Die polnische Regierung fordert von Deutschland Reparationen für die Kriegsverbrechen im Zweiten Weltkrieg. Diese Forderung ist nicht neu, wurde aber noch nie so nachdrücklich erhoben.
Der Vorsitzende der rechtsnationalen Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS), Jaroslaw Kaczynski, hatte die Reparationsdebatte Ende Juli neu angestoßen. Seither hat Ministerpräsidentin Beata Szydlo mehrfach entsprechende Forderungen gestellt. So sagte sie am 7. September dem Radiosender „RMF FM“: „Polen hat das Recht auf Reparationen, und der polnische Staat hat das Recht, sie einzufordern.“ Der polnische Außenminister Witold Waszczykowski hat die polnischen Forderungen auf 840 Milliarden Euro beziffert.
Am Montag veröffentlichte der wissenschaftliche Dienst des polnischen Parlaments ein 40-seitiges Gutachten, das die polnischen Ansprüche rechtfertigt. Danach ist eine offizielle Erklärung, mit der die polnische Regierung 1953 auf deutsche Reparationsleistungen verzichtet hatte, nicht rechtsgültig, weil sie auf Druck der Sowjetunion zustande kam und nur für die DDR galt, nicht aber für ganz Deutschland.
Die deutsche Regierung lehnt die polnischen Forderungen kategorisch ab. Regierungssprecher Steffen Seibert erklärte am Freitag, Polen habe 1953 „verbindlich und mit Wirkung für ganz Deutschland“ auf weitere Reparationszahlungen verzichtet und dies in späteren Jahren mehrfach bestätigt. „Damit ist aus unserer Sicht diese Frage abschließend rechtlich wie politisch geregelt.“
Drohungen der F.A.Z.
Kommentare in den deutschen Medien weisen die polnischen Forderungen ebenfalls zurück. In besonders aggressivem Ton tun dies die Frankfurter Allgemeine Zeitung (F.A.Z.) und ihre Sonntagsausgabe, die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung.
Ein F.A.Z.-Kommentar betont, die deutsche Regierung müsse sich gegen die Forderungen aus Warschau zur Wehr setzen. „Täte sie es nicht, öffnete sie Tür und Tor für ähnliche
Forderungen aus anderen Ländern – Polen war ja nicht das einzige Opfer der nationalsozialistischen Aggression.“ Ein Videokommentar der F.A.Z. trägt den Titel: „Polen wird auf Granit beißen.“
Noch weiter geht ein Artikel des Historikers Gregor Schöllgen, der am 10. September unter dem Titel „Gefährliche Diskussion“ in der F.A.S. erschien. Er droht der Warschauer Regierung damit, die polnische Westgrenze in Frage zu stellen, falls sie auf ihren Reparationsforderungen beharrt: „Wer die Reparationsfrage zum Thema macht, thematisiert zwangsläufig auch die polnische Westgrenze.“
Schöllgen stellt die ungeheuren Verbrechen nicht in Frage, die das Nazi-Regime in Polen begangen hat. „Kaum ein zweites Land hat unter dem deutschen Eroberungs-, Beute- und Vernichtungsfeldzug derart gelitten wie Polen“, schreibt er. „Mehr als fünfeinhalb Millionen Polen überlebten ihn und die folgende Besatzungsherrschaft nicht.“
Doch er behauptet, die polnischen Entschädigungsansprüche seien mit der Verschiebung der polnischen Grenze nach Westen befriedigt worden: „Mit der Inbesitznahme der vormals deutschen Gebiete wurde zugleich ein erheblicher Anteil der Reparationsansprüche abgedeckt, welche die Volksrepublik Polen gegenüber Deutschland erhob.“
Auch der offizielle Reparationsverzicht der Sowjetunion und Polens von 1953 habe der Tatsache Rechnung getragen, „dass mit der Abtretung der deutschen Ostgebiete einschließlich aller unbeweglichen wie beweglichen Habe enorme Vermögenswerte an Polen gefallen waren“, erklärt Schöllgen.
Diese Interpretation der Geschichte dient ihm dazu, mit der Rückforderung der ehemals deutschen Gebiete zu drohen, die nach dem Zweiten Weltkrieg an Polen gefallen sind. Seit die Bundesrepublik 1970 im Rahmen der Ostpolitik Willy Brandts die Oder-Neiße-Linie als polnische Westgrenze anerkannt hatte, waren nur noch Neonazis, Vertriebenenverbände und rechte Elemente innerhalb der CDU/CSU für die Rückgabe der „verlorenen Ostgebiete“ eingetreten.
