Die Kriegsbriefe von Clara Zetkin

Clara Zetkin: Die Briefe 1914 bis 1933. Band 1. Die Kriegsbriefe 1914-1918, Hrsg. Marga Voigt, Karl Dietz Verlag Berlin, 2016.

Zetkins Kampf gegen den Verrat der Zweiten Internationale

Es ist angesichts der aktuell wachsenden Kriegsgefahr zu begrüßen, dass erstmals eine vollständige Ausgabe der Kriegsbriefe von Clara Zetkin erscheint. Macht diese Vorkämpferin des internationalen Sozialismus doch darin immer wieder klar, dass der Kampf gegen Krieg und Militarismus untrennbar mit dem für den Sozialismus und die Abschaffung des kapitalistischen Ausbeutungssystems verbunden ist.

Wie Clara Zetkin im Dezember 1914 an ihre niederländische Freundin und Briefpartnerin, eine führende Genossin der Internationale der Sozialistischen Frauen, Heleen Ankersmit schreibt:

„Wir müssen uns nicht darüber täuschen, dass dieser Kampf für die Freiheit des arbeitenden Volks zugleich die fruchtbarste Vorarbeit und die beste Bürgschaft für den Frieden der Völker auf dem Erdenrund ist. Mahnt nicht gerade der jetzige Krieg daran, dass der Klassengegensatz zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten in den Nationen die Wurzel der Feindschaft, die letzte Ursache der Kriege zwischen den Völkern ist?“ (S. 30)

Als 1914 die Führungsspitze der Sozialdemokratischen Partei alle bis dahin von Sozialisten vertretenen Prinzipien verriet, den Krieg und den „Burgfrieden“ befürwortete und im Reichstag dem Kaiser die Kriegskredite bewilligte, gehörte Clara Zetkin zusammen mit ihrer Genossin und engen Kampfgefährtin Rosa Luxemburg und Franz Mehring zu den wenigen führenden Parteimitgliedern, die sich offen hinter Karl Liebknecht stellten und ihn in seinem Kampf gegen den Krieg unterstützten.

Dieser Verrat ließ Clara Zetkin „fast wahnsinnig werden und an Selbstmord denken“. (S. 62) Doch sie nahm trotz ihrer zerbrechlichen Gesundheit alle Kräfte zusammen, um unter den denkbar ungünstigsten Bedingungen ihren Kampf für Frieden und Sozialismus fortzusetzen.

Unmittelbar nach Kriegsbeginn hatten Rosa Luxemburg und Franz Mehring 300 Telegramme an Genossen und Genossinnen geschickt, um einen Protest gegen die Bewilligung der Kriegskredite zu organisieren. Clara Zetkin war die einzige, die antwortete. In einem Brief vom 5. August an Rosa Luxemburg und Franz Mehring lehnt sie jedoch eine spontane Protesterklärung der wenigen Sozialdemokraten, die sich gegen den Verrat der Reichstagsfraktion gewandt hatten, aus taktischen Gründen ab, weil diese allein darauf hinauslaufe, die persönliche Ehre zu wahren.

Sie schreibt:

„In diesem Augenblick geht es aber um mehr als die persönliche Ehre. Dieser Krieg mit seinen Folgen leitet eine Weltumwälzung ein… Aber wir müssen jetzt mehr als je kühl denken und handeln. Ach, wenn Ihr wüsstet, wie schwer es mir ist, Euch solch kühle Vernunft zu predigen.“ (S. 18)

Ihre politische Betätigung ist unter dem von der Regierung verhängten „Belagerungszustand“ mit strikter Zensur äußerst kompliziert und wird durch die staatlichen Behörden – ganz besonders durch die württembergischen – streng überwacht. Besonders prekär wird ihre Lage dadurch, dass die sozialdemokratische Führung im Rahmen des „Burgfriedens“ eng mit den Behörden zusammenarbeitet und die Schikanen gegen sie noch verstärkt. Immer wieder muss sie ihre Korrespondenten darauf hinweisen, dass ihre Post kontrolliert und von den Behörden gelesen wird. Mit den Tricks und Methoden politischer Arbeit unter Bedingungen der Illegalität war Clara Zetkin seit ihrer Emigration in die Schweiz während der Bismarckschen Sozialistengesetze bereits vertraut. Sie ließ sich daher auch nach 1914 nicht so leicht einschüchtern.

Während des gesamten Kriegs reißen die Verfolgungen und Schikanen gegen sie nicht ab. Ihre Briefe werden geöffnet und erreichen ihre Empfänger oft gar nicht. Sie muss alle möglichen Tricks anwenden, um ihre weitgefächerte Korrespondenz abzusichern: Deckadressen, persönliche Beförderung durch Vertrauenspersonen, Verwendung von Decknamen für bekannte Persönlichkeiten etc. Geplante Treffen oder Konferenzen werden als „Konzerte“ oder „Familenfeste“ codiert, der Empfang von Briefen wird durch offene Postkarten mit unverfänglichen Danksagungen quittiert.

