Der soziale und politische Hintergrund der Amokfahrt von Münster

Die Motive des Amokfahrers von Münster, der am Samstag zwei Menschen getötet hat, sind nach wie vor unklar. Auch wenn Hinweise auf persönliche Motive hindeuten, können Verbindungen ins rechtsextreme Milieu nicht ausgeschlossen werden. In jedem Fall wirft die schreckliche Tat ein Schlaglicht auf eine zunehmend brutalisierte Gesellschaft.

Der 48 Jährige Jens R. fuhr um 15:27 im Zentrum Münsters mit einem Campingbus in eine Menschengruppe, die sich im Außenbereich einer Gaststätte aufhielt. Dabei wurden zwei Personen getötet, eine 51 Jahre alte Frau aus dem Kreis Lüneburg und ein 65 Jahre alter Mann aus dem Kreis Borken. Mehr als 20 weitere Menschen wurden zum Teil schwer verletzt. Vier von ihnen befanden sich am Sonntag noch in Lebensgefahr. Sekunden nach der Tat erschoss sich der Angreifer selbst.

Den Ermittlern zufolge handelte es sich um die Tat einer Einzelperson. Zwei Personen, die laut ersten Zeugenaussagen kurz vor dem Aufprall aus dem Wagen gesprungen seien, hätten sich als besonders laute Passanten erwiesen, berichtet die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Auch gäbe es keine Anhaltspunkt für eine Verbindung zu terroristischen Kreisen.

Allerdings fand die Polizei in R.s Wohnung in Münster das naturgetreue Modell einer Maschinenpistole AK-74 (Kalaschnikow), eine Gasflasche sowie sogenannte Polenböller. Neben dieser Wohnung hatte R. noch eine Lagerhalle in Münster sowie zwei weitere Wohnungen im sächsischen Pirna und in Heidenau angemietet, die ebenfalls von der Polizei durchsucht wurden. „Die erste, doch schon etwas intensivere Durchsicht hat keinerlei Hinweise auf einen politischen Hintergrund ergeben“, erklärte ein Polizeisprecher.

Zu R. und seinen Motiven machte die Polizei kaum Angaben. Allerdings sind mittlerweile zahlreiche Details über sein Leben an die Öffentlichkeit gelangt. Die Süddeutsche Zeitung berichtet, dass R. ein recht wohlhabender Möbeldesigner gewesen sei, der nach großem beruflichen Erfolg gescheitert sei. Nach einem schweren Sturz habe sich seine Lage weiter verschlechtert. Er habe Nachbarn, Ärzten und seinen Eltern schwere Vorwürfe gemacht.

In der Wohnung in Pirna hätten die Ermittler demnach einen 18-seitigen Text gefunden in dem R. seine Lebensgeschichte umreißt. Darin berichte er von gravierenden Problemen mit seinen Eltern, von Schuldkomplexen, nervlicher Zerrüttung und wiederkehrenden psychischen Zusammenbrüchen und frühen Suizidgedanken. Er beschreibe auch Aggressionsausbrüche und Verhaltensstörungen. So habe er im Jahr 2014 das elterliche Mobiliar mit einem Beil zerlegt.

Die SZ berichtet auch von einem Abschiedsbrief, den R. am 29. März an diverse Bekannte verschickt habe. Darin sei zwar kein Amoklauf abzusehen, wohl aber ein Selbstmord. Dem Spiegel zufolge leitete ein Nachbar den Text an die Polizei weiter. Diese habe darin Suizidgedanken ausgemacht, habe R. aber nicht finden können. Auch der sozialpsychiatrische Dienst der Stadt Münster wusste von R.s psychischen Problemen, weil sich dieser schon früher an ihn gewandt hatte. Offenbar hatte es schon einen früheren Suizidversuch gegeben und auch die Polizei hatte wohl schon bei früheren Anzeigen gegen ihn festgestellt, dass er psychische Probleme habe.

