Vor dem NATO-Gipfel wachsen die Spannungen in Polen

Am 15. Mai haben sechs ehemalige polnische Verteidigungsminister, die zwischen 1997 und 2015 dieses Amt bekleideten, einen offenen Brief herausgegeben, in dem sie den Rücktritt des derzeitigen Verteidigungsministers, Antoni Macierewicz, fordern. Der Brief wirft ein Schlaglicht auf die wachsenden Spannungen innerhalb der herrschenden Elite Polens vor dem NATO-Gipfel, der vom 8. bis 9. Juli in Warschau stattfinden soll.

Polen hat über viele Jahre hinweg eine Schlüsselrolle bei der militärischen Einkreisung Russlands durch die NATO gespielt. Nun gibt es allerdings Befürchtungen, dass die hysterische Russophobie und der polnische Chauvinismus der gegenwärtigen Regierung der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) zu einem destabilisierenden Faktor bei den Kriegsvorbereitungen gegen Russland werden könnte. Es wird befürchtet, dass diese Politik zu Spannungen innerhalb der NATO selbst führt, insbesondere mit Deutschland und anderen europäischen Mitgliedern der Allianz.

In dem Brief steht: „Sämtliche Regierungen Polens haben sehr erfolgreich eine starke Position Polens innerhalb der NATO-Strukturen aufgebaut“, indem sie Polen als „stabiles, berechenbares und glaubwürdiges Land“ präsentiert haben. Unterschrieben wurde der Brief von Radosław Sikorski, Janusz Onyszkiewicz, Bronisław Komorowski, Bogdan Klich, Janusz Zemke und Tomasz Siemoniak. Es heißt dann weiter: „Innerhalb von nur wenigen Monaten hat die Regierung der PiS Polens Position in Europa und der NATO unterminiert.“

Der offene Brief missbilligt nachdrücklich eine Erklärung, die Macierewicz am 11. Mai im Parlament abgab. In dem Brief heißt es: „Es ist kaum zu glauben, dass ein Politiker, der ein so wichtiges Amt innehat, so leichtfertig das Potential der polnischen Armee in Verruf bringen kann.“

Macierewicz hatte erklärt, die Streitkräfte Polens hätten weder die Kapazität, die Sicherheit des polnischen Territoriums oder des Luftraums sicherzustellen, noch die Fähigkeit, zentrale Einrichtungen zu schützen. Er warf den früheren Regierungen Polens vor, „die Absichten der Russischen Föderation gegenüber Polen und den übrigen europäischen Ländern falsch eingeschätzt zu haben“. Infolgedessen, behauptete er, hätten sie die östliche Flanke des Landes „völlig ungeschützt“ gelassen.

Meinungsverschiedenheiten sind auch über die Pläne des Verteidigungsministeriums entstanden, extrem rechte paramilitärische Milizen zu einer nationalen Verteidigungstruppe mit der Bezeichnung „Freiwillige Heimatarmee“ zu machen. Diese Truppe, die mit schweren Waffen ausgerüstet ist, soll in die professionelle Armee integriert werden. Das Projekt ist schon sehr weit fortgeschritten und wird von einigen Berufsmilitärs als mögliche Reibungsfläche gesehen.

Macierewicz ist ein berüchtigter antisemitischer, rechter Nationalist und Antikommunist. Im Jahr 2006 war er in der Regierung von Jarosław Kaczyński für die Auflösung des alten militärischen Geheimdienstes und den Aufbau eines neuen verantwortlich. Zu dieser Zeit hat er „die meisten ehemaligen polnischen Außenminister“ beschuldigt, Sowjetagenten zu sein. Er hatte systematisch die Beförderung von Offizieren blockiert, die vor 1989 unter dem stalinistischen Regime ihre Ausbildung absolviert hatten. Als er zum Verteidigungsminister der neuen PiS-Regierung ernannt wurde, traten fünf Generäle (also jeder vierte) ab.

Sein ehemaliger Vorgesetzter, Radosław Sikorski, der 2006 Verteidigungsminister war, nannte ihn kürzlich in einem Twitter-Beitrag einen „Spinner“ und warf dem PiS-Führer Jarosław Kaczyński vor, ein politisch bankrottes „Frankenstein-Monster polnischer Politik“ wiederzubeleben.

Macierewiczs Behauptungen, die frühere Regierung der Bürgerplattform (PO) habe nichts unternommen, um sich auf einen Krieg mit Russland vorzubereiten, hat mit der Realität wenig zu tun. Das Weißbuch zur Nationalen Sicherheit der Republik Polen, das 2013 von mehr als 200 Experten und Analysten veröffentlicht wurde, erklärt, dass das strategische Potential und die Leistungsfähigkeit der polnischen Armee seit ihrer Aufnahme in die NATO im Jahr 1999 systematisch gesteigert wurde.