Unmittelbar nach Kriegsausbruch findet bei Clara Zetkin, die in Sillenbruch bei Stuttgart lebt, bereits die erste Hausdurchsuchung statt. Als Grund dafür wird absurderweise angegeben, dass sie (feindliche) Russen beherbergt habe, obwohl sie seit ihrer Jugend als kompromisslose Kämpferin gegen den Zarismus bekannt ist. Ihr erster Mann hatte wegen antizaristischer Tätigkeit aus Russland fliehen müssen. In den schwäbischen Dörfern werden wilde Gerüchte über sie verbreitet, „die an die schaurigen Märchen der Pogrome erinnern …Russen sollen im Auto ausgerechnet in dieser Gegend herumfahren, um das Trinkwasser zu vergiften, im Remnat sollen sie versucht haben, einem Rinde Gift zu geben usw..“ (S. 79)

Sozialistische Fraueninternationale gegen Krieg und Sozialistische Frauenkonferenz in Bern

Unmittelbar nach Kriegsausbruch entfaltet Zetkin eine umfangreiche konspirative Antikriegs-Korrespondenz mit Genossen und Freunden sowie vor allem mit Vertreterinnen der von ihr 1907 gegründeten Sozialistischen Fraueninternationale, die im Gegensatz zur bürgerlichen Frauenbewegung den Kampf für die Frauenrechte als integralen Bestandteil des Kampfs für den Sozialismus betrachtet.

Zu ihren wichtigsten Briefpartnerinnen gehören die Niederländerin Heleen Ankersmit, die Freundin Lenins Ines Armand, Alexandra Kollontai, Angelika Balabanova, Adelheid Popp und das Vorstandsmitglied der SPD, Luise Zietz. Zusammen mit dem Schweizer Sozialdemokraten Robert Grimm und Balabanova organisiert sie eine internationale Frauen-Konferenz, an der Frauen aus kriegführenden wie aus neutralen Ländern teilnehmen, um zu diskutieren, welchen Beitrag die Sozialistinnen für den Frieden leisten können.

Der SPD-Führung teilt sie mit, sie werde diese Konferenz organisieren „mit oder ohne den Segen der Partei, ja sogar mit dem Fluch des Parteivorstands beladen“. Unermüdlich schreibt sie zur Vorbereitung Briefe und sucht sichere Mittel und Wege, um sie zuzustellen. Darin empfiehlt sie immer wieder die Lektüre von Trotzkis Broschüre „Der Krieg und die Internationale“. (S. 62)

Die Konferenz findet schließlich im März 1915 in Bern statt. Erst im September kommt es zur Zimmerwalder Konferenz der Linkssozialisten.

Die von Zetkin verfasste Erklärung „An die Genossinnen aller Länder“ wird von der Konferenz verabschiedet. Darin stellt sie fest:

„Der jetzige Weltkrieg hat seine Ursache in dem kapitalistischen Imperialismus. Er ist letzten Endes heraufbeschworen worden durch die Bedürfnisse der ausbeutenden und herrschenden Klassen in den einzelnen Ländern. Im Konkurrenzkampf miteinander versuchen diese ihre Ausbeutung und Herrschaft über die Grenzen des Heimatstaates hinaus auszudehnen und dadurch gleichzeitig ihre Ausbeutung und Herrschaft über die besitzlosen Volksgenossen daheim zu befestigen und zu verewigen. … An die Stelle des Klassenkampfes der Arbeiter für die Hebung ihrer Lage und die einstige Befreiung setzt er den nationalen ‘Burgfrieden’ an die Stelle der internationalen Solidarität der Proletarier aller Länder den internationalen Brudermord.“ (S. 209-212)

Die Resolution fordert die Proletarierinnen auf,

„keine Zeit und keine Gelegenheit zu versäumen, durch Massenkundgebungen jeder Art ihr internationales Selbstbewusstsein und ihren Friedenswillen zu bekunden. Der Krieg weist mit dem Kampfe für den Frieden den Frauen eine gewaltige Aufgabe zu. Wenn sie begriffen und erfüllt wird, kann dies von der größten Tragweite für die Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechts um das Ringen für den Sozialismus werden.“

Sie schließt mit den Worten:

„Die Friedensaktion der sozialistischen Frauen muss Vorläuferin einer allgemeinen Bewegung der werktätigen Massen für die Beendigung des Brudermordens sein. Sie muss einen wichtigen Schritt vorwärts bedeuten zum Wiederaufbau der einen großen Arbeiterinternationale.“ (S. 209-211)

Gerne hätte Zetkin eine weitere Konferenz veranstaltet, denn alle Frauenprobleme wurden durch den andauernden Krieg verschärft und neue kamen hinzu, da viele Frauen die Arbeitsplätze von Männern, die an der Front standen, übernehmen mussten. Ihre Bezahlung war jedoch weit geringer und sie hatten bei weitem nicht die gleichen Rechte. Dazu kam die immer schwieriger werdende Ernährungslage. Daraus leitet sie die Aufgaben für eine nächste Frauenkonferenz ab, zu der es aber nicht kam.

„Für alle die hier auftauchenden Forderungen heißt es künftig für uns Frauen in internationaler Front arbeiten und kämpfen, für diesen Kampf die Proletarierinnen selbst mobilisieren und in ihm die Arbeiterparteien und Arbeiterorganisationen vorantreiben. Die Internationalität dieses Kampfes kann sich nicht mehr auf den Ausdruck gemeinsamer Auffassungen, Beschlüsse, Wünsche beschränken, sie muss fruchtbares Arbeiten, Handeln sein. Die Frauen dürfen sich für die betreffenden Aufgaben nicht in sklavischer Disziplin von den allgemeinen Parteien abhängig machen, sie müssen innerhalb dieser die notwendige Bewegungsfreiheit haben, um zielsetzend und energisch voranzuschreiten.“ (S. 314)

Kampf gegen Zensur und Bespitzelung

An zwei Fronten kämpft Zetkin unermüdlich, trotz der Behinderungen durch Krankheiten und Schikanen für die Zeitschrift Die Gleichheit, die sie seit 1892 redigierte. Einerseits versucht sie, ihre politische Linie gegen den Parteivorstand zu behaupten. Anderseits werden häufig ganze Artikel von der Zensur gestrichen oder so verstümmelt, dass ihnen jeder Sinn genommen wird. Selbst Artikel oder Passagen, die in anderen Zeitungen in Deutschland bereits erschienen waren, werden von der württembergischen Zensurbehörde beanstandet und gestrichen. Anfangs versuchte sie, die gestrichenen Stellen durch weiße Flecken oder Punkte kenntlich zu machen, aber auch dies wurde verboten. Sie beschwert sich darüber in einem Brief vom 11. März 1916 an den Reichstagsabgeordneten Wilhelm Dittmann.

