Seit Wochen reißen die Diskussionen über eine Regierungskoalition von SPD, Linkspartei und Grünen nach der Bundestagswahl 2017 nicht mehr ab. Den Anstoß gaben die verheerenden Verluste der SPD und der Linkspartei bei den drei Landtagswahlen vom 13. März. Die SPD landete damals in zwei und die Linke in allen drei Bundesländern hinter der rechtsextremen AfD. Der Verzicht von Bundespräsident Joachim Gauck auf eine zweite Amtszeit und die Entscheidung der britischen Wähler für einen Austritt aus der EU gaben der Debatte über eine rot-rot-grüne Koalition weiteren Auftrieb.
Vor allem der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel und die gesamte Führung der Linkspartei werben für eine gemeinsame Regierung in Berlin. Mitte Mai traf sich Gabriel im Saarland erstmals mit Oskar Lafontaine, der in der SPD als Unperson gilt, seit er der Partei vor 17 Jahren den Rücken kehrte und später die Linkspartei mit gründete. Seither werben Lafontaine und seine Frau, die Linken-Fraktionsvorsitzende Sahra Wagenknecht, für ein Bündnis mit SPD und Grünen.
So erklärte Wagenknecht nach Gaucks Verzichtserklärung Anfang Juni: „Wir würden uns wünschen, dass die SPD den Mut hätte, sich aus der Umklammerung der Großen Koalition zu lösen und einen Kandidaten gemeinsam mit uns und den Grünen nicht nur vorzuschlagen, sondern auch durchzusetzen.“ Auch die beiden Vorsitzenden der Linken, Katja Kipping und Bernd Riexinger, bekundeten ihre Bereitschaft „zu einer Verständigung mit SPD und den Grünen über eine gemeinsame Kandidatur“.
Zehn Tage später rief SPD-Chef Gabriel in einem Gastbeitrag für den Spiegel zu einem „Bündnis progressiver Kräfte“ als Antwort auf den Aufstieg einer „radikalen bürgerlichen Rechten“ auf. Dies wurde allgemein als Einladung zur Zusammenarbeit an Die Linke und die Grünen interpretiert.
Die Grünen selbst sind in der Frage gespalten. Ein erheblicher Teil der Partei, die inzwischen in zwei westdeutschen Flächenstaaten im Bündnis mit der CDU regiert, würde auch auf Bundesebene eine Koalition mit den Konservativen bevorzugen.
Doch selbst wenn man von der Haltung der Grünen absieht, erscheint die Aussicht auf eine rot-rot-grüne Bundesregierung derzeit hochgradig spekulativ. Im gegenwärtigen Bundestag verfügen die drei Parteien zwar über eine Mehrheit. Nach der Bundestagswahl 2017 dürfte dies aber kaum mehr der Fall sein. Laut Umfragen werden alle drei zusammen nur noch von etwas mehr als 40 Prozent der Wähler unterstützt.
Doch wie dies in der Bundesrepublik schon öfter der Fall war, geht es beim Gefeilsche um neue Mehrheiten nicht nur um wahltaktische Schachzüge, sondern um einen Richtungswechsel der Politik.
So hatte sich 1969 die rechtslastige Wirtschaftspartei FDP mit der SPD zusammengetan, um Willy Brandts Ostpolitik zum Durchbruch zu verhelfen, die der deutschen Industrie dringend benötigte neue Märkte verschaffte. Und 1998 wurden erstmals die bisher pazifistischen Grünen in die Bundesregierung einbezogen, um die Rückkehr deutscher Soldaten auf die Kriegsschauplätze der Welt zu ermöglichen. Auch die Hartz-Gesetze, die in Deutschland einen riesigen Niedriglohnsektor schufen, waren das Werk der rot-grünen Koalition.
