Perspektive

Regierungskrise: Für eine unabhängige Strategie der Arbeiterklasse gegen Flüchtlingshetze, Militarismus und Krieg

Hundert Tage nach der Amtsübernahme der neuen Bundesregierung haben sich alle Warnungen der Sozialistischen Gleichheitspartei (SGP) über den Charakter der Koalition aus CDU, CSU und SPD bestätigt. Die dritte Auflage der Großen Koalition ist die rechteste deutsche Regierung seit dem Sturz des Nazi-Regimes. Sie rüstet Deutschland massiv auf, errichtet einen Polizeistaat, bereitet eine neue Runde des Sozialabbaus vor und übernimmt die Flüchtlingspolitik der rechtsextremen AfD.

In der gegenwärtigen Auseinandersetzung zwischen CDU und CSU geht es nicht darum ob, sondern wie das reaktionäre Koalitionsprogramm gegen die wachsende Opposition in der Bevölkerung durchgesetzt wird. Sowohl die „nationale Lösung“ von Innenminister Horst Seehofer (CSU), der Flüchtlinge direkt an der deutschen Grenze abweisen will, als auch die sogenannte „europäische Lösung“ von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sehen Massenabschiebungen und die brutale Abwehr von Flüchtlingen vor.

„Wir sind der Meinung, dass CDU und CSU das gemeinsame Ziel haben, die Immigration in unser Land besser zu ordnen und zu steuern und die Zahl der bei uns ankommenden Menschen deutlich zu verringern, damit sich eine Situation wie die des Jahres 2015 nicht wiederholen wird und kann“, erklärte Merkel auf ihrer Pressekonferenz Anfang der Woche. Das „gemeinsame Ziel“ hatte die Große Koalition bereits in ihrem Koalitionsvertrag formuliert und dazu sowohl den „Ausbau der europäischen Grenz- und Küstenwache (Frontex) zu einer echten europäischen Grenzschutzpolizei“, als auch den „wirksamen Schutz der Binnengrenzen“ angekündigt.

Diese Agenda wird nun mit aller Brutalität umgesetzt. In den vergangenen Tagen haben sich die EU und ihre nationalen Regierungen mit Vorschlägen übertroffen, die an die dunkelsten Zeiten der deutschen und europäischen Geschichte erinnern. Der polnische EU-Ratspräsident Donald Tusk forderte am Dienstag die Errichtung weiterer „Sammellager“ für Flüchtlinge in Nordafrika. Die Lager sind regelrechte Internierungslager, in denen Flüchtlinge schrecklichen Verbrechen ausgesetzt sind. Bereits im vergangenen Jahr hatten sowohl CNN und Amnesty International aufgedeckt, dass Flüchtlinge in Libyen gefoltert, als Sklaven verkauft und in EU-finanzierten Lagern ermordet werden.

Die italienische Regierung, mit der sich die Bundesregierung vor der Tagung des Europäischen Rates Ende Juni eng abstimmt, bereitet Maßnahmen vor, die direkt aus dem Arsenal des Faschismus stammen. Nach seiner Drohung, „alle 600.000“ Migranten aus Italien auszuweisen, verkündete der rechtsextreme italienische Innenminister Matteo Salvini (Lega), nun auch die Sinti und Roma im Land registrieren und zählen zu lassen. Der faschistische Diktator Benito Mussolini hatte während des Zweiten Weltkriegs die jüdische Bevölkerung im Land registrieren lassen, bevor sie in die Vernichtungslager der Nazis deportiert wurden.

Viele Arbeiter und Jugendliche sind entsetzt und stellen sich die Frage, wie es sein kann, dass ausgerechnet Europa wieder die Gespenster der Vergangenheit heimsuchen. Die Antwort erfordert ein marxistisches Verständnis der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung. Vor zwei Tagen betonte die World Socialist Web Site in einem Aufruf mit dem Titel „Stoppt den weltweiten Terror gegen Einwanderer und Flüchtlinge!“, dass „die brutalen und gesetzeswidrigen Angriffe auf Immigranten … mit einer enormen Verschärfung sozialer Ungleichheit und imperialistischer Kriege verbunden“ sind.

