Die Ausstellung „Radical Russia: Art, Culture and Revolution“ im Sainsbury Centre for Visual Arts an der East Anglia-Universität in Norwich (Großbritannien) ist noch bis zum 11. Februar 2018 zu sehen.
Sie ist vielleicht nicht riesig. Verglichen mit mehreren groß angelegten Veranstaltungen, die in London und weltweit zur Hundertjahrfeier der Russischen Oktoberrevolution zu sehen sind, ist diese Ausstellung eher bescheiden. Das sollte jedoch kein Grund sein, nicht hinzugehen.
Die Kuratoren, Peter Waldron, Professor für Russische Geschichte, und seine Assistenten Jamie Freeman und Ryan Hale, haben ihre Objekte sorgfältig ausgewählt. Sie decken verschiedene Bereiche der Avantgardekunst ab und bieten eine überzeugende Darstellung der historischen Entwicklung sowohl vor als auch nach der bolschewistischen Revolution.
Als Zugabe gibt es im Sainsbury Centre die parallel veranstaltete Ausstellung „Royal Fabergé”, die den opulenten Reichtum und die Exklusivität des zaristischen Russlands präsentiert. Sie macht den Kontrast zu den umfassenden demokratischen Hoffnungen deutlich, welche die Revolution weckte.
Anders als viele Ausstellungen in diesem Jahr behandelt „Radical Russia“ die Oktoberrevolution nicht als historischen Irrweg oder Ablenkung von der natürlichen Entwicklung Russlands. Und sie stellt die Künstler auch nicht als nützliche Tölpel im Dienste der bolschewistischen Propagandamaschine dar.
Methodisch dokumentiert sie den Zerfall des 300-jährigen Romanow-Regimes. Dieses war mit einer rapiden Industrialisierung und Urbanisierung konfrontiert, und mit einer Gesellschaft, „die sich auf allen Ebenen (…) in einem Schmelzzustand“ befand. Hinzu kamen die immensen Auswirkungen des Ersten Weltkriegs.
In St. Petersburg, der Hauptstadt des Zarenreichs, die rasch zum bolschewistischen Zentrum werden sollte, „konzentrierten sich die Spannungen des ganzen Reichs in verkapselter Form“.
Der Ausstellungskatalog erläutert den Versuch der Romanows, ihre Politik auf religiöse Orthodoxie, Autokratie und den Nationalismus des „Heiligen Russlands“ zu stützen. Bis zur Revolution von 1905 „lehnten sie eine Beteiligung der Bevölkerung an der nationalen Regierung so lange ab, bis die Gefahr eines wirtschaftlichen und politischen Zusammenbruchs die Regierung zu Zugeständnissen zwang“. Und weiter: „Nikolaus II. und seine Berater begegneten dem neuen Parlament mit Geringschätzung und versuchten, dessen Macht mit so vielen Restriktionen wie möglich einzuschränken.“
„Als 1914 der Krieg ausbrach, fühlten sich fast alle Teile der russischen Gesellschaft von der Autokratie betrogen, insbesondere die Bauernschaft und die anschwellende Zahl der städtischen Arbeiter. Die Bauern nahmen es mit wachsender Verärgerung auf, dass sie vom Adel und der regierenden Elite ausgebeutet wurden. Reformen hatten nur geringe oder gar keine Auswirkungen auf ihr tägliches Leben. Auch wenn diese sozialen Probleme durch den Krieg noch weiter verschärft wurden, so war eine Revolution bereits vor 1914 unvermeidlich.“
Zur Kunst erläutert der Katalog: „Weil der zaristische Obrigkeitsstaat mit seiner scharfen Zensur den Russen offene Diskussionen über gesellschaftliche und politische Fragen erschwerte, nutzten die Maler die Kunst für fundierte Debatten über die Tagesverhältnisse.“ Die meisten Künstler, wiewohl sie sich als Boten einer internationalen Kunstbewegung betrachteten, drückten ihre „Rebellion“ innerhalb der Vorstellung russischer Religiosität und des russischen Nationalismus aus. Darunter waren viele Avantgardekünstler, die später die Revolution unterstützen sollten. Offenbar hatten sich die Avantgardekunst und die Künstler in einer Sackgasse festgefahren, aus der nur die Revolution einen Ausweg bot.
