Die erste Reise des neuen US-Präsidenten Donald Trump nach Europa hat den tiefen Riss in den transatlantischen Beziehungen offengelegt.
Offiziell einigte man sich auf dem gestrigen Nato-Treffen in Brüssel zwar auf die Erhöhung der Militärausgaben aller Mitgliedsländer auf mindestens zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts bis 2024 und auf den Beitritt der Nato zur US-geführten Kriegskoalition gegen den sogenannten Islamischen Staat (IS). Die Konflikte zwischen den imperialistischen Mächten und insbesondere zwischen den USA und Deutschland haben jedoch ein Ausmaß erreicht, das sich nicht mehr durch Gipfeldiplomatie vertuschen lässt.
Bereits vor dem sogenannten „Working Dinner“ am Abend las Trump den sichtlich konsternierten Staats- und Regierungschefs der europäischen Mitgliedsstaaten die Leviten. „23 von 28 Staaten zahlen nicht, was sie zahlen sollten“, polterte der US-Präsident. Dies sei unfair gegenüber „dem Volk und den Steuerzahlern der USA“. Dann wiederholte Trump seine Behauptung, dass viele Mitgliedsländer dem Militärbündnis „enorme Mengen Geld aus den vergangenen Jahren“ schulden.
Außerdem rief er die anderen Nato-Staaten zum verstärkten gemeinsamen Kampf gegen den Terror auf. „Wir müssen hart sein, wir müssen stark sein, wir müssen wachsam sein“, erklärte Trump. Terror bedrohe die gesamte Menschheit. „Die Nato der Zukunft muss sich sehr stark auf Terrorismus und auf Zuwanderung konzentrieren, sowie auf die Bedrohung durch Russland an den Ost- und Südgrenzen der Nato.“
Kurz vor Trumps Ermahnung hatte die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) die geplante Erhöhung des deutschen Militärhaushalts als ausreichend bezeichnet. Sie erinnerte daran, dass die Beschlüsse zur Erhöhung der Verteidigungsausgaben im Bündnis lediglich bestätigt werden sollten. „Bestätigen heißt: Nicht mehr und nicht weniger“, erklärte sie.
Es besteht kein Zweifel, dass Trumps Äußerungen vor allem gegen Berlin gerichtet waren. „Die Deutschen sind böse, sehr böse“, soll Trump während eines Gesprächs mit EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker und EU-Ratspräsident Donald Tusk gesagt haben. Dies will das deutsche Nachrichtenmagazin der Spiegel von Teilnehmern des Treffens erfahren haben. Außerdem habe Trump gesagt: „Schauen Sie sich die Millionen von Autos an, die sie in den USA verkaufen. Fürchterlich. Wir werden das stoppen.“
Bereits nach Merkels Antrittsbesuch in Washington im März hatte Trump auf Twitter geschrieben: „Deutschland schuldet der Nato einen Haufen Geld, und die Vereinigten Staaten müssen besser für ihre mächtige und kostspielige Verteidigung bezahlt werden, die sie Deutschland bieten.“
Seitdem haben sich die wirtschaftlichen und geostrategischen Konflikte zwischen Washington und Berlin verschärft. Trumps Rede in der saudi-arabischen Hauptstadt Riad vor wenigen Tagen, in der er Iran „als wichtigsten staatlichen Finanzier des Terrorismus“ bezeichnete, war in Europa auf heftige Kritik gestoßen. Vor allem Berlin setzt nicht auf Krieg gegen den Iran, sondern auf eine Öffnung des Landes, um im Nahen und Mittleren Osten neue Energiequellen und Absatzmärkte für die deutsche Exportwirtschaft zu erschließen.
Auch den Konfrontationskurs der USA gegen China, der bereits unter der Präsidentschaft Barack Obamas Fahrt aufgenommen hatte und der von Trump aggressiv verschärft wird, lehnt Berlin ab. Die deutsche Autoindustrie erzielt ihre größten Profite im Reich der Mitte, und Berlin hat großes Interesse am chinesischen „Neue Seidenstraßen“-Projekt, das auch die Golfregion und Russland mit einbeziehen soll.
Bezeichnenderweise reiste der deutsche Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) frühzeitig von seinem Antrittsbesuch in China zurück, um am Nato-Treffen in Brüssel teilzunehmen. Bereits kurz nach seiner Ernennung zum Außenminister und Trumps Amtsantritt als US-Präsident hatte Gabriel die Entwicklung einer deutschen und europäischen Asienstrategie angekündigt, um „die Räume, die Amerika frei macht, zu nutzen“.
