Manche der über 230 Filme der Berliner Filmfestspiele, die vor wenigen Wochen endeten, sind wahre Entdeckungen, werden aber von Mainstream-Medien kaum beachtet und finden mangels Finanzen und Vermarktung nicht den Weg in die Kinos oder Streaming-Dienste.
Dazu gehört der ägyptische Debütfilm Al mosta’mera (The Settlement/Die Entschädigung) von Mohamed Rashad, der in der neuen Berlinale-Sektion „Perspektives“ gezeigt und in seinem Untertitel als „Arbeitsplatzthriller“ bezeichnet wurde.
Die Protagonisten des Films sind Fabrikarbeiter eines metallverarbeitenden Unternehmens in der Millionenstadt Alexandria, der Geburtsstadt des Regisseurs. Den dramatischen Plot hat Rashad, der auch das Drehbuch schrieb, einem wirklichen Vorfall nachempfunden. Neben wenigen Laiendarstellern spielen die Arbeiter der Fabrikbelegschaft mit.
Nach dem Tod eines Familienvaters durch einen vermutlichen Arbeitsunfall bietet die Geschäftsleitung der körperlich behinderten, arbeitsunfähigen Mutter einen Deal an: Sie will ihre Söhne einstellen, um den Unterhalt der Familie abzusichern. Im Gegenzug sollen keine Ermittlungen zur Unfallursache eingeleitet werden. Hossam, 23 Jahre alt, ist arbeitslos und wegen Drogendelikten vorbestraft. Der andere, Maro, ist gerade mal 12 Jahre alt. Er will seinen Bruder nicht loslassen und geht mit ihm, unter dessen lautstarkem Protest, in die Fabrik, wo er Kinderarbeit leistet, Blechteile aufräumt, Botendienste ausführt.
Schauplatz des Geschehens ist eine reale Werkshalle. Die Kamera lässt die Zuschauer in einem Bus voll Arbeiter mitfahren, der morgens über ein staubiges Gelände holpert. Man sieht dicht an dicht Gesichter, gezeichnet von harter Arbeit, die verwundert und zugleich hilfsbereit reagieren, als Hossam mit seinem kleinen Bruder einsteigt, einen Sitzplatz sucht. In der Fabrik empfangen sie schmutzige Luft, laute Maschinen, sprühende Funken, dazwischen einzelne Arbeiter ohne Schutzkleidung und Sicherheitshelme.
Auch im Pausenraum ist es eng, Arbeiter tauschen derbe Sprüche und Geschichten aus, während sie essen. Ein Arbeiter sorgt für Unterhaltung, indem er über den toten Vater der beiden Jungen als orthodoxen Muslim witzelt, der beim Arbeiten auf Allahs Wille gepocht habe. Er erwähnt dabei ein Gerücht, das der Sicherheitschef verbreitet habe, vor dem Tod des Vaters habe es einen Kampf mit dem alten Mechaniker-Kollegen Mostafa gegeben. „Es war ein Unfall“, beteuert Mostafa empört, unterstützt von seinen Kollegen.
Die beiden Neuen werden misstrauisch beäugt. Werden sie deshalb eingestellt, weil sie den Arbeitern eine Mitschuld anhängen sollen? Beim Einstellungsgespräch von Hossam hatte die Geschäftsleitung ausgerechnet Mostafa beauftragt, er solle den jungen Arbeiter anlernen.
Hossam stellt sich auf die Arbeit an den Maschinen ein, bricht die Drogenkontakte ab und versucht, so gut es geht, seinen kleinen Bruder zu schützen. Berührend beginnt er wieder einen liebevollen Kontakt zu seiner kranken Mutter, der er in den vergangenen Jahren so viel Sorge bereitet hatte, und streicht die Heilsalbe über ihr angeschwollenes Bein.
Über sein Handy entwickelt sich ein Kontakt zu einer jungen Arbeiterin, der es in einer Pause gelingt, ihn sogar zu treffen. Wenige Worte genügen, um die Verbindung zu Hossam herzustellen: Seit der Mittelschule arbeite ich hier, antwortet sie auf seine Frage, meine Mutter ist in diesem Betrieb gestorben, als ich zwei Jahre alt war.