Vieles deutete darauf hin, dass R. aus persönlichen Motiven heraus gehandelt hat. Aber auch eine Verbindung ins rechtsextreme Milieu, wie beim Terroranschlag in München im Juli 2016, kann nicht ausgeschlossen werden. Schon am Samstag hatten Sicherheitsexperten laut Tagesspiegel angedeutet, es könne Kontakte zu Rechtsextremisten geben. Am Sonntag kam dann heraus, dass in dem Haus in Pirna, in dem R. eine Wohnung angemietet hat, ein behördenbekannter Rechtsextremist wohnt. Das Landeskriminalamt Sachsen prüfe, ob es eine Verbindung gebe. Auch die Ermittler in Münster untersuchen mögliche Kontakte in die braune Szene der Stadt.

Auch wenn es keine direkten Kontakte zu Rechtsextremisten geben sollte, kann man eine abscheuliche Tat wie R.s Amokfahrt nur im Zusammenhang mit der Brutalisierung der Gesellschaft verstehen. Persönliche Motive, die es in R.s Leben offenbar reichlich gab, können nur unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen zu einer derartigen Monstrosität führen. Und die haben sich in den letzten Jahren extrem verschärft.

Fast täglich nimmt die Hetze gegen Flüchtlinge aggressivere Formen an. Umgesetzt wird die Fremdenfeindlichkeit in der ungeheuren Deportationsmaschinerie, die mit Unterstützung aller Bundestagsparteien in Gang gesetzt wurde. Nun hat die Große Koalition eine massive Aufrüstung des Staatsapparats nach innen uns außen angekündigt. Der Wehrhaushalt soll verdoppelt werden. Schon jetzt sind deutsche Soldaten in Afghanistan und in Syrien an schweren Kriegsverbrechen beteiligt. Diese Brutalisierung bereitet den Boden für abscheuliche Taten wie die Amokfahrt von Münster.

Es ist daher umso abstoßender, wenn verschiedene Politiker und Medien die Bluttat nutzten, um für Staatsaufrüstung und zu werben und gegen Flüchtlinge zu hetzen.

Gut eine Stunde nach der Tat stellte die Vizechefin der AfD-Bundestagsfraktion Beatrix von Storch einen Zusammenhang zwischen der Flüchtlingspolitik der Bundesregierung und dem Anschlag her. Sie twitterte kommentarlos den Ausspruch, den Kanzlerin Angela Merkel im Sommer 2015 in Bezug auf die Aufnahme und Integration der Flüchtlinge geäußert hat: „Wir schaffen das“. Auch als Jens R. als mutmaßlicher Täter feststand, erklärte ihn Storch zu einem „Nachahmer islamischen Terrors“ und schrieb: „der Islam wird wieder zuschlagen.“

Ihr Parteikollege und Bundestagsabgeordnete Norbert Kleinwächter twitterte in Bezug auf den Anschlag: „Wann begreift diese Regierung, dass Islamisten, diese irren Zeitbomben, schlichtweg nicht nach und erst recht nicht zu Deutschland gehören?“ Damit unterstellte er nicht nur eine islamistische Motivation hinter der Tat, sondern machte ähnlich wie Storch nicht Terroristen und Islamisten, sondern den Islam insgesamt für Terror verantwortlich.

Solch geschmacklose Hetze blieb nicht auf die AfD beschränkt. In einem Kommentar für Die Welt erklärte Rainer Haubrich am Sonntag: „Obwohl sich bald herausstellte, dass Münster kein islamistischer Anschlag war, wusste doch jeder um die Chance, dass es einer hätte sein können.“ Daraus zieht er den Schluss, dass Deutschland ein neues Sicherheitsgesetz benötige, wie es in Frankreich nach den Pariser Anschlägen verabschiedet worden war und grundlegende demokratische Rechte außer Kraft setzte. Dabei ist bekannt, dass alle Attentäter in Frankreich enge Verbindungen zu den Geheimdiensten hatten. Das Gleiche gilt für den Amokfahrer Anis Amri, der bei seinem Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche im Dezember 2016 zwölf Menschen in den Tod riss.

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