Beispielsweise springt der religiöse Gehalt des Gemäldes „Die Evangelisten“(1911) von Natalija Gontscharowa deutlich ins Auge. Nichtsdestoweniger erklärte der Heilige Synod dieses Gemälde sowie 22 weitere einer St. Petersburger Ausstellung von 1914 für blasphemisch, und die Kirche bemühte sich, diese Bilder durch ein Verbot aus der Ausstellung auszuschließen. Nach der Revolution wurde Gontscharowa zu einer Vorreiterin der neuen Kunst. Das illustriert das einfache, pulsierende Porträt des Ballett-Impresarios Sergej Djagilew (1919), das auch in Norwich zu sehen ist.
Ein weiteres Beispiel ist Kasimir Malewitsch mit seinem berühmten suprematistischen „Schwarzen Quadrat“ (1915). (Als die Suprematisten es 1915 in Petrograd in der Ausstellung „0.10“ dem Publikum zeigten, hing es hoch in einer Ecke, wo traditionell eine religiöse Ikone befestigt war.) Zur gleichen Zeit produzierte Malewitsch auch patriotische Postkarten der Kriegspropaganda, wie zum Beispiel: „Ein Österreicher ging nach Radziwill und landete auf der Heugabel einer Bäuerin“.
Vor der Revolution waren die Künstler von den Launen wohlhabender Mäzene abhängig, wie die Ausstellung deutlich macht. Der Eisenbahnmagnat Sawwa Mamontow förderte das Werk Michail Wrubels, eines Künstlers, der durch seine Bilder gefolterter Dämonen bekannt wurde. Wrubel wies „die Idee, dass Kunst einen gesellschaftlichen Zweck haben solle, entschieden zurück“.
Der erfolgreiche Moskauer Handelsunternehmer Nikolai Rjabuschinski unterstützte die symbolistische Künstlergruppe Blaue Rose, „deren Mitglieder vielfach Kunst als Flucht aus der Realität betrachteten und statt ihrer ein Ideal, manchmal eine fantastische Welt, abbilden wollten“.
„Die Oktoberrevolution formte die russische Kultur fundamental um“, stellt der Katalog fest. „Nach über drei Jahren Krieg entfesselte die Oktoberrevolution eine Welle der Begeisterung für eine neue Ordnung, und zahlreiche Künstler scharten sich um die Sache der Bolschewiki, selbst wenn sie nur über begrenzte Erfahrungen in politischer Tätigkeit verfügten.“
Die „subversiven und manchmal skandalumwitterten Männer und Frauen“, die einen einzigartig russischen Zugang zur Kunst entwickelt hatten, fanden sich ganz unerwartet in einer Position wieder, wo sie „im gesamten neuen bolschewistischen Staat für ihre radikalen Ideen werben konnten“.
Auf die Revolution folgte ein Jahrzehnt außerordentlicher Kreativität und Energie für die Künstler. „Sie profitierten von der Begeisterung der Bolschewiki, die Revolution in alle Lebensbereiche in Russland auszudehnen. Die neue soziale und kulturelle Freiheit der 1920er Jahre im sowjetischen Staat bedeutete, dass die Avantgarde experimentieren und ein Massenpublikum für ihr Werk gewinnen konnte.“
Diese Analyse sei all jenen ins Buch geschrieben, die behaupten, die Bolschewiki hätten wenig Unterstützung von den Künstlern erfahren, und sie hätten stattdessen versucht, die Avantgardebewegung zu zerstören.