Schnell zeigt sich die katastrophale Sicherheitslage, und der Arbeiter, der angeblich Mitschuld am Tod ihres Vaters haben soll, erweist sich als besonders umsichtiger und hilfsbereiter Kollege für die beiden Jungen.
Doch das Drama nimmt seinen Lauf. Der Betriebsleiter ruft eines Tages Hossam zu sich und fordert, er solle ihm Drogen beschaffen. Dessen anfängliche Weigerung beantwortet er mit der Drohung, dass er seinen Arbeitsplatz gefährde. Hossam stellt seine alten Drogenkontakte wieder her. Auf der Fahrt zur Übergabe gibt der Geschäftsführer mit blasierter Miene zu, dass der Tod seines Vaters wohl ein Unfall war. Aber „solche Probleme gibt es hier doch in jeder Fabrik“, ergänzt er, als sei es nichts, über das man viele Worte verlieren müsste.
Kurz darauf will der Chef erneut eine große Lieferung des Stoffs. Hossams früherer Drogenkumpel warnt ihn auf dem abgelegenen, düsteren Platz bei der Übergabe: Diese große Menge in so kurzer Zeit kann nur bedeuten, dass der Betriebsleiter den Stoff bei ihnen billig einkauft und ihn überteuert im Internet anbietet.
Der eigentliche und größere Drogenkriminelle ist somit der Chef! Die Kamera wechselt zum verglasten Betriebsbüro mitten in der Halle. Man sieht den Geschäftsführer mit dem Sicherheitschef beim Surfen am Bildschirm, sich auf die Schenkel klopfend, in Gelächter ausbrechend.
Eine andere Art Begegnung findet draußen vor der Halle statt. Maro schreit seinen großen Bruder an: Warum holst du nicht den Sicherheitschef hierher und wir machen ihn fertig!
Und weiter: „Du bist ein Feigling. Früher hast du nie etwas für uns gemacht, und jetzt machst du dich zum Dackel für die da oben.“ Hossam zuckt zusammen, will seinen Bruder erst verprügeln, aber hält inne. „Du kämpfst nicht zurück“, fügt dieser wütend hinzu.
Kurz darauf ein neuer Unfall – der Sicherheitschef liegt vor dem verglasten Büro auf dem Boden, ein Blechblock auf seinem Kopf, tot. Und man sieht Hossam auf dem Platz vor der Fabrik wegrennen. Mostafa soll ihn mit anderen Kollegen einfangen, kommt aber ergebnislos zurück und meldet, wo er ihn verloren hat. Ein leises Lächeln huscht über sein Gesicht. Am Ende finden sich Hossam und sein kleiner Bruder in einer kleinen Hütte wieder, wo Mostafa auf sie wartet. Mithilfe eines alten Drogenkontakts ermöglicht er Hossam die Flucht.
Zu Hause wartet die Mutter, doch nur Maro kommt. „Wo ist dein Bruder?“ Maro antwortet nicht, geht ins Schlafzimmer, greift im Schrank hinter die Kleidung von Hossam und zieht dessen Springmesser heraus. Zuletzt liegt er auf dem Bett, mit versteinerter Miene an die Decke blickend und das Messer umschlungen.
Jeder spürt, hier reift der Plan für einen kommenden Kampf.
Al mosta’mera ist ein packender Film, ohne nostalgische Arbeiterromantik oder proletarisches Heldenpathos, und auch ohne den moralisch gefärbten Tonfall kleinbürgerlicher Intellektueller, den manche jüngere sozialkritische Filme anschlagen. Rashads nüchtern-realistisches Porträt aus einem heutigen Industriebetrieb ist von Achtung vor der Arbeiterklasse geprägt und hebt etwas Neues ins Bewusstsein: eine zunehmende Entschlossenheit vor allem unter jüngeren Arbeitern, gegen die Kriminalität der herrschenden Klasse zurückzuschlagen.
Es lässt die Erinnerung an die ägyptischen revolutionären Kämpfe im Jahre 2011 wach werden, die den Langzeit-Diktator Hosni Mubarak zu Fall brachten. Daran hatten die Industriearbeiter, auch aus Alexandria, entscheidenden Anteil.