Am 25. Juli bestellte der italienische Innenminister Marco Minniti (PD) die Vertreter von neun Nicht-Regierungs-Organisationen (NGO), die sich an der Seenotrettung von Flüchtlingen beteiligen, ins Innenministerium. Sie sollen einen neuen „Verhaltenskodex“ unterzeichnen, an den sie sich künftig bei ihrer Tätigkeit im Mittelmeer zu halten haben.
Dieser völlig überflüssige Kodex verstößt „gegen geltendes Recht“, wie die WSWS bereits vor zwei Wochen schrieb: „Auf hoher See gilt das internationale Seerecht, das die Aufnahme von in Seenot geratenen Menschen zwingend vorschreibt … [G]enau das soll den NGOs und ihren Rettungsbooten mit dem ‚Verhaltenskodex‘ verboten werden.“
Bisher haben sich die NGOs geweigert, den Kodex zu unterschreiben. Tun sie es nicht, droht Italien, die Häfen für ihre Schiffe zu schließen. Es handelt sich um den jüngsten erbärmlichen Versuch Italiens, die freiwilligen Seenotretter an die Kandare zu nehmen, um die Zahl der Migranten aus Afrika zu senken. Man will die NGOs knebeln und aus dem Mittelmeer herausdrängen – oder aus ihnen allenfalls zahme Hilfsorgane von Frontex und der italienischen Küstenwache machen.
Der Fluchtweg übers Mittelmeer ist für Flüchtlinge hochgefährlich. In diesem Jahr wurden bis zum 23. Juli nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) schon 2361 Tote oder Vermisste gezählt, während 95.000 Migranten Italien auf dem Seeweg erreichten. Unter den Toten sind schätzungsweise 300 Kinder.
Es ist klar, dass ohne die NGOs die Zahl der Ertrunkenen und Vermissten noch wesentlich höher ausfallen würde. Mittlerweile verdanken über vierzig Prozent der geretteten Flüchtlinge ihr Leben dem freiwilligen Einsatz dieser Organisationen, die Sea-Watch, Sea-Eye, MOAS, Jugend Rettet, Save the Children, Ärzte ohne Grenzen, SOS Méditerranée, Proactive Open Arms oder ähnlich heißen.
„Wir haben gerade einmal Mitte Juli“, erklärte Timon Marszalek, Geschäftsführer von SOS Méditerranée Deutschland, „und wir haben schon so viele Menschen wie im gesamten letzten Jahr im Mittelmeer gerettet. Angesichts des Versagens der Europäischen Union ist das Eingreifen von zivilen Organisationen wie uns unabdingbar, um den Tod tausender Menschen zu verhindern.“
Marszalek verwies auf das jüngste Beispiel, als während des Rettungseinsatzes vom 11. Juli ein kleiner Junge zur Welt kam. Mutter und Kind waren noch durch die Nabelschnur verbunden, als das Team der „Aquarius“ sie an Bord holte. Das war für dieses Schiff allein schon die fünfte Geburt auf See. „Was wäre geschehen, wenn unser Team nicht rechtzeitig vor Ort gewesen wäre?“ Solche Beispiele zeigen auch, wie verzweifelt die Menschen sein müssen, die sich aufs Meer begeben.
Der „Verhaltenskodex“, den die NGOs nun nach dem Willen der Regierung Gentiloni unterzeichnen sollen, kommt einer groben und bewussten Behinderung ihrer Arbeit gleich. Er legt ihnen harte Beschränkungen auf. Sie müssen beispielsweise künftig die Flüchtlinge immer selbst bis zum Festland bringen und dürfen sie nicht mehr an größere Schiffe der Küstenwache, an Handelsschiffe oder an die Marine abgeben. Das zwingt die meist kleineren Schiffe zu langen Fahrten und zur Abwesenheit von den gefährlichsten Regionen, wo ihre Arbeit am nötigsten wäre.
Dazu sagte Ruben Neugebauer von Sea-Watch dem Deutschlandfunk: „Was man damit erreichen will, ist offensichtlich: Man versucht, die Schiffe aus dem Einsatzgebiet fernzuhalten … Wir retten – das ist eine Selbstverständlichkeit – nach dem internationalen Seerecht, und deswegen stören wir, weil wir damit das Konzept des Sterbenlassens an Europas Grenzen untergraben.“
Den NGOs wird außerdem verboten, in die libyschen Hoheitsgewässer einzudringen, auch wenn Flüchtlinge sich dort in Lebensgefahr befinden. Sie sollen von weitem zuschauen, wie die Menschen ertrinken, ohne einzugreifen. Auch müssen die NGOs künftig akzeptieren, dass italienische Polizisten auf ihren Schiffen mitfahren, um unter den Flüchtlingen Schleuser aufzuspüren. Das kann nur dazu führen, das Klima zwischen den Rettungsteams und den Flüchtlingen zu verschlechtern.
Der „Verhaltenskodex“ ist nicht allein auf dem Mist Italiens gewachsen. Er wurde Anfang Juli auf dem EU-Innenministertreffen im estnischen Tallinn beschlossen. Der deutsche Innenminister Thomas de Maizière wiederholte dort die Verleumdung, die NGOs würden mit Menschenschmugglern und Schleppern zusammenarbeiten.
Auch mehrere deutsche Zeitungen unterstellen den NGOs, sie seien mit den Schleusern im Bunde. Die FAZ behauptet, die NGOs seien „unfreiwillig zu einem wichtigen Element in den Strategien der Schlepper geworden“.