Vor dem Nato-Treffen in Brüssel begann Gabriel dann gemeinsam mit dem sozialdemokratischen Kanzlerkandidaten Martin Schulz eine koordinierte Offensive gegen die US-Außenpolitik. Beide kritisierten die Forderung der USA, die Rüstungsausgaben bis zum Jahr 2024 auf zwei Prozent des BIP anzuheben. Man werde „auf gar keinen Fall dazu kommen, die Militärausgaben in Deutschland zu verdoppeln“, und er „wüsste auch gar nicht, wofür wir das Geld ausgeben sollten“, erklärte Gabriel in einem Interview.
Schulz warnte in einem Gastbeitrag für Spiegel Online unter dem Titel „In den Frieden investieren – nicht in Waffen“, „die Debatte um das vermeintliche Zwei-Prozent-Ziel der Nato“ zeige „eine gefährliche Tendenz“. Würde sie doch „fast eine Verdoppelung des deutschen Wehretats auf gigantische 70 Milliarden Euro jährlich bedeuten“. Dann fragte er scheinheilig: „Hatten die Verfassungseltern 1949 dieses Bild von Deutschland vor Augen? Vereinigt, fest integriert in Europa, von Freunden und Partnern umgeben – aber bis an die Zähne bewaffnet?“
Tatsächlich hat Schulz‘ Kommentar nichts mit Pazifismus zu tun. Ihm geht es nicht um geringere Rüstungsausgaben, sondern um mehr Selbständigkeit gegenüber den USA. Er will sich die Rüstungspolitik nicht von Washington diktieren lassen, sondern das deutsche und das europäische Militär so stärken, dass es unabhängig von und auch gegen die USA handeln kann.
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
In SpiegelOnline plädiert Schulz für eine massive Aufrüstung der Bundeswehr und weitere Auslandseinsätze. Er schreibt: „Auch in Zukunft wird sich die Bundeswehr an völkerrechtlich legitimierten Auslandseinsätzen beteiligen. Dafür brauchen unsere Soldatinnen und Soldaten die bestmögliche Ausstattung.“
Gleichzeitig fordert Schulz den Ausbau der europäischen Verteidigungspolitik und eine von Deutschland dominierte, europäische Armee: Europa müsse „endlich Fortschritte erreichen bei der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU. Gemeinsam mit unseren Partnern in der EU, die das gleiche Ziel verfolgen, wollen wir uns über die Gründung einer Europäischen Verteidigungsunion verständigen.“ Der „EU-Austritt Großbritanniens, das Fortschritte auf diesem Gebiet immer wieder verhindert hat“, biete dafür „neue Chancen“.
Schulz‘ Ruf nach einer deutschen und europäischen Großmachtpolitik, die ihre globalen imperialistischen Interessen unabhängig von und auch gegen die USA vertritt, ist unmissverständlich.
Die EU müsse „den Zuschauerraum verlassen und endlich eine aktive Rolle auf der Bühne der internationalen Friedenspolitik einnehmen“, fordert er. Dies sei „unbequem“ und werde „sicher zu vielfältigen Diskussionen führen“. Aber „zu einer aktiveren Rolle Europas“ gebe „es keine vernünftige Alternative. Denn viele der anderen weltpolitischen Akteure – auch solche, die unsere Verbündeten sind – haben an einer solchen neuen Friedenspolitik ganz offensichtlich nur geringes oder kein Interesse.“
Der Versuch der deutschen Sozialdemokratie, den deutschen und europäischen Imperialismus als pazifistische Alternative zur Kriegspolitik der USA zu verkaufen, ist ein Hohn. Die europäischen Mächte haben sich in den vergangenen 25 Jahren an den völkerrechtswidrigen Angriffskriegen der USA beteiligt und versuchen nun, es dem ultrarechten Milliardär an der Spitze der USA in jeder Hinsicht gleichzutun. Sie streichen in ganz Europa die Sozialausgaben zusammen, rüsten nach außen und innen massiv auf und sind zunehmend bereit, auch gegen ihren amerikanischen „Verbündeten“ aufzutreten.
Der Grund für diese gefährliche Entwicklung liegt in den unlösbaren Widersprüchen des Kapitalismus, der nicht fähig ist, den Gegensatz zwischen dem internationalen Charakter der Produktion und dem Nationalstaat zu überwinden. Wie am Vorabend des Ersten und Zweiten Weltkrieg löst der Wettstreit der imperialistischen Mächte um Rohstoffe, Absatzmärkte und Einflussgebiete heftige Konflikte aus, die in einen neuen großen Krieg münden, wenn die internationale Arbeiterklasse nicht mit ihrer eigenen, unabhängigen sozialistischen Strategie ins politische Geschehen eingreift.