Schöllgens Sprache ist dabei äußerst aggressiv. „Wer heute gegenüber Deutschland polnische Reparationsforderungen erhebt, muss wissen, dass er mit dem Feuer spielen könnte“, schreibt er und führt ein Zitat des deutschen Außenministers Walter Scheel (FDP) aus dem Jahr 1972 an: „Im Rahmen einer solchen Diskussion nämlich käme man nicht an der Tatsache der Besitzergreifung ehemals deutscher Gebiete vorbei. Man müsste dann auch eingetretene Personenschäden [gemeint sind während der Flucht aus Polen umgekommene Deutsche] sowie materielle Schäden berücksichtigen.“
„Wer die polnische Westgrenze thematisiert, macht zwangsläufig auch die polnische Ostgrenze zum Thema“, fährt Schöllgen fort, „und wer die polnische Ostgrenze zum Thema macht, thematisiert zwangsläufig auch das Verhältnis Polens zur Ukraine und Weißrussland.“
Das ist eine kaum verhüllter Versuch, unter Polens östlichen Nachbarn Ängste vor polnischen Gebietsforderungen zu schüren. Polen hatte nach dem Krieg Teile seines ehemaligen Staatsgebiets, die heute zu Weißrussland und zur Ukraine gehören, an die Sowjetunion abtreten müssen.
Juristisch berechtigt
Vom juristischen Standpunkt ist die polnische Forderung nicht unberechtigt. So erklärte Peter Loew, der stellvertretende Direktor des Deutschen Polen-Instituts, dem Magazin Focus: „Rein rechtlich hat Polen durchaus Gründe, Reparationen zu fordern.“
So bezog sich der polnische Reparationsverzicht von 1953, der auf Initiative Moskaus zustande kam, de facto tatsächlich nur auf die DDR, da Polen seit der endgültigen Spaltung Deutschlands 1949 gar keine Möglichkeit mehr hatte, Reparationsleistungen aus der Bundesrepublik zu beziehen. Mit dem damaligen Reparationsverzicht reagierte Moskau auf den Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953 in der DDR. Das nach dem Tod Stalins durch innere Kämpfe geschwächt Kremlregime versuchte so, die ökonomische Krise in der DDR zu entschärfen, weil es ein Übergreifen des Aufstands auf Polen und die Sowjetunion fürchtete.
Der Verzicht von 1953 stand zudem – wie alle Verträge und Vereinbarungen, die bis 1990 zwischen Westdeutschland und osteuropäischen Staaten geschlossen wurden – unter dem Vorbehalt, dass erst ein Friedensvertrag die Reparationsfrage endgültig klären werde. Als solchen interpretiert die deutsche Regierung heute den Zwei-plus-vier-Vertrag, der 1990 die deutsche Einheit besiegelt und die volle deutsche Souveränität wieder hergestellt hatte. In diesem Vertrag hatte Deutschland auch noch einmal ausdrücklich die Unverletzlichkeit der Oder-Neiße-Grenze bestätigt.
Polen war allerdings nicht Vertragspartei. Auch die Bezeichnung „Friedensvertrag“ wurde damals bewusst vermieden, um keine neue Reparationsdebatte zu entfachen. Trotzdem behauptet die deutsche Regierung heute, Polen habe auf alle zukünftigen Reparationsansprüche verzichtet, weil es sie damals nicht geltend gemacht habe.
Finanziell kam Deutschland dank der ungeklärten Reparationsfrage äußerst günstig weg. Insgesamt zahlte die Bundesrepublik seit 1945 weltweit lediglich 73,4 Milliarden Euro an Widergutmachungsleistungen, wie Schöllgen ausrechnet, der dabei Zahlungen an Israel und jüdische Organisationen, an überlebende Opfer in Osteuropa, an Zwangsarbeiter, und was er sonst noch finden konnte, zusammenrechnet. An Polen ging davon nur ein geringer Prozentteil.
Eine reaktionäre Forderung
Doch auch wenn die polnische Reparationsforderung juristisch eine Berechtigung hat, ist sie politisch reaktionär. Der PiS-Regierung geht es nicht um Wiedergutmachung für die Opfer des Nazi-Regimes. Sie fordert keine Entschädigung für noch lebende Opfer, die unter ihrer Herrschaft eine kärgliche Existenz fristen, sondern Überweisungen an die polnische Staatskasse. Vor allem aber benutzt sie die Reparationsfrage, um rechte und nationalistische Stimmungen zu schüren.
Die PiS ist aus jenen Elementen in der Führung der Solidarnosc-Bewegung hervorgegangen, die den Aufstand der polnischen Arbeiter gegen das stalinistische Regime ins Fahrwasser des katholischen Klerus, des polnischen Nationalismus und der kapitalistischen Restauration lenkten.
Die Einführung des Kapitalismus hatte dann für die polnische Arbeiterklasse katastrophale Folgen. Die Werften und Fabriken, in denen Solidarnosc über eine Massenbasis verfügte, sind größtenteils geschlossen. Das Land dient westlichen Konzernen als billige Werkbank. Mehr als drei Millionen Polen haben das Land verlassen und arbeiten zu geringen Löhnen im Ausland. Die Armut ist ein Vierteljahrhundert nach der kapitalistischen Restauration verheerend.
