Wenn sich ein Sozialdemokrat gegen Kürzungen ausspricht, weiß jeder Arbeiter, dass eine neue Runde sozialer Angriffe bevorsteht. Während sich die Koalitionsverhandlungen auf der Zielgeraden befinden, trat gestern Nachmittag der SPD-Vorsitzende Martin Schulz vor die Kameras und verkündete die Einigung der Großkoalitionäre in der Europapolitik. Das Ergebnis sei „ein dringend nötiges Signal für einen neuen Aufbruch für Europa“. Erfolge aus SPD-Sicht seien „mehr Investitionen, ein Investitionshaushalt für die Eurozone und ein Ende des Spardiktats“.
Das war offensichtlich eine Lüge. Nur wenige Minuten später stellte der CDU-Wirtschaftsrat klar, dass das beschlossene Europakapitel keinesfalls das „Ende des Spardiktats“ ist. Die Europapolitik werde „auch in einer großen Koalition nicht in der SPD-Zentrale gemacht“, erklärte Wirtschaftsrat-Generalsekretär Wolfgang Steiger der Nachrichtenagentur Reuters.
Tatsächlich bestehen in Fragen der Finanzpolitik keine grundlegenden Differenzen zwischen dem Willy-Brandt-Haus und der CDU-Zentrale. So planen SPD und Union gleichermaßen, die Austeritätspolitik zu verschärfen, mit der sie bereits in den vergangenen Jahren Millionen von Arbeitern und Jugendlichen in Deutschland und ganz Europa in Armut und Arbeitslosigkeit gestürzt haben. Bereits im Sondierungspapier fanden sich Sätze wie, „Wir wollen die Wettbewerbsfähigkeit der EU im Kontext der Globalisierung“ stärken, und „Wir wollen fiskalische Kontrolle in der EU vorantreiben“.
Medienberichten zufolge haben sich Union und SPD in ihrem Koalitionspapier, das heute präsentiert werden soll, auch darauf geeinigt, kleinere Banken weniger streng zu regulieren. Außerdem soll mit Blick auf den Brexit der Finanzplatz Deutschland für Banken attraktiver gemacht werden, indem z.B. der Kündigungsschutz für Spitzenbanker gelockert wird. Ebenso soll an der berüchtigten „schwarzen Null“ des früheren Finanzministers Wolfgang Schäuble festgehalten werden. Zusammen mit den sozialdemokratischen Hartz-„Reformen“ hat sie Deutschland zu einem der sozial ungleichsten Länder Europas gemacht.
Hinter Schulz‘ „Aufbruch für Europa“ steht in Wirklichkeit eine zutiefst reaktionäre Politik. Die SPD und ihr Vorsitzender verfolgen das erklärte Ziel, gemeinsam mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron die soziale Konterrevolution zu vertiefen und die Europäische Union aus einem ökonomischen in ein militärisches Bündnis zu verwandeln, das seine imperialistischen Interessen gewaltsam gegen seine internationale Rivalen durchsetzt.
Bereits auf dem SPD-Sonderparteitag in Bonn hatte Schulz die zügige Umsetzung einer gemeinsamen europäischen Militär- und Großmachtpolitik in Zusammenarbeit mit Frankreich gefordert. „Nur eine starke und entschlossene SPD kann unser Land und Europa stark machen… Es geht um viel“, rief er den Delegierten zu. Europa warte „auf ein Deutschland, dass sich seiner Verantwortung für Europa bewusst ist und entschieden handelt, und das wird ohne die SPD nicht möglich sein“. Die Vorschläge des französischen Präsidenten Emmanuel Macron lägen „auf dem Tisch“.
Welche anti-soziale Stoßrichtung diese Vorschläge haben, wurde erneut in der vergangenen Woche deutlich. Am Donnerstag kündigten der französische Premierminister Edouard Philippe und der Minister für öffentliche Finanzen Gerald Darmanin einen umfassenden Angriff auf Beschäftigte im öffentlichen Dienst an. Er zielt darauf ab, das gesetzliche Statut der Arbeitnehmerrechte, das nach der Befreiung Frankreichs von der Nazibesetzung etabliert wurde, komplett zu streichen. Die Regierung Macron plant einen massiven Stellenabbau, eine Aufweichung des Beamtenstatus, leistungsorientierte Vergütungen und die verstärkte Nutzung von vertraglich Angestellten statt Beamten auf Lebenszeit.