Weiter erklärten wir: „Die Tatsache, dass der Terror gegen Flüchtlinge ein globales Phänomen ist, macht deutlich, dass er nicht einfach der faschistischen Ideologie Trumps oder seiner europäischen Amtskollegen entspringt. Vielmehr bringt er in explosiver Weise die objektive Krise und den historischen Bankrott des kapitalistischen Nationalstaatssystems zum Ausdruck, das mit der beispiellosen Integration der Weltwirtschaft zunehmend in Konflikt gerät, was zu Krieg und Unterdrückung führt.“

Beim Streit innerhalb der Großen Koalition geht es nicht nur darum, wie die herrschende Klasse den Terror gegen Einwanderer und Flüchtlinge – und gegen die Arbeiterklasse insgesamt – am effektivsten organisiert. Über die Flüchtlingsfrage wird die gesamte deutsche Politik weiter nach rechts verschoben. Nach dem Scheitern des G7-Gipfels am letzten Wochenende und dem sich entwickelnden Handelskrieg mit den USA gibt es in der herrschenden Klasse eine heftige Auseinandersetzung darüber, wie sie ihr Diktat in Europa am besten durchsetzen kann, um die geostrategischen und wirtschaftlichen Interessen des deutschen Imperialismus international zu verfolgen.

Der Flügel um Merkel, der von weiten Teilen der CDU, der SPD, den Grünen und der Linkspartei unterstützt wird, will die militärische und wirtschaftspolitische Zusammenarbeit mit Frankreich trotz der wachsenden Spannungen mit Paris vorantreiben. Die von Merkel und dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron am Dienstag vereinbarte Meseberger Erklärung mahnt „neue Möglichkeiten zu prüfen, wie die EU-Entscheidungsfindung in unserer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik beschleunigt und effizienter gemacht werden kann“. Konkret fordert die Erklärung u.a. die Einrichtung eines „EU Sicherheitsrats“, „die Herausbildung einer gemeinsamen strategischen Kultur“, eine „Europäische Interventionsinitiative“ und „die Entwicklung militärischer Fähigkeiten weiterzuführen“.

Es ist das erklärte Ziel der Bundesregierung, Europa als unabhängigen militaristischen Block gegen die drei größten Atommächte der Welt zusammenzuschweißen. Am vergangenen Mittwoch hielt der deutsche Außenminister Heiko Maas (SPD) eine außenpolitische Grundsatzrede unter dem Titel „Mut zu Europa – Europe United“, in der er als Antwort auf „Donald Trumps egoistische Politik des ‚America First‘, Russlands Angriffe auf Völkerrecht und Staatensouveränität und die Expansion des Giganten China“ eine unabhängige deutsch-europäische Außen- und Verteidigungspolitik einforderte. Die Durchsetzung dieser Strategie, die an deutsche Großmachtkonzeptionen vor dem Ersten und Zweiten Weltkrieg anknüpft, erfordert ein aggressives nationalistisches Programm.

Seehofers CSU, die FDP, die rechtsextreme AfD sowie auch Vertreter der anderen Bundestagsparteien bringen dies zunehmend offen zum Ausdruck. So erklärte der bayrische Ministerpräsident Markus Söder vor wenigen Tagen, dass „die Zeit des geordneten Multilateralismus“ in Europa und der Welt gerade abgelöst werde „von Einzelländern, die auch Entscheidungen treffen“. Der „Respekt vor Deutschland“ ergebe „sich auch daraus, dass wir auch in der Lage sind, unsere Interessen selbst wahrzunehmen“.

Vor allem die Zusammenarbeit mit Macron sieht die CSU kritisch. Die Erklärung von Meseberg sei nicht mit seiner Partei besprochen und abgestimmt worden, beschwerte sich Seehofer nur einen Tag nach dem deutsch-französischen Gipfel. „Es ist kein guter Stil, wenn man solch wichtige Vereinbarungen trifft und die CSU nicht beteiligt. Das geht nicht.“ Auf dem Koalitionsgipfel am kommenden Dienstag würde die Beratung nun nachgeholt. „Erst wenn wir das alles genau wissen, sehr präzise, wie viel jeder einzelne Vorschlag kostet, dann können wir das beurteilen und entscheiden.“

Es ist klar, dass die Regierungsparteien den Koalitionsgipfel genauso wie alle anderen Treffen auf nationaler und europäischer Ebene in den nächsten Tagen dafür nutzen werden, um hinter dem Rücken der Bevölkerung ihre reaktionären Pläne weiterzuspinnen. Bereits die Wiedereinsetzung der Großen Koalition nach ihrer de facto Abwahl bei den letzten Bundestagswahlen war das Ergebnis einer regelrechten Verschwörung von Banken, Wirtschaftsverbänden, Militärs, Geheimdiensten und politischen Parteien, die monatelang abgeschirmt von der Öffentlichkeit verhandelten und intrigierten. Ob und auf was sie sich CDU, CSU und SPD nun nach hundert Tagen im Amt noch einigen können, ist offen. Selbst ein Bruch der Koalition und ein vorzeitiges Ende der Kanzlerschaft von Merkel steht mittlerweile im Raum.

