Die Staatsanwaltschaft von Agrigent ermittelt wegen Freiheitsberaubung, illegaler Festnahme und Amtsmissbrauchs gegen den italienischen Innenminister und Lega-Vorsitzenden Matteo Salvini.
Der Innenminister hatte 177 Geflüchtete an Bord eines Schiffs der italienischen Küstenwache als Geiseln festgehalten. Sie sollten die „Ubaldo Diciotti“ erst verlassen und italienischen Boden betreten, wenn andere europäische Staaten ihre Aufnahme garantieren. Andernfalls, so drohte Salvini, würden sie nach Libyen zurück deportiert. Zehn Tage lang erlaubte es die Koalitionsregierung aus Lega und Fünf-Sterne-Bewegung den erschöpften Menschen nicht, an Land zu kommen.
Am 16. August waren die Flüchtlinge von der Küstenwache in der Nähe von Lampedusa aus dem Mittelmeer gerettet worden. Erst am 20. August wurde dem Schiff gestattet, im Hafen von Catania einzulaufen. Vorerst durften nur 27 Kinder und unbegleitete Minderjährige das Schiff verlassen. An Bord, wo sich bis Samstag noch 150 Geflüchtete aufhielten, breitete sich die Krätze aus, und es gab mehrere Verdachtsfälle auf Tuberkulose.
Schließlich durften die Migranten in der Nacht von Samstag auf Sonntag die „Ubaldo Diciotti“ verlassen. Das Nicht-EU-Mitglied Albanien und Irland hatten sich bereit erklärt, je 25 Personen aufzunehmen. Die letzten hundert Menschen will die italienische Bischofskonferenz in katholischen Einrichtungen unterbringen – ein verzweifelter Versuch von Papst Franziskus, das arg ramponierte Ansehen der Kirche infolge der Kindesmissbrauchsaffäre wieder aufzupolieren.
Am selben Samstag, dem 25. August, leitete Luigi Patronaggio, leitender Staatsanwalt von Agrigent, Ermittlungen gegen Salvini ein. Er beschuldigt den Innenminister, sowohl gegen italienisches als auch gegen EU-Recht verstoßen zu haben. Kein Mensch, auch kein afrikanischer Migrant, dürfe länger als 48 Stunden ohne Anordnung eines Richters festgehalten werden.
Staatsanwalt Patronaggio ist kein Unbekannter. Er hat auf Sizilien schon vor Jahren gegen die Mafia ermittelt. Im Fall Marcello Dell’Utri hat er den Berater und persönlichen Freund Silvio Berlusconis hinter Gittern gebracht. Berlusconi hatte als Premier jahrelang im Bündnis mit der Lega Nord, der Vorgängerin von Salvinis Lega regiert.
Am Sonntag hat Patronaggio den Fall Salvini an das „Tribunale dei Ministri“ in Palermo abgegeben, eine besonderes Gericht, das gegen Regierungsmitglieder ermittelt. Über die Flüchtlinge sagte Patronaggio: „Es geht um Menschen, die schmerzlich gezwungen sind, ihr Land und ihre Familien zu verlassen, um Krieg und Elend zu entkommen.“
Allerdings gehört neben Salvini im Grunde die ganze Europäische Union auf die Anklagebank.
Die EU ist für den Ertrinkungstod von Tausenden im Mittelmeer verantwortlich. Die Geretteten gehören zu den wenigen, die das sichere Land noch erreicht haben. Ende Juni hatte die EU beschlossen, die „Festung Europa“ komplett abzuriegeln, die berüchtigte libysche Küstenwache als Türsteher Europas am Mittelmeer einzusetzen und die freiwilligen NGO-Seenotretter am Auslaufen zu hindern, damit sie keine Schiffbrüchigen mehr retten können.
Damit überlässt die EU eine unbekannte Zahl von Flüchtlingen ihrem Schicksal auf offener See. Laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) ist die Zahl derjenigen, die bis zum 22. August Italien erreichten, im Vergleich zum gleichen Vorjahreszeitraum von 97.500 auf 19.400 gesunken. Trotzdem wurden in diesen acht Monaten 1546 Fälle von Ertrunkenen oder Vermissten registriert.
Salvini hat auf die Ermittlungen des Staatsanwalts mit aggressivem Hohn reagiert. Vor faschistischen Anhängern im norditalienischen Pinzolo schob er die ganze Schuld auf die EU, sie habe sich als „niederträchtig und nutzlos“ erwiesen. „Sie verdienen unser Geld nicht“, deshalb werde Italien die Beitragszahlungen stoppen.