Die Offensive wird von der herrschenden Klasse in Deutschland enthusiastisch unterstützt. „Jetzt will Macron Frankreichs ‚heilige Kühe schlachten‘“, jubelte Die Welt und forderte ähnliche Maßnahmen in Deutschland. Auch hier arbeiteten bei Bund, Ländern und Kommunen „viele Beschäftigte des öffentlichen Dienstes“. Zusammen mit den 1,85 Millionen Beamten seien es rund 4,6 Millionen. „Die Kosten von rund 250 Milliarden Euro pro Jahr“ entsprächen dabei „etwa einem Fünftel der Staatsausgaben“.
Es besteht kein Zweifel daran, dass SPD und Union Einsparungen in dieser Größenordnung planen, um die notwendigen Milliarden für die angestrebte Aufrüstung frei zu machen. Die Kommentare von einflussreichen Sicherheitspolitikern zeigen, dass die Koalitionäre hinter dem Rücken der Bevölkerung ein umfassendes Rüstungsprogramm diskutieren, das Erinnerungen an die Hochrüstung der Wehrmacht in den 1930er Jahren wachruft.
„Entscheidend ist, dass die deutsche Politik seit 2014 einen anderen Kurs fährt und zwar weniger, weil es in Reden oder Koalitionsverträgen angekündigt wurde, sondern weil die Lage es erfordert“, schreibt der Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik (BAKS), Karl-Heinz Kamp, in einem Gastbeitrag im Focus.
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
Mit anderen Worten: die Politik der nächsten Regierung wird nicht durch die Versprechen von SPD und CDU/CSU bestimmt oder durch das, was sie in den Koalitionsvertrag schreiben, sondern durch die internationale Krise des Kapitalismus und die Reaktion der herrschenden Klasse darauf. „Mit Russlands Aggression im Osten und dem Chaos im Mittelmeerraum“ gebe „es wieder direkte Bedrohungen“, schreibt Kamp.
Dann ergänzt er sichtlich zufrieden: „Seither steigt der deutsche Verteidigungshaushalt wieder, und es steigen auch die Ausgaben für die Polizei, die Nachrichtendienste sowie für die Entwicklungshilfe. Auch neue militärische Ausrüstung wird beschafft. In den letzten vier Jahren billigte der Bundestag Rüstungsprojekte für rund 32 Milliarden Euro – in der Legislaturperiode davor waren es nur 6 Milliarden. Anfang 2016 wurde dem Parlament ein Investitionsplan über 130 Milliarden Euro mit 1.500 konkreten Einzelprojekten von der Schutzweste bis zum Panzer vorgelegt.“
Die hohlen Versprechungen von Union und SPD in den vergangenen Tagen – etwa mehr Geld für Bildung, Wohnen und Soziales auszugeben – dienen lediglich dazu, ihr reaktionäres Programm zu verschleiern. Die herrschende Klasse fürchtet den wachsenden Widerstand unter Arbeitern und Jugendlichen gegen ihre unsoziale und militaristische Politik. Während SPD und Union die Koalitionsgespräche zu einem schnellen Abschluss bringen wollen, arbeiten gleichzeitig die Gewerkschaften daran, die massiven Streiks in der Metall- und Elektroindustrie abzuwürgen. Gestern berichtete das Handelsblatt über „eine mögliche Einigung“ zwischen der IG Metall und den Unternehmen.
Die Sozialistische Gleichheitspartei stützt sich bei ihrer Forderung nach Neuwahlen auf die wachsende Opposition gegen Sozialabbau, Militarismus und Diktatur weltweit. Die Streiks in der Metall- und Elektroindustrie müssen fortgesetzt und mit der breitest möglichen Mobilisierung der Arbeiterklasse in ganz Europa und international auf der Grundlage eines sozialistischen Programms verbunden werden. Es darf auf keinen Fall zugelassen werden, dass die herrschende Klasse in Deutschland die rechteste Regierung seit dem Sturz des Naziregimes an die Macht bringt, um neue Kriege und soziale Angriffe vorzubereiten.