„Dann entdeckte die Zensur, dass dadurch der Bestand und die Sicherheit des Deutschen Reichs gefährdet ist. Die Zensur bewirkt also durch ihr Walten, dass der Inhalt geradezu blödsinnig wird, ferner, dass er über die Auffassung und Stellungnahme der Gleichheit täuscht … Der Schuldigste an den ganz unerträglichen Zuständen ist die Sozialdemokratie, die sich freiwillig als politischer Machtfaktor ausschalten [ließ] und zu einem Anhängsel der bürgerlichen Parteien und zu einer Schutztruppe des sogenannten Burgfriedens gemacht hat.“ (S. 223f)

Im Mai 1917, nach der Spaltung der SPD und Zetkins Beitritt zur USPD, wird ihr von Friedrich Ebert die Redaktion der Gleichheit entzogen, die damit „aufhört, das internationale Organ der Frauen zu sein“. (S. 322) Sie versucht in eigener Regie stattdessen ein Zirkular herauszugeben, muss sich aber schließlich darauf beschränken, eine Frauenbeilage der Leipziger Volkszeitung zu redigieren. Darin schreibt sie in dem Artikel „Abschied von der Gleichheit“, der Kern ihrer „Maßregelung“ durch den SPD-Vorstand sei „der unüberbrückbare Gegensatz in der grundsätzlichen Überzeugung von dem, was seit Kriegsausbruch Pflicht und Ehre den Bekennern des internationalen Sozialismus gebieten“.

Sie werde in dieser Zeit „von früh bis spät durch Spitzel bewacht“. „Alle Deckadressen sind unbrauchbar geworden in Folge von Einberufung oder Verhaftung,“ schreibt sie am 1. Juli 1917 an Franz Mehring. Sie hat aber eine Möglichkeit gefunden, einen ausführlichen unzensierten Brief mit dem dringenden „Wunsch nach Aussprache und Verständigung mit den Freunden und Genossen“ in Berlin zu schicken. In diesem Brief nimmt sie Stellung zu der „zahmen Opposition“ auf der Stockholmer Konferenz, zur russischen Februarrevolution, in die sie große Hoffnungen setzt, und zur geplanten zweiten Zimmerwald-Konferenz, die nur unter bestimmten Voraussetzungen Gutes bewirken könne.

Sie verurteilt scharf die Neigung zu „Kuhhändeln und Kompromissen“ von USPD-Leuten wie „Haase, Kautsky, Ledebour und tutti quanti“. Sie fordert eine „Abrechnung, ein jüngstes Gericht“ mit der Zweiten Internationale insbesondere deren deutscher Fraktion.

„Diese Konferenz muss den Herren die sozialistischen Masken vom Gesicht reißen und sie in ihrem bürgerlich-nationalistischen Gesicht zeigen. Die USP sich selbst überlassen wird – so fürchte ich nach den seitherigen Erfahrungen – die Abrechnung und Demaskierung weder mit der erforderlichen grundsätzlichen Klarheit und Schärfe noch mit der nötigen taktischen unerbittlichen Wucht vollziehen. … Oder um es auf gut schwäbisch zu sagen: Diese Opposition hat zuviel Dreck am Stecken, um ein unbeugsames und unerbittliches Richteramt zu üben.“

Auch an deren ausländischen Gesinnungsgenossen lässt sie kein gutes Haar. Sie fordert Mehring auf, er solle der Opposition „grundsätzliche Klarheit und Wucht geben, ihr Richtung und Ziel festhalten, ihr Rückgrat sein“.

Mögliche Einwände weist sie zurück:

„Wir müssen klären und vorantreiben, die ‘reinliche Scheidung’ zum inneren Abschluss bringen. Nicht wegen der führenden oder richtiger Geschobenen. Nein, gewiss nicht! Sondern wegen der Massen, die mit den Umlernern oder mit den zahmen Oppositionellen gehen. Lediglich auf sie muss es uns ankommen, wenn wir politisch kämpfen und nicht bloß propagieren wollen.“ (S. 339)

Verhaftung und Krankheit

Wegen eines Artikels in der von Rosa Luxemburg und Franz Mehring seit April 1915 herausgegebenen Zeitschrift Die Internationale wird sie angeklagt. Der Name der Zeitschrift lehnte sich an die Gruppe Internationale an, zu der sich unmittelbar nach Ausbruch des Krieges einflussreiche und weithin bekannte Politiker der SPD, die den „Burgfrieden“ ablehnten, zusammengeschlossen hatten. Zetkin soll in diesem Artikel zu „Gewalttätigkeiten, Widersetzlichkeiten gegen die Staatsgewalten und allem möglichen aufgereizt haben“. Sie vermutete zunächst, dass es nicht zum Prozess kommen würde, und sah „weiterer Entwicklung der Dinge mit heiterer Ruhe entgegen“. (S. 179)

Sie wird jedoch Anfang August 1915 verhaftet, ins Amtsgefängnis in Karlsruhe gebracht und dort trotz ihres sehr prekären Gesundheitszustandes – sie leidet unter Herzproblemen und häufigen Ohnmachten – bis Mitte Oktober festgehalten. Vorgeworfen wird ihr außer ihrem Artikel in der Internationale die Mitwirkung an der Berner Konferenz und die anschließende Verbreitung der dort verabschiedeten Resolution „Frauen des arbeitenden Volkes!“ als Flugblatt.