Zu der Anklage sagte Salvini, er werde er auf die Immunität verzichten, die ihm als Senatsmitglied zusteht. „Sollen sie kommen und mich holen“, so Salvini, „ich bin bereit.“ Die Anklage sei „eine Schande“. „Mich können sie verhaften, aber nicht 60 Millionen Italiener, die wollen, dass es anders wird.“
Salvinis provokantes Auftreten ist eine Reaktion darauf, dass die Regierung rasch an Unterstützung in der Bevölkerung verliert. Konfrontiert mit einer tiefen wirtschaftlichen und sozialen Krise, versucht er die rechtesten Elemente zu mobilisieren.
Die Regierungspolitik, die Aufrüstung von Armee und Polizei und die Missachtung demokratischer Rechte stößt zunehmend auf Ablehnung. Am Samstag demonstrierten über tausend Menschen am Hafen von Catania für die Freilassung der Migranten. „Sie werden widerrechtlich festgehalten“, sagte ein Teilnehmer der Tageszeitung Repubblica. „Wir wollen zeigen, dass wir mit ihnen solidarisch sind“.
Praktisch keine Parteipolitiker ließen sich sehen, und als eine Gruppe der früheren Regierungspartei PD auftauchte, wurde sie mit Sprechchören vertrieben. Ein Redner sagte: „Hier sind viele arbeitslos, andere sind Studenten, die zwei Jobs machen müssen; es sind prekär Beschäftigte oder Rentner, die es nicht bis zum Monatsende schaffen. Wir können uns vorstellen, wie es den Flüchtlingen geht: Wir alle wollen leben.“
Die Behauptung Salvinis, seine Politik stütze sich auf „60 Millionen Italiener, die wollen, dass es anders wird“, provozierten auch im Internet massive Reaktionen. Viele posteten Berichte, wie sich Arbeiter, Anwohner und selbst Urlauber an der Küste gegen die Lega-Propaganda zur Wehr setzen. Auch ein Treffen von Matteo Salvini mit dem ungarischen Premier Viktor Orbán am gestrigen Dienstag in Mailand wurde von Protesten begleitet.
Mit ihrer faschistischen Hetze versucht die Regierung, von den wachsenden Spannungen abzulenken. Im Hintergrund lauert eine massive Finanzkrise, die es der Lega und der Fünf-Sterne-Bewegung nicht erlauben wird, auch nur eines ihrer zahlreichen Wahlversprechen zu erfüllen. Die Regierungsparteien hatten die Wiederherstellung der Renten, ein sicheres Grundeinkommen und Steuersenkungen versprochen – alles Milliarden-teure Maßnahmen, die sich jetzt in Luft auflösen.
Dann hatte der Einsturz der Morandi-Brücke in Genua, der 43 Todesopfer forderte, mit einem Schlag den maroden Zustand der italienischen Wirtschaft und Gesellschaft beleuchtet. Hunderte Menschen, die dadurch obdachlos wurden, haben bis heute kein vernünftiges Dach über dem Kopf und keine Hilfe bekommen.
Im September muss die Regierung ihren Haushalt für das Jahr 2019 vorlegen und die EU muss ihn absegnen. Das erklärt die aggressive Propaganda von Regierungsmitgliedern gegen die EU. Nicht nur Salvini, sondern auch sein Koalitionspartner Luigi Di Maio (Fünf-Sterne-Bewegung) hat verkündet, Italien werde der EU „keinen Euro mehr“ überweisen.
Italien hat nach Griechenland das zweitgrößte Staatsdefizit in der EU (2,3 Billionen Euro), und Finanzminister Giovanni Tria steht vor dem akuten Problem, mehrere hundert Milliarden Euro an Bankenkrediten kurzfristig umzuschichten. Gleichzeitig stehen drei Termine bevor, an denen die italienische Kreditwürdigkeit herabgestuft werden könnte. Am 31. August, am 7. September und am 26. Oktober geben die Ratingagenturen Fitch, Moody’s und Standard&Poor’s ihre Bewertungen ab.
Die italienische Regierung von Lega und Fünf-Sterne-Bewegung kann sich nur an der Macht halten und ihre rechte Hetze betreiben, weil es keine Opposition gibt, die ihr ernsthaft entgegentritt, und weil die Arbeiterklasse keine Partei hat, die dem weit verbreiteten Widerstand ein Programm und eine Perspektive verleiht.
Besonders die angeblich „linken“ Politiker am Rand der früheren Regierungspartei der Demokraten (PD) bemühen sich, den Widerstand der arbeitenden Bevölkerung aufzufangen und zu neutralisieren. Nachdem sie jahrelang die arbeiterfeindliche Politik diverser Mitte-Links-Regierungen abgeschirmt haben, weigern sie sich strikt, Widerstand gegen den faschistischen Kurs der neuen Regierung zu mobilisieren. Selbst die Ermittlungen von Staatsanwalt Patronaggio gehen ihnen zu weit. Mehrere pseudolinke Politiker haben sie verächtlich abgetan und behauptet, sie wären bloß Öl ins Feuer von Salvinis rechtsextremer Propaganda.