Daran knüpft das Projekt Rot-rot-grün jetzt an. Neben innenpolitischen Zielen verfolgt es eine Neuausrichtung der deutschen Außenpolitik, auf die Teile der herrschenden Eliten drängen. Im Mittelpunkt stehen dabei zwei Fragen: Die Reorganisation der Europäischen Union unter deutscher Vorherrschaft und die Neuorientierung der deutschen Außen- und Militärpolitik unabhängig von den USA.
In beiden Fragen gibt es zwischen den gegenwärtigen Regierungsparteien CDU, CSU und SPD erhebliche Differenzen, die sich teilweise auch quer durch die Parteien hindurch ziehen. Und in beiden Fragen gilt die Linkspartei als wichtige Stütze für eine Neuorientierung.
Wie stets wird der angestrebte Kurswechsel von wohltönenden Phrasen über Frieden, Demokratie und soziale Gerechtigkeit begleitet. Doch wer sich in der Politik orientieren will, muss lernen, zwischen solchen Phrasen und realen Zielen zu unterscheiden. Und hier steht Rot-rot-grün eindeutig für mehr Militarismus, mehr Staatsaufrüstung und weitere Angriffe auf soziale Rechte. In zahlreichen Interviews, Artikeln und Grundsatzpapieren haben sich die Wortführer der SPD und der Linkspartei dabei in den vergangenen Wochen gegenseitig die Bälle zugespielt.
So preschten der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel und der Präsident des Europaparlaments Martin Schulz (SPD) am Tag nach dem Brexit-Votum mit einem gemeinsamen Papier vor. Unter dem Titel „Europa neu gründen“ verlangen sie eine weitere Zentralisierung der EU unter deutscher Vorherrschaft. Angesichts der zunehmenden Handlungsunfähigkeit des Europäischen Rats der Staats- und Regierungschefs müsse die Europäische Kommission „zu einer wahren europäischen Regierung umgebaut“ werden.
Weitere Forderungen des Zehn-Punkte-Papiers lauten: Eine „wirtschaftspolitische Wende und ein Wachstumspakt für die EU“, wobei sich die Autoren ausdrücklich zum Euro-Stabilitätspakt bekennen, der verschuldete Staaten zu einem strikten Sparkurs zwingt; ein „ökonomisches Schengen“, d.h. der weitere Ausbau des europäischen Binnenmarkts; ein Auftreten der EU als „einheitliche regionale Ordnungsmacht“; eine wirkungsvolle Kooperation bei der inneren Sicherheit; der Aufbau eines „europäischen FBI“; und eine „effektive Sicherung der europäischen Außengrenzen“.
Das Papier stieß in der CDU auf Protest. Bundeskanzlerin Angela Merkel und Finanzminister Wolfgang Schäuble beharren auf der Führungsrolle der Staats- und Regierungschefs und wollen nationalistische Tendenzen innerhalb der EU nicht durch eine weitere Zentralisierung vor den Kopf stoßen.
Schäuble griff die EU-Kommission und deren Präsident Jean-Claude Juncker, der trotz seiner konservativen Parteizugehörigkeit in dieser Frage eher auf SPD-Kurs liegt, in einem Zeitungsinterview scharf an. „Wenn die Kommission nicht mittut, dann nehmen wir die Sache selbst in die Hand, lösen die Probleme eben zwischen den Regierungen“, drohte er am vergangenen Sonntag.
Schäuble äußerte außerdem die Befürchtung, der von der SPD vorgeschlagene „Wachstumspakt“ untergrabe seinen Sparkurs. Es könne nicht angehen, „die falsche Idee“ wieder zu beleben, „dass man mit neuen Schulden Wachstum auf Pump erzeugt“, sagte er.
Kurz nach Gabriel und Schulz veröffentlichten der deutsche und der französische Außenminister, beide ebenfalls Sozialdemokraten, ein eigenes Papier. Unter dem Titel „Ein starkes Europa in einer unsicheren Welt“ bezeichnen Frank-Walter Steinmeier und Jean-Marc Ayrault das britische Ausscheiden aus der EU als Chance für die Entwicklung einer von den USA unabhängigen europäischen Rüstungs- und Verteidigungspolitik.