In einem Brief an Ankersmit schreibt sie am 7. September 1915:

„Ich glaube mein Euch gegebenes Wort redlich gehalten zu haben. Die Folgen trage ich mit ruhiger Gelassenheit, ja, mit Seelenheiterkeit. Ich bin dieser Sache wegen weder unglücklich noch Märtyrerin, ich nehme sie als selbstverständlich hin, weil ich gehandelt habe, wie die ‘Stimme im Inneren’ mir befahl. Wenn ich etwas bereue, so ist es mit Conrad Ferdinand Meyers ‘Hutten’ dieses:

Mich reut die Stunde, die nicht Harnisch trug;
Mich reut der Tag, der keine Wunde schlug,
Mich reut, ich sag es mit zerknirschtem Sinn,
Dass ich nicht dreifach kühn gewesen bin.“ (S. 197f)

Sie beschwert sich nicht über die Haftbedingungen, nutzt die Zeit zum Studium von Philosophie und Geschichte und „erholt“ sich durch die Lektüre von Goethe, Hölderlin und Shakespeare. Sie darf sogar etwas Redaktionsarbeit machen. An die Freundin und Genossin Marie Geck schreibt sie:

„Ich habe Parteiveranstaltungen ertragen, vor denen ich lieber davongelaufgen wäre als aus dieser Zelle, ich habe Parteidiskussionen ausgehalten, die nicht so anregend waren, wie die Verhöre“ durch den offenbar relativ zugänglichen Untersuchungsrichter.

In einem anderen Brief an die gleiche Adressatin schreibt sie über den 1913 verstorbenen SPD-Führer August Bebel:

„Ich habe in diesen Tagen viel an August gedacht. Ihm ist ein glückliches Los [zu]gefallen. Es ist ihm erspart geblieben, in Wirrungen und Trennungen verstrickt zu werden.“

Mehr Sorgen als um ihre eigene Gesundheit macht sie sich über die ihres Mannes, der für das Rote Kreuz schuftet und natürlich über das Schicksal ihrer beiden Söhne, Maxim und Kostja, die beide eingezogen wurden und im medizinischen Dienst tätig sind. Ganz besonders aber sorgt sie sich um die im Gefängnis sitzende Rosa Luxemburg, um Karl Liebknecht und Leo Jogiches. Von Letzterem schreibt sie unter Decknamen wie „Frau Müller“ oder „Vormund von Mimi“ (der Katze von Rosa Luxemburg).

Nicht nur sie selbst wird von den Behörden schikaniert. Ihr Sohn Maxim, der als Arzt in einem Lazarett an der Front tausende Verwundete operiert, wird aus politischen Gründen nicht befördert. Briefe, in denen ihr Sohn Kostja erwähnt wird, der ebenfalls als Feldarzt tätig ist, werden beschagnahmt, weil ihm darin von Mehring und Luxemburg Grüße ausgerichtet werden, mit denen er seit seines Studiums in Berlin befreundet ist. (S. 202f)

Trotz der schwierigen Versorgungslage überall in Deutschland setzt sie nach ihrer Entlassung wegen Krankheit auf Kaution am 12. Oktober alle Hebel in Bewegung, um die verhafteten Genossen zu versorgen. Für Rosa Luxemburg besorgt sie außer Büchern auch allerlei Notwendiges zum Überleben, obwohl sie und ihr Mann kaum für sich selbst ausreichend Lebensmittel auftreiben können. Eier, die sie nach Berlin oder später nach Breslau schicken will, müssen z. B. durch eingezogene Soldaten aus Rumänien geschickt werden. Äpfel, aber auch Vogelfutter und Blumen schickt sie an Rosa. Über all diese Besorgungen und Besorgnisse berät sie sich in zahlreichen Briefen mit Mathilde Jacob, der Sekretärin Rosa Luxemburgs. Auch für Karl Liebknecht versucht sie Notwendiges aufzutreiben.

Zutiefst erschüttert ist sie, als sie erfährt, dass der junge Hans Diefenbach gefallen ist, ein enger Freund ihrer Familie und Rosa Luxemburgs. Sie zögert, es der Freundin mitzuteilen. (S. 355)

Die Bespitzelungen und Beschlagnahme ihrer Post hören nicht auf. Selbst Danksagungen für Wünsche, Geschenke und Ehrungen zu ihrem 60. Geburtstag (am 5. Juli 1917) an in- und ausländische Freunde und Genosssen verschwinden. (S 347f)

Mit Hoffnung blickt sie auf die Geschehnisse in Russland und versucht sich und anderen Mut zu machen.

„In den Wettern und Flammen der gewaltigen weltgeschichtlichen Tat des russischen Volkes leuchtet für das Proletariat aller Länder das ermutigende Wort jener Überzeugung auf, die Berge versetzt: ‘Ihr Kleingläubigen, warum seid ihr so furchtsam?’“

So schreibt sie in einem Aufruf zu einer Maikundgebung 1917. (S. 371) Umso eindeutiger begrüßt sie dann die Oktoberrevolution, obwohl sie nur in wenigen Briefen offen darüber schreiben kann.