Gestern warnte Seehofer die Kanzlerin davor, ihn wegen einer möglichen Inkraftsetzung nationaler Grenzkontrollen zu entlassen. „Wenn man mit dieser Begründung einen Minister entließe, der sich um die Sicherheit und Ordnung seines Landes sorgt und kümmert, wäre das eine weltweite Uraufführung. Wo sind wir denn?“, sagte er der Passauer Neuen Presse. Er sei der Vorsitzende „einer von drei Koalitionsparteien, und handele mit voller Rückendeckung meiner Partei. Wenn man im Kanzleramt mit der Arbeit des Bundesinnenministers unzufrieden wäre, dann sollte man die Koalition beenden.“

Egal wie der Regierungsstreit sich entwickelt, eines ist klar: bleibt die Initiative in den Händen der herrschenden Klasse, wird sie ihre Politik des Militarismus, der inneren Aufrüstung, des Sozialabbaus und der Flüchtlingshetze weiter verschärfen.

Der Maßstab ist die AfD. Am Donnerstag feierte der Parteivorsitzende der Rechtsextremen, Alexander Gauland, in einem Interview mit der Potsdamer Neuen Nachrichten, dass die Große Koalition ihre Politik übernimmt. „Wir haben dafür gesorgt, dass über das Thema der Massenmigration gesprochen wird. Da hat sich inzwischen viel verändert“, erklärte er. Etwa „wenn Herr Söder sagt, dass der Asyl-Tourismus zu Ende gehen muss, oder wenn Herr Dobrindt [Vorsitzender der CSU-Landesgruppe im Bundestag] von der Anti-Abschiebe-Industrie spricht. Vor zwei Jahren wären solche Formulierungen, wenn sie von uns gekommen wären, als rechtsradikal und fremdenfeindlich verschrien worden.“

Dass die rechtsradikale und fremdenfeindliche Hetze der AfD trotz der massenhaften Opposition gegen sie – erst vor wenigen Wochen protestierten in Berlin zehntausende gegen Gauland und Co. – mittlerweile die Politik dominiert, liegt vor allem an der Rechtswende des rot-rot-grünen Milieus. Bereits vor zwei Jahren hatte Gauland die Fraktionsvorsitzende der Linkspartei Sahra Wagenknecht für ihre Aussage „Wer Gastrecht missbraucht, der hat Gastrecht verwirkt“ gelobt. Heute bezeichnet Wagenknecht „offene Grenzen“ als „weltfremd“ und bekommt Applaus von den Pseudolinken. In einem aktuellen Interview zum jüngst Parteitag der Linken in Leipzig spricht sich der Bundessprecher der SAV, Sascha Stanicic, ebenfalls gegen „offene Grenzen“ aus. „Die Formulierung“ sei „im Sinne einer Forderung wenig hilfreich.“

Das ist Wasser auf die Mühlen der extremen Rechten!

Die Sozialistische Gleichheitspartei ist die einzige Partei, die der Rechtswende des gesamten politischen Establishments – von der AfD über die Große Koalition bis hin zu den Pseudolinken im Umfeld der Linkspartei – von links entgegentritt und eine unabhängige Strategie für die Arbeiterklasse formuliert. Um die rechte Verschwörung zurückzuschlagen, müssen Arbeiter und Jugendliche allen Fraktionen der herrschenden Klasse den Kampf ansagen und bewusst für ein sozialistisches Programm eintreten. Die notwendige Alternative zur kapitalistischen Reaktion in Deutschland und ganz Europa, die den Kontinent bereits im 20. Jahrhundert zweimal in den Abgrund gestürzt hat, besteht im Aufbau einer machtvollen Bewegung der internationalen Arbeiterklasse und im Kampf für die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa.

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