Beide Papiere wurden von der Linkspartei begeistert begrüßt. Der Fraktionsvorsitzende Dietmar Bartsch lobte in der Brexit-Debatte des Bundestags ausdrücklich das Gabriel-Schulz-Papier. Es sei eine diametrale Abkehr von der aktuellen Politik, behauptete er. „Ich finde es vernünftig, dass wir den ersten Schritt zu einem anderen Europa gehen.“ Gegen China, Japan und Nordamerika habe „Europa nur gemeinsam eine Chance“. „Wenn man ein gemeinsames Europa will, dann darf man nicht zu viel reden, sondern dann muss man sofort handeln.“
Zwei Tage später versprach die Co-Fraktionsvorsitzende Sahra Wagenknecht Gabriel, der nach Griechenland reiste, ihre Unterstützung. Griechenland sei „ein guter Ort, um ein Programm für ein anderes Europa vorzulegen“, erklärte sie im Bundestag. „Wenn es Sigmar Gabriel ernsthaft um einen europäischen Neuanfang geht, um die Reduzierung von Ungleichheit und um neue europäische Regeln, die den Wohlstand und die soziale Sicherheit der Menschen über die Freiheit entfesselter Märkte stellen, hat er unsere Unterstützung.“ Es gehe um „einen grundlegenden Kurswechsel“.
Natürlich weiß Wagenknecht, dass die SPD nicht vom Spardiktat gegen Griechenland abrückt, das ihr eigener Parteifreund Alexis Tsipras umsetzt. Um keine Zweifel aufkommen zu lassen forderte die deshalb auch selbst: „In Griechenland muss wie in ganz Europa die öffentliche Verschuldung verringert werden“. Ihr Gerede über „soziale Sicherheit“ und „entfesselte Märkte“ dient lediglich dazu, den rechten Kern der Zusammenarbeit mit der SPD abzudecken.
Am deutlichsten hat Oskar Lafontaine die anti-amerikanische Stoßrichtung der angestrebten rot-rot-grünen Allianz formuliert. Anfang Juni beteiligte er sich an einer Kundgebung vor dem US-Luftwaffenstützpunkt Ramstein und erklärte dem Internetportal KenFM: „Die Vereinigten Staaten sind ein Oligarchen-System, das weltweit auf Rohstoff und Absatzmärkte aus ist, die militärisch gewonnen werden sollen.“ Die USA wollten „Russland einkreisen“, was „für jeden, der auf die Landkarte schaut, offensichtlich“ ist. Er forderte „ein Sicherheitssystem unter Einbeziehung Russlands und nicht die Konfrontation, die die Vereinigten Staaten seit vielen Jahren suchen“.
Auf seiner Facebook-Seite warb Lafontaine dafür, „an die besten Traditionen einer eigenständigen europäischen Außenpolitik anzuknüpfen, wie sie für Frankreich Charles de Gaulle und für Deutschland Willy Brandt entwickelt haben“. Bundeskanzlerin Merkel warf er vor, sie habe die „imperialen Ziele“ der Vereinigten Staaten nicht verstanden und sei „zu einer eigenständigen deutschen Außenpolitik nicht fähig“. Außenminister Steinmeier lobte er dagegen in den höchsten Tönen.
Dieser Anti-Amerikanismus, der im Kampf gegen den US-Imperialismus auf die Stärkung des deutschen Imperialismus und nicht auf die Einheit mit der amerikanischen Arbeiterklasse setzt, ist in jeder Hinsicht reaktionär.
Die Kampagne für eine rot-rot-grüne Koalition wird mit dem Herannahen der Bundestagswahl in gut einem Jahr voraussichtlich noch zunehmen. Sie wird mit allen möglichen sozialen und Friedensversprechen verziert werden, um Unzufriedene zu ködern. Doch sie führt in eine Sackgasse. Eine rot-rot-grüne Koalition wäre um keinen Deut fortschrittlicher als die bestehende rechte Regierung.