Revolution

„Seit der Erhebung der Bolschewiki glaube ich an das Leben“

Nach den Nachrichten über Todesfälle und der Mühsal des täglichen Überlebenskampfs trifft die Nachricht von der Machtübernahme der Bolschewiki Clara Zetkin wie eine Erlösung. „Kurz, es war eine böse Zeit, über die jetzt das gewaltige weltgeschichtliche Geschehen im Osten emporhebt, das nicht fruchtlos sein wird, wie immer die nächste Zukunft sich gestaltet“, schreibt sie am 16. November an die österreichische Sozialistin und Frauenrechtlerin Adelheid Popp. (S. 358)

In einem „Aufruf an die Genossinnen, an die Frauen und Töchter des arbeitenden Volkes“ vom 14. Dezember 1917 begrüßt sie, dass die „Revolution alle gesellschaftlichen Ächtungen vom Weibe genommen und es als gleichberechtigt zur Mitarbeit an der Verfassung, an Gesetzgebung und Regierung berufen“ habe. (S. 368)

Einen Brief mit traurigen Mitteilungen an Mathilde Jacob beendet sie: „Doch nicht traurig sein. Denken wir an Russland.“ Und in einem späteren Brief an dieselbe heißt es: „Trotz allem geht es mir leidlich. Seit der Erhebung der Bolschewiki glaube ich an das Leben.“

Von Anfang an zögert Clara Zetkin nicht, die Oktoberrevolution gegen alle Angriffe von rechten wie linken Sozialdemokraten zu verteidigen. Sie berichtet in einem Brief an Adelheid Popp, Heleen Ankersmit habe ihr Amt als Sekretärin des Sozialistischen Frauenbundes niedergelegt, weil sie mit der ablehnenden Stellungnahme der niederländischen Partei gegen die Bolschewiki nicht einverstanden sei. Die niederländische Partei nahm dieselbe Haltung ein wie der führende Theoretiker der SPD, Karl Kautsky, der die Bolschewiki ebenfalls ablehnte. Zetkin bedauert den Schritt von Ankersmit, schreibt aber:

„Ich selbst lehne Kautskys Auffassung als die eines philisterhaften Beckmessers ab, dem die historische Wertung des Wesens der gewaltigen Umwälzung fehlt, die inmitten furchtbarer Katastrophen uns vergönnt ist. Womit nicht gesagt ist, dass ich nicht diese und jenes anders gewünscht hätte. Wir dürfen nicht verkennen, dass wir zwar Geschichte machen, dass wir sie aber machen, wie wir sie machen müssen.“ (S. 384)

Sie selbst hatte auf Kautskys Artikel „Demokratie oder Diktatur“ in der USPD-Zeitschrift Sozialistische Auslandspolitik mit der Stellungnahme „Durch Diktatur zur Demokratie“ geantwortet. In einem Brief an Ankersmit betont sie, dass sie Kautskys Auffassungen mit der größten Entschiedenheit zurückweise, und bedauert, dass es ihr (wegen der Zensur) nicht möglich sei, ihrer Überzeugung Ausdruck zu verleihen:

„Kautskys Meinung beruht nach meinem Dafürhalten auf einer mechanischen Übertragung eines engbrüstigen westeuropäischen Entwicklungsschemas auf Gesellschaftsverhältnisse und Gesellschaftskräfte, die an ihrem eigenen hisorischen Sein geprüft und gemessen werden müssen. Ich verwerfe sie als ein völlig unzulängliches Erfassen des historischen Wesens grundlegender sozialer Umwälzungen überhaupt, und zwar als ein schulmeisterlich-philisterhaftes Erfassen. Unsere kritisierten Freunde sind die einzigen sozialistischen Realpolitiker großen Stils in unserer Zeit.“ (S. 386)

An Lenin, dem sie eine junge Genossin empfiehlt, schreibt sie am 27. Juni 1918:

„Was ich Ihnen schreiben möchte, muss zur Zeit unausgesprochen bleiben. Aber Sie dürfen überzeugt sein, dass ich die alte geblieben bin und mit Kopf und Herz ganz mit Ihnen bin und einen dicken Trennungsstrich zwischen [mir und] den Kritikern von der Art Kautskys und tutti quanti gezogen habe.“ (S. 395)

In einem anderen Brief an Ankersmit vom 24. August 1918 heißt es:

„Meine Hoffnung zehrt vom Osten. Ich lebe in Gedanken mit den Freunden dort und will mich lieber mit ihnen zusammen schmähen und verleumden lassen, als mit den andern zusammen loben lassen. Ihre Größe und Bedeutung wird die Zukunft erst klar ins Licht treten lassen. Heute ist sie nicht bloß von den Schlachtwolken des Klassenkampfs verhüllt, sondern auch von den Nebeln des Fraktionsgezänks. Ich halte zu ihnen trotz und alledem. Never give up.“ (S. 400)

In großer Sorge um die noch immer im Gefängnis sitzende Rosa Luxemburg schreibt sie an Mathilde Jacob am gleichen Tag, dass sie nur eine einzige Möglichkeit sehe: Rosa solle fiktiv einen Russen heiraten, „dann könnte sie reklamieren und müsste freigelassen werden, könnte nach Russland gehen und dort arbeiten, für den Sozialismus arbeiten“. (S. 401) Sie bedauert zutiefst, dass sie gebunden ist und denen nicht helfen kann, „die mir am teuersten sind und am nächsten stehen“.

Zwei Tage später schreibt sie auch an Lenin:

„Mit leidenschaftlichem Interesse, mit angehaltenem Atem verfolge ich die Nachrichten aus Russland. Dort geht es um der Menschheit große Dinge, dort ist das Leben wert, gelebt zu werden. Möchtet Ihr Kommunisten siegreich sein, wie ihr kühn und opferfreudig seid, möchten die Proletarier aller Länder endlich der russischen Proletarier und Massen würdig werden!“ (S. 403)

Sie erhebt schärfsten Widerspruch gegen die Kritik, die von einigen führenden USPD-lern an den Bolschewiki geübt wird, und beklagt, dass ihre öffentliche Verteidigung der Oktoberrevolution immer der Zensur zum Opfer falle.