Unfähig, die soziale Krise zu lindern, mobilisiert die PiS kleinbürgerliche und verarmte Schichten in zurückgebliebenen ländlichen Gebieten und entwickelt diktatorische Herrschaftsformen, um jede Opposition zu unterdrücken. Diese ist erheblich. Laut einer jüngeren Umfrage bezeichnen sich 82 Prozent der 19- bis 29-Jährigen und 52 Prozent aller Wähler als Gegner der Regierung. Von ihnen unterstützt nur eine Minderheit die bürgerliche Opposition, die ein wirtschaftsliberales Programm vertritt und die Europäische Union verteidigt.
Vorbild dient der PiS Marschall Pilsudski, der von 1926 bis 1935 als Diktator über Polen herrschte. Leo Trotzki bezeichnete das Pilsudskiregime damals als „antiparlamentarische und vor allem antiproletarische Konterrevolution, mit deren Hilfe die niedergehende Bourgeoisie nicht ohne Erfolg versucht, ihre Stellung zu verteidigen“. Ähnlich wie Mussolini in Italien mobilisierte Pilsudski kleinbürgerliche Schichten, um die Arbeiterklasse in Schach zu halten.
Auch außenpolitisch gerät die PiS-Regierung zunehmend unter Druck. Inzwischen hat die Europäische Kommission wegen der mangelnden Unabhängigkeit der Justiz ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen eingeleitet. Wie Pilsudski hysterisch antirussisch, lehnt sich die PiS-Regierung eng an die USA an und lebt in ständiger Furcht davor, dass die USA sie im Stich lassen oder Deutschland sich auf ihre Kosten mit Russland verbünden könnte. Mit den Reparationsforderungen reagiert sie auch auf diesen außenpolitischen Druck.
Wachsende Kriegsgefahr
Generell sind staatliche Reparationsforderungen kein taugliches Mittel, um vergangenes Unrecht gut zu machen. Sie beseitigen die Ursachen von Faschismus und Krieg nicht, sondern reproduzieren sie. Sie sind eine Quelle ständiger Konflikte, verschärfen internationale
Spannungen und schaffen einen fruchtbaren Nährboden für chauvinistische Propaganda. Sie vergiften das politische Klima und schaffen internationale Präzedenzfälle, die eine Flut von weiteren Forderungen nach sich ziehen. Ein warnendes Beispiel ist der Versailler Vertrag von 1919, der Deutschland zu hohen Reparationen verpflichtete und maßgeblich zum Anwachsen der Nazis und zum Zweiten Weltkrieg beitrug.
Dass Warschau und Berlin sich 72 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gegenseitig mit Forderungen und Drohungen überhäufen, zeigt, wie angespannt und vergiftet das Klima in Europa bereits ist. Die Spannungen und Konflikte, die Europa in ein Schlachtfeld verwandelt hatten, brechen wieder auf.
Berlin, das gerne mit erhobenem Zeigefinger auf das reaktionäre Regime in Warschau zeigt, steht diesem dabei in nichts nach. Im Bestreben, ganz Europa seinen Interessen unterzuordnen, tritt es mit wachsender Arroganz auf. Wie wir in früheren Artikeln zu diesem Thema erklärt haben, kann Deutschland nicht zu Großmachtpolitik und Militarismus zurückkehren, ohne den gesamten, reaktionären ideologischen Ballast der Vergangenheit aus der Versenkung zu holen. Dass jetzt ein renommierter Zeithistoriker in der F.A.S. die polnische Westgrenze infrage stellt, zeigt, wie weit das politische, mediale und akademische Establishment bereits nach rechts gerückt ist.
Die F.A.Z. und ihre Sonntagsausgabe spielen dabei seit langem eine führende Rolle. Im Historikerstreit der 1980er Jahre hatten sie Ernst Nolte als Plattform gedient, dem bekanntesten Nazi-Apologeten unter den deutschen Historikern. In jüngerer Zeit haben sie den rechtsextremen Berliner Geschichtsprofessor Jörg Baberowski verteidigt, der Nolte unterstützt und Hitler bescheinigt, er sei „nicht grausam“ gewesen. Sie haben mehrere hysterische Angriffe auf die Sozialistische Gleichheitspartei und ihre Jugendorganisation IYSSE veröffentlicht, weil sie Baberowski entlarvt und öffentlich angegriffen hatten.
Vor zwei Jahren schrieben wir in einem Artikel über griechische Reparationsforderungen an Deutschland: „Die Wiedergutmachung vergangenen Unrechts ist untrennbar mit einer sozialistischen Perspektive verbunden. Sie erfordert den Zusammenschluss der europäischen Arbeiterklasse auf der Grundlage eines revolutionären Programms, das die Abschaffung der Europäischen Union, die Errichtung von Arbeiterregierungen, die Vergesellschaftung der großen Konzerne und Banken und die Reorganisation der Gesellschaft im Rahmen Vereinigter Sozialistischer Staaten von Europa zum Ziel hat.“ Das gilt ebenso in Bezug auf Polen.