Die Berliner Zeitung hetzt, es gehe den NGOs nicht um Seenotrettung, sondern „um Fluchthilfe und den Transfer von Auswanderern“. Die Zeitung bezieht sich auf Sea-Watch aus Berlin. Diese Organisation, die den „Verhaltenskodex“ ebenfalls nicht unterschrieben hat, argumentiert zu Recht, dass es ja schon das Internationale Seerecht gibt, das jeden Bootsführer zur Seenotrettung verpflichtet.
Dagegen schreibt die Berliner Zeitung, es sei zwar eine „Selbstverständlichkeit“, dass Schiffbrüchige geborgen werden. „Damit ist aber die Frage nicht beantwortet, wohin man die Geretteten bringt. Die Sea-Watch 2 bringt niemanden nach Libyen zurück, aber alle nach Europa.“
Die verleumderischen Artikel und die Schritte der Innenminister gegen die NGOs zeigen, dass es sich hier um eine konzentrierte Kampagne handelt, diese privaten Organisationen aus der Region vor der libyschen Küste zu verdrängen.
Grund ist, dass in dieser Mittelmeerregion vor der nordafrikanischen Küste gleichzeitig ein beispielloser militärischer Aufmarsch stattfindet. An der Operation, die seit 2015 unter dem harmlos klingenden Namen „Mission Sophia“ (offiziell: Eunavformed) läuft, beteiligt sich die Kriegsmarine Deutschlands, Italiens, Großbritanniens und anderer europäischer Länder.
Ausgerechnet am selben Dienstag, an dem die NGOs ins italienische Innenministerium bestellt wurden, beschloss die EU, Mission „Sophia“ bis Ende 2018 zu verlängern. Offiziell soll die Mission die „Schleuserkriminalität auf dem Mittelmeer“ bekämpfen und so dem Massensterben entgegenwirken. Aber nur acht Prozent der Seenotrettungen gehen auf ihr Konto.
In Wirklichkeit verfolgt die Mission „Sophia“ keine friedlichen Absichten. Hinter dem harmlosen Namen verbirgt sich ein wichtiger Bestandteil der europäischen Aufrüstung gegen Afrika. Wie schon im Ersten und Zweiten Weltkrieg betrachten die Großmächte Afrika als strategisch entscheidenden Raum, der gewaltige Öl- und Erdgasvorkommen, seltene Erden und andere Bodenschätze birgt. Mit dem Krieg gegen Libyen 2011 und dem Sturz Oberst Muammar Gaddafis ist der koloniale „Wettlauf um Afrika“ in eine neue Phase eingetreten.
In Libyen, das eine Schlüsselrolle für den Zugang zu Afrika spielt, versuchen die imperialistischen Mächte seit sechs Jahren, ein neues verlässliches Statthalterregime zu installieren. Das erklärt den Hintergrund eines dritten wichtigen Treffens, das ebenfalls am 25. Juli in Paris stattfand: Dorthin hatte der neue französische Präsident Emmanuel Macron die Kontrahenten im libyschen Bürgerkrieg, Fajis al-Sarradsch und General Chalifa Haftar, eingeladen. Beide sollen zugestimmt haben, den bewaffneten Kampf gegeneinander einzustellen und im Frühjahr 2018 Parlamentswahlen abzuhalten. Am Mittwoch besuchte Sarradsch dann die italienische Regierung in Rom.
Die EU hat sich verpflichtet, weiterhin die libysche Küstenwache mit Waffen und vielen Millionen aufzurüsten und auszubilden. Damit unterstützt die Europäische Union ausgerechnet eine Organisation, die selbst für Menschenhandel, Folter und Mord berüchtigt ist. Auf Anweisung der EU zwingt die Küstenwache die Flüchtlinge zurück in die libyschen Gefängnisse, wo zurzeit rund 300.000 Menschen unter entsetzlichsten Bedingungen festgehalten werden.
Die NGOs dagegen werden behindert und aus dem Mittelmeer abgedrängt. Bis am heutigen Freitag sollen sie sich entscheiden, ob sie mit der italienischen Regierung kooperieren und den „Verhaltenskodex“ unterzeichnen. Bisher haben sie sich geweigert und dem Druck der Militaristen standgehalten.
Die betroffenen NGOs stützen sich auf private Spenden und auf junge Menschen, die freiwillig ihre Ferienzeit opfern. Dies zeigt anschaulich eine weitverbreitete Bereitschaft zur Verteidigung der Flüchtlinge.
Dies kam vor einigen Wochen schon in einer Umfrage der europäischen Rundfunkunion zum Ausdruck. Befragt wurden fast eine Million junger Menschen zwischen 18 und 35 Jahren. Fast drei Viertel von ihnen (72 Prozent) erklärten, sie seien bereit, Immigranten aktiv zu unterstützen. 78 Prozent der in Deutschland Befragten erklärten, sie beobachteten einen wachsenden Nationalismus, und hielten dies für etwas Schlechtes. Über zwei Drittel (67 Prozent) der Jugendlichen in Deutschland und die übergroße Mehrheit aller befragten Jugendlichen erklärten, sie wären nicht bereit, in einem Krieg zu kämpfen.
Das zeigt den Abgrund, der zwischen der großen Mehrheit der Bevölkerung und der offiziellen Politik besteht. Während Millionen Arbeiter mit den Flüchtlingen und Migranten Solidarität empfinden und bereit sind, sie zu verteidigen, lassen Eliten und Regierungen im Mittelmeer tausende Menschen bewusst ertrinken.