In einem Brief an die nichtöffentliche Konferenz der USPD vor dem 11. September 1918 bekundet sie erneut entschieden ihre Sympathie mit den Bolschewiki. „Je klarer und befestigter in mir die Erkenntnis wurde von dem großen geschichtlichen Wesen und der weitreichenden Bedeutung des kühnen bolschewistischen Unterfangens“, desto entschiedener nimmt sie Stellung. Dort würden „sozialistische Grundsätze von den gesellschaftlichen Dingen aus dem luftigen Reich der Ideen in die harte Wirklichkeit … übertragen, die Entwicklung eines ganzen Volks auf kürzestem Weg planmäßig, bewusst in der Richtung zur sozialistischen Ordnung“ orientiert.

„Während die Zensur in der ‚Leipziger Volkszeitung’ die Angriffe sozialistischer Kritiker gegen die Bolschewiki zugelassen hatte, hat sie meine Antwort darauf verboten, hat sie ebenso ganze Artikel und einzelne Absätze von Artikeln in der Frauenbeilage gestrichen, die eine Stellungnahme zu den Vorgängen in Russland enthielten.“ (S. 405)

Sie empfand es als ihre Pflicht, „schärfsten Widerspruch“ gegen diese Kritik zu erheben, und geißelt mit bitterer Ironie die USPD-Genossen Rudolf Breitscheid und Karl Kautsky. Sie betont unmissverständlich, dass es nicht allein um russische Dinge gehe, „sondern um die Sache des internationalen Sozialismus, des Weltproletariats“. (S. 406) Es gehe um das Ringen um „Klarheit, um Selbstverständigung über Wesen und Weg des proletarischen Emazipationskampfes, ein Ringen, das geradezu Pflicht ist.“ Sie bestreitet nicht das Recht, Kritik an den Bolschewiki zu üben, aber „sehr anffechtbar“ dünkt sie die Art, der Inhalt, die Tendenz der geübten Kritik.“

Bissig kommentiert sie, dass Kautsky und Co. ihre Kritik mit dem Interesse des „internationalen Sozialismus“ begründen.

„Aber schade, dass man von Eilfertigkeit und Eifer zur Wahrung sozialistischer Grundsätze auch gar nichts verspürt hat, als die Reichstagsfraktion am 4. August die sozialistischen Grundsätze schmachvoll verriet. Auch damals ging es um den internationalen Sozialismus, ging es um Sein oder Nichtsein der sozialistischen Internationale. Die Genossen Kautsky Bernstein und Ströbel haben damals nicht die dringende Pflicht empfunden, ‚ihr Gewissen zu salvieren’. Mehr noch, Karl Kautsky veröffentlichte in der ‚Neuen Zeit’ die berüchtigte Theorie der Zweideutigkeit und Charakterlosigkeit, dass die sozialistischen Grundsätze im Frieden eines seien und die sozialistischen Grundsätze im Kriege ein anderes. Für den Frieden: Proletarier aller Länder vereinigt Euch! Für den Krieg: Proletarier aller Länder ermordet Euch! Zur Salvierung seines Gewissens … proklamierte er für die deutschen Dinge die Pflicht des Schweigens und des Sichfügens als Reichstagsfraktion und Parteivorstand, die sozialistischen Grundsätze feig und frech zugleich mit Füßen tretend, [was] das deutsche Proletariat an den Wagen des Imperialismus spann.“ (S. 407)

Den Verrätern, die in den schwersten Monaten für das Proletariat aus „Führenden“ zu „Irreführenden“ geworden seien, spricht sie das Recht ab, sich „zum Richter über die angebliche Preisgabe und Kompromittierung sozialistischer Grundsätze durch den Bolschewismus aufzuwerfen“.

Sie stellt fest, dass diese Leute an den veralteten und sich als verhängnisvoll erwiesenen Formeln der deutschen Sozialdemokratie festhielten, die „mehr und mehr zu unfruchtbarem Nichts-als-Parlamentarismus, zum Parlamentarischen Kretinismus geworden“ waren. (S. 408)

Mit den Menschewiki und rechten Sozialrevolutionären und deren Politik geht sie ebenso hart ins Gericht. Diese seien aus

„Mitarbeitern der bürgerlichen Demoktratie mehr und mehr zu deren Gefangenen, aus treibenden zu bremsenden Kräften der Revolution [geworden]. … Ihre Existenz ward die papierene schöner Phrasen, denen eine bürgerlich-reaktionäre Praxis zur Seite ging. … Die auswärtige Politik der ‚reinen Demokratie‘ liquidierte nicht die verhängnisvolle, imperialistische Erbschaft des Zarismus, trieb vielmehr im Schlepptau der imperialistischen Bourgeoisie weiter und hielt die Bündnisse der imperialistischen Regierungen für heiliger als die internationale Solidarität der Proletarier.“ (S. 409)

Für die außenpolitischen Probleme der Bolschewiki, die den Zwangsfrieden von Brest Litowsk schließen mussten, seien diese Revisionisten, aber vor allem auch die deutschen „Regierungssozialsten“ verantwortlich. Die Führer der USPD seien „kaum noch mit der Lupe“ von jenen der Mehrheitssozialisten zu unterscheiden.

Im Anhang des Buchs werden die wichtigsten Stellungsnahmen von USPD-Führern über die Entwicklung in Russland dokumentiert, auf die Zetkin sich bezieht.

Deutsche Novemberrevolution

„Ach Rosa, es ist eine Welt von Fragen, über die ich mich mit Dir aussprechen müsste. Du weißt, wie misstrauisch ich gegen mein eigenes Urteil bin“, schreibt Clara Zetkin an die gerade aus dem Gefängnis entlassene Rosa Luxemburg am 17. November 1918.