So wurde im Jahr 1918 der Konstruktivist Wladimir Tatlin zum Vorsitzenden des Moskauer Volkskommissariats für Bildung (Narkompros) berufen. Malewitsch teilte diese Aufgabe mit ihm. Tatlin ist vor allem für sein Projekt eines „Monuments für die Dritte Internationale“ bekannt, dessen Modell vor dem Sainsbury Centre aufgestellt ist. Marc Chagall gründete in Witebsk (im heutigen Weißrussland) eine Volksschule für Kunst, wo er die Aufmerksamkeit von Persönlichkeiten wie El Lissitzky auf sich zog. El Lissitzkys beeindruckende pädagogische „Vier Grundrechenarten“ sind in Norwich ebenfalls ausgestellt.
In der Zeit von 1918 bis 1921, als der Bürgerkrieg tobte, eröffnete Narkompros 36 neue Museen. Diese waren von Künstlern bevölkerte Bildungseinrichtungen, in denen intensive Diskussionen darüber geführt wurden, welche Richtung eingeschlagen und welche neue Bildsprache entwickelt werden solle. Viele dieser Künstler beteiligten sich später an den Entwürfen für die schnellen Hausbauprogramme und für die Produktion von Alltagsgütern.
Sergei Tschechonin beispielsweise, der am Entwurf des Hammer-und-Sichel-Symbols beteiligt gewesen war, wurde künstlerischer Leiter der Staatlichen Porzellanmanufaktur und stellte hochtalentierte Zeichner ein, unter ihnen Natalja Danko. Ihre Schachfiguren „Rote und Weiße“ sind in Norwich ausgestellt. Die sechzehn roten Spielfiguren bestehen aus acht Bäuerinnen (den Bauern) und Industriearbeitern sowie Soldaten, die die übrigen acht roten Spielfiguren darstellen. Ihnen stehen ebenso viele weiße Figuren gegenüber, wobei die acht weißen Bauern in schwarzen Ketten liegen und der weiße König skeletthafte Züge trägt.
Dankos Schwester bemerkte: “Jeder, der sich an das Petrograd dieser Jahre erinnert, an die schroffe Einsamkeit seiner Straßen und die verlassenen Häuser, die in Dunkelheit und Kälte versanken, und deren Fenster noch die Spuren der jüngsten Kugeleinschüsse trugen, der wird sich auch an die Porzellanschaufenster erinnern. (…) Passanten hielten vor den Schaufenstern inne und betrachteten das Porzellan lange. Dieses Porzellan war eine Botschaft aus einer wunderschönen Zukunft.“
Es ist der Ausstellung „Radical Russia“ hoch anzurechnen, dass sie sich nicht des sonst allgemein vorherrschenden Zerrbilds bedient, laut welchem „der Leninismus unvermeidlich zum Stalinismus führte“. Sie zeigt die materiellen Ursachen auf, die die Degeneration der Revolution herbeiführten, sowie die erbitterten Auseinandersetzungen über den „Sozialismus in einem Lande“, die Zwangskollektivierung und die Zwangsindustrialisierung, welche gemeinsam mit Stalins Aufstieg zur Macht stattfanden. Anders als bei anderen Ausstellungen werden Trotzki und die Linke Opposition im Zusammenhang mit dem Kampf gegen den Stalinismus erwähnt.
Mit dem Aufstieg des Stalinismus wurden Kunstschulen geschlossen, Ausstellungen abgesagt und Feierlichkeiten angesetzt, denen „die Neuheit und Spontanität der ersten Jahre der bolschewistischen Macht abhandengekommen waren“.
Stattdessen wurde der Sozialistische Realismus zwangsverordnet. Das Ergebnis war, dass Künstler emigrierten, Selbstmord begingen, exekutiert wurden oder in Vergessenheit gerieten. Der Katalog schließt mit einer ergreifenden Fotographie von Malewitschs Begräbnisprozession im Jahr 1935. Seinem Sarg folgen wenige Trauernde. Er hat eine suprematische Form und wird in einem Lieferwagen gefahren, dessen Kühlerhaube eine Kopie des „Schwarzen Quadrats“ ziert.