte als Mitglied der deutschen und französischen Grünen lange Zeit eine führende Rolle im Europaparlament. Je offener sich die Europäische Union als Werkzeug der Sparpolitik und des Militarismus entpuppte, desto heftiger wurde sie von den Grünen und Cohn-Bendit verteidigt. 2012 veröffentlichte er gemeinsam mit dem belgischen Ex-Premier Guy Verhofstadt, einem Liberalen, ein Manifest zur Verteidigung der EU; inzwischen unterstützt er den französischen Präsidenten Emmanuel Macron.
Die 1980 geborene Annalena Baerbock und der 1969 geborene Robert Habeck, die die Grünen seit Januar 2018 führen, gehören zu einer Generation, die die 1968er Revolte nicht miterlebte und sich der Partei anschloss, als diese bereits fest etabliert war und Aussicht auf eine sichere Karriere bot. Umso leichter fällt es ihnen, die Law-and-Order-Parolen der Rechten ohne Hemmungen nachzusprechen.
Unter Joschka Fischer waren die Grünen erstmals in die Bundesregierung eingetreten und hatten der herrschenden Klasse zwei unverzichtbare Dienste erwiesen: Sie durchbrachen den tiefverwurzelten Widerstand gegen Militäreinsätze und schickten die Bundeswehr in ihren ersten Kampfeinsatz gegen Jugoslawien; und sie verabschiedeten gemeinsam mit der SPD die Hartz-Gesetze, die einen riesigen Niedriglohnsektor schufen und Deutschland zum ungleichsten Land Europas machten.
Nun schicken sich die Grünen an, neben den sozialen auch noch die demokratischen Rechte der Arbeiterklasse zu schleifen. Hatten sie sich 1998 noch als „linke“ Alternative zur Regierung von Helmut Kohl (CDU) dargestellt, was sich als Trug entpuppte, sind sie inzwischen eine fest etablierte bürgerliche Partei, die in neun von 16 Landesregierungen sitzt und in Baden-Württemberg sogar den Ministerpräsidenten stellt. Ihr bevorzugter Partner ist mittlerweile die CDU.
Baerbocks Law-and-Order-Parolen dienen nicht zuletzt dazu, den Grünen den Weg zurück in die Bundesregierung zu ebnen. Ein Jamaika-Bündnis mit CDU, CSU und FDP war im Frühjahr dieses Jahres erst im letzten Moment am Rückzug er FDP gescheitert. Nun, da sich Angela Merkel schrittweise von ihren Ämtern zurückzieht, könnte es klappen – möglicherweise mit dem BlackRock-Manager Friedrich Merz als Kanzler.