Sie ist sich darüber klar, dass die jüngere Genossin und Freundin die anstehenden Fragen, über die sie sich mit ihr verständigen möchte, vermutlich schärfer theoretisch erfassen kann als sie selbst. Diese Schicksalsfragen betreffen die deutsche Novemberrrevolution und ihre Perspektiven. In ihrem Brief spiegeln sich Hoffnung und Besorgnis über die prekäre Situation, die aus dem Fehlen einer revolutionären Massenpartei in Deutschland resultiert, wie sie die Bolschewiki in Russland darstellten. Am liebsten würde sie selbst sich in Berlin sofort „nützlich“ machen und mehr tun, als von Stuttgart aus das „Leipziger Frauenblättle“ zu redigieren.

Sie legt dann ihre eigene Ansicht über die Revolution und die möglichen Gefahren und Perspektiven für die Massen dar:

„Der Ausgangspunkt für die deutsche Revolution war eine Soldatenbewegung für Soldatische Forderungen. Aber unter den gegebenen Bedingungen musste sie ja ein revolutionärer politischer Kampf werden gegen den Militarismus, gegen das persönliche Regiment, für die politische Demokratie. Dieser Kampf musste notwendigerweise von proletarischen Massen durchgefochten werden.“ (S. 438)

Da sich die deutsche Bourgeoisie seit langem mit der Monarchie und Junkerherrschaft abgefunden und diese und den Militarismus als Stütze betrachtet habe, sei sie 1918 „tatenunlustig und argwöhnisch beiseite“ gestanden.

„Das Proletariat errang die politische Macht, fast ohne gekämpft zu haben. Oder richtiger: Sein Kampf war negativ gewesen, waren die Prügel, die die Arbeiter als Gladiatoren des Imperialismus von dem Imperialismus der Entente bezogen hatten.“ (S. 438)

Das Proletariat habe gesiegt, „weil die Bourgeoisie es geschehen ließ und weil sie zum Teil überrascht war“. Die neue sozialdemokratische Regierung unter Ebert und Scheidemann flöße der Bourgeoisie keine Furcht ein. Vielmehr begrüße sie die „billige Gelegenheit, der sozialdemokratischen Regierung die Liquidierung der Erbschaft des Weltkrieges an den Hals zu hängen“. (ebd.)

„Indem aber proletarische Massen zu Trägern des Kampfes wurden, griff dieser weit über die Grenzen der politischen Demokratie, einer bürgerlichen Revolution hinüber. Er musste diese Grenzen überspringen angesichts der Fragen, die durch den Weltkrieg, den Bankrott des internationalen Imperialismus, den katastrophalen Zusammenbruch der bürgerlichen Welt aufgerollt wurden. Die Schale des politischen Umsturzes ließ den in ihrem Innern ruhenden sozialen Kern sehen, die Notwendigkeit des wirtschaftlichen Umsturzes trat zutage, das Ammernmärchen von der Klassenharmonie verstummte vor dem Waffenklirren des Klassenkampfes. Die Bourgeoisie kriecht überall aus ihren Löchern hervor, um sich zur Niederwerfung der Revolution zu sammeln. Sie beginnt schon wieder mit den Mächten der Vergangenheit zu paktieren, um die Zukunftsmacht des Proletariat zu brechen.“ (ebd)

Innerhalb weniger Tage hatten sich im November 1918 in vielen deutschen Städten Arbeiter- und Soldatenräte gebildet, die sich größtenteils aus Anhängern von SPD und USPD zusammensetzten. Alle deutschen Monarchen und Fürsten mussten abdanken. Auch die militärischen Generalkommandos wurden entmachtet. Die SPD aber wollte vor allem die Macht der Räte brechen und den Parlamentarismus durchsetzen.

Sie tat alles, um eine erfolgreiche proletarische Machtergreifung wie in Russland zu verhindern, und verbündete sich dazu mit den reaktionärsten Militärs. Die Reaktion war sich dessen voll bewusst. Hatte sie doch SPD-Politiker wie Philipp Scheidemann schon gegen Kriegsende in die Regierung geholt, noch bevor der Kaiser abdankte.

Friedrich Ebert rief angesichts der Aufstandsentwicklung dazu auf, „Ruhe und Ordnung“ zu bewahren, und forderte die Soldaten auf, in ihre Kasernen zurückzukehren. Das Verspechen der Mehrheitssozialisten, den Sozialismus einzuführen, diente allein dazu, den Arbeitern Sand in die Augen zu streuen und statt einer Rätedemokratie die bürgerlich parlamentarische Herrschaft zu errichten. Dabei bedienten sie sich auch der schwankenden Haltung der in die revolutionäre Regierung, den Rat der Volksbeauftragten, eingetretenen USPD-Politiker.

In dem gleichen Brief an Luxemburg drückte Zetkin ihre Besorgnis über diese Entwicklung aus. Wieder ertöne der „Sehnsuchtsschrei nach der Monarchie“. Die Bourgeoisie wolle Demokratie nur insoweit sie ihren eigenen Interessen gegen das Junkertum dienlich sei. Den Arbeitern solle mit „Konzessiönchen“ der Mund gestopft werden. Sie warnt, dass die konstituierende Nationalversammlung, die die MSPD um jeden Preis gegen die Rätebewegung durchsetzen wollte, „der deckende Schild der bourgeoisen Gegenrevolution“ sei. Dahinter verstecke sich das Streben, „eine angebliche Volks- und Klassenharmonie zu konstruieren, in deren Schatten sich die Diktatur der Bourgeoisie einnisten und festigen kann“.

Zwar sieht sie die Lage des Klassenkampfs noch relativ optimistisch, vor allem weil der Weltkrieg ihn international entfesselt habe. Aber sie warnt:

„Die Frage steht dann, ob das Proletariat die Macht mit der Bourgeoisie teilen will, was letzten Endes darauf hinausläuft, auf die Macht zu verzichten, oder ob es kämpfen will. … Der größte Teil des Proletariats will sich unter Führung der Abhängigen [der Mehrheitsozialisten] mit Almosen der Macht begnügen. Aber es fragt sich doch, ob dieser Teil objektiv geschichtlich kann, was er subjektiv will. Ich sage, die Verhältnisse anworten darauf. Nein. Die Genügsamkeit müsste buchstäblich zur Selbstvernichtung des Proletariats führen.“ (S. 409)

Eine große Gefahr sieht sie in der Unentschlossenheit der USPD-Führung, in deren Brust nach wie vor „zwei Seelen“ stritten. Die Neigung sei da, auf „grundsätzliche Klarheit und revolutionäre Aktion“ zu verzichten. Trotzdem lehnt sie einen Bruch mit der USPD ab – ein verhägnisvoller Fehler. Die USPD-Führer Haase, Barth und Dittmann hatten nur eine Woche zuvor eine gemeinsame Regierung mit den Mehrheitssozialdemokraten Ebert, Scheidemann und Landsberg gebildet. Der Rat der Volksbeauftragten, wie sich diese Regierung nannte, sollte in den folgenden Wochen eine entscheidende Rolle dabei spielen, die Revolution abzuwürgen und zu unterdrücken. Zetkin schreibt:

„Die Aufgabe der Internationale [der Spartakusgruppe] ist es, die Massen voranzutreiben zu grundsätzlicher Erkenntnis und revolutionärer Aktion. Mit der USP, soweit diese revolutionär auftritt, ohne sie und gegen sie, wenn sie darauf verzichtet. Die Frage ist, wie wir diese Aufgabe am wirksamsten erfüllen können. Dem Verband der USP eingegliedert oder als selbständige Partei. Meinem Empfinden würde die reinliche Scheidung entsprechen, aber meine Auffassung der Lage verwirft sie für den Augenblick. Möglich, sogar wahrscheinlich, dass die Trennung unvermeidlich wird.“ (S. 440)

Zetkin fürchtet, dass eine sofortige Trennung „bei unserer notorischen Schwäche an führenden Menschen und Mitteln den Zugang zu den Massen erheblich erschweren“ könnte. Erleichtert stellt sie nach einem Telefonat mit Luxemburg fest, dass diese und Leo Jogiches ihre Meinung teilen. Sie kündigt an, soweit es ihre physischen Kräfte zuließen, werde sie sich an der öffentlichen Arbeit der Stuttgarter Spartakusgruppe beteiligen und sich weiterhin der Mobilisierung der Frauen widmen, die angesichts der Demobilisierung, der Arbeits- und Einkommenslosigkeit sowie der verzweifelten Ernährungslage besonders große Lasten zu schultern hätten.

Am Schluss des langen Briefs, des letzten im vorliegenden Band, schildert sie ihr eigenes Eingreifen am 9. November und den Tagen danach:

„Die Revolution habe ich Samstag bei den Soldaten mitgemacht [die an diesem Tag die württembergische Monarchie stürzten], dann Sonntag endlose Besprechungen und Sitzungen ohne Ergebnis und Wert. Montag war ich im Kriegsgefangenenlager Ulm, um die armen Teufel aufzuklären und zu beruhigen. Man fürchtete, sie würden ausbrechen, und die Militärgewalt war entschlossen, jede ‘Auflehnung’ mit Maschinengewehren niederzukartätschen. Ich hielt fünf Reden im Freien vor Franzosen, Italienern, Rumänen und Serben, Russen [und] den deutschen Wachmannschaften. Die Russen gaben mir einen herzlichen Gruß und Kuss für das revolutionäre deutsche Volk mit. An diesem Tag noch zwei Reden in Ulm auf dem Marktplatz und in Göppingen auf der Straße unter den Jahrmarktsbuden. Ich kam todmüde und heiter heim.“ (S. 441f)

In dem Dokument „Brennende Fraueninteressen“ vom Oktober 1918, mit dem der Briefteil abschließt, weist sie noch einmal darau hin, dass alles „Flick- und Stückwerk“ bleiben müsse, „so lange die kapitalistische Wirtschaft weiterbesteht, so lange das Privateigentum an Produktionsmitteln Sonderinteressen und Sondermacht einzelner schafft und die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen bewirkt“. Sie betont erneut, dass es „verkehrt und unmöglich“ wäre, „die Frage der Frauenarbeit in der Übergangswirtschaft“ als ein „Ding an und für sich“ zu sehen, „losgelöst von dem Ganzen, der allgemeinen sozialen Frage, im Gegenteil, sie kann nur in dem Zusammenhange dieses Ganzen richtig erfasst werden“. Über die bürgerliche „Übergangswirtschaft“ hinweg müssten die Frauen des arbeitenden Volks „die freie ausbeutungs- und unterdrückungslose Wirtschaft des Sozialismus sehen und suchen“.

Außer den bereits erwähnten Dokumenten zur Diskussion über die Russiche Revolution in der USPD befinden sich im Anhang noch ein Aufsatz von Jörg Schüttrumpf „Auf dem Weg zu den Bolschewiki“, ein hilfreiches kommentiertes Personenregister und ein geographisches Register, sowie ein annotiertes Verzeichnis zeitgenössischer Zeitschriften und Zeitungen, die ein Studium der Briefe und Dokumente und die wissenschaftliche Arbeit damit erleichtern.

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