Tatsächlich hat Polen sein militärisches Potential seit Jahren aggressiv ausgebaut. Fast zwei Prozent des Bruttosozialprodukts wurden für die Verteidigung ausgegeben, und Polen hat zugesagt, den Wert auf drei zu Prozent zu erhöhen. Die PO-Regierung war maßgeblich daran beteiligt, Sanktionen gegen Russland zu fordern. Sie unterstütze den Staatsstreich in der Ukraine 2014 und die dauerhafte Stationierung von NATO-Truppen in Polen.

Trotz des Widerstands in der Bevölkerung unterzeichnete der Premierminister der PO, Donald Tusk, 2008 ein Abkommen zur Stationierung eines Raketenabwehr-Systems in Polen. Gegenwärtig ist Polen Gastgeber der Operation Anaconda, der größten NATO-Truppenübungen an der Grenze zu Russland seit dem Ende des Kalten Kriegs vor einem Vierteljahrhundert.

Die größten liberalen Publikationen, Gazeta Wyborcza und Newsweek, haben ihre antirussische Kriegshetze seit dem Staatsstreich in der Ukraine verschärft. Adam Michnik, eine führende Gestalt in der Anti-PiS-Oppositionsbewegung, erklärte 2015: „Putin kann nur durch den Einsatz von Gewalt gestoppt werden.“

Nachdem ein russischer Düsenjet im April in der Ostsee in die Nähe eines US-Kriegsschiffs geflogen war, erklärte der wichtigste außenpolitische Berater des ehemaligen Präsidenten Bronisław Komorowski (PO), Roman Kuźniar: „Man hätte auf das russische Flugzeug schießen sollen. Zu schade, dass die Amerikaner das nicht getan haben. Nicht abschießen, sondern nur schießen. Außenminister Kerry… hätte verkünden sollen, es das nächste Mal auf jeden Fall zu tun… genau das, was die Türken ein paar Monate vorher getan haben, und zwar zu Recht.“

Die Ausweitung der NATO und die Konzentration von Truppen in der Nähe der russischen Grenze, speziell die Stationierung von Truppen in unmittelbarer Nähe des Stützpunkts der russischen Ostseeflotte in Kaliningrad, haben eine extrem gefährliche Situation geschaffen. Jedes russische

Kampfflugzeug, das aus der oder in die Exklave Kaliningrad fliegt, kann als „Provokation“ betrachtet und als Vorwand benutzt werden, einen Militärschlag gegen Russland zu führen.

Wenn Macierewicz ein Frankenstein-Monster ist, dann ist es sicherlich das höchsteigene Produkt der NATO. Die Wiedereinführung des Kapitalismus, die Förderung von Nationalismus und die jahrelangen Provokationen gegen Russland haben solche rechten Figuren in den Vordergrund gerückt. Das sind Leute, die nicht zögern würden, einen Krieg anzuzetteln, der das Potential in sich trägt, die Bevölkerung Polens und großer Teile Europas auszulöschen.

Die Differenzen innerhalb der polnischen Elite sind taktischer Natur. Da die Spannungen zwischen der NATO und Russland wie auch innerhalb der NATO selbst zunehmen, liegt es im Interesse der Europäischen Union und der herrschenden Elite der USA zumindest bis auf weiteres eine gemeinsame Front gegen Russland aufrechtzuerhalten. Die Kritik der EU an Gesetzesänderungen, mit denen das polnische Verfassungsgericht entmachtet wird, haben das Regierungslager Polens verärgert und zu wütenden Verbalattacken auf die wichtigsten Verbündeten des Landes geführt.

Im Vorfeld des NATO-Gipfels im Juli hat PiS-Führer Kaczyński betont, dass die Verbündeten einen „sehr gravierenden Fehler“ machen, wenn sie sich auf die Seite der polnischen Opposition stellen. Gleichzeitig drängt er händeringend auf die dauerhafte Stationierung von Truppen der Allianz im Land. Er unterstellt, der ehemalige US-Präsident Bill Clinton sei geisteskrank, weil er die PiS-Regierung mit der von Putin verglichen und Polen einen undemokratischen autoritären Staat genannt hat. Premierministerin Beata Szydło greift die Europäische Kommission an, weil diese Polen und seine Flüchtlingspolitik kritisiert.

Die polnische Opposition befürchtet, dass solche Äußerungen Polen auf internationale Ebene isolieren. Die Mai-Ausgabe der Newsweek warf der PiS vor „eine anachronistische Sicht der internationalen Beziehungen“ zu haben, speziell was Europa angeht. Sie schreibt: „Die polnische Regierung kann auf sich gestellt nicht eines ihrer strategischen Ziele verwirklichen, dennoch stößt sie ihre ausländischen Partner und Institutionen zurück.“

Ein weiteres Element der Konflikte innerhalb der polnischen Elite ist die Verschärfung der Klassenspannungen im Land selbst. Obwohl Polen von bürgerlichen Wirtschaftswissenschaftlern üblicherweise als „Erfolgsgeschichte“ präsentiert wird, hat es sich nie von den Auswirkungen der kapitalistischen Restauration erholt.

Von 1989 bis 2003 wurden in diesem Land mit einer Bevölkerung von weniger als 40 Millionen Menschen zirka 3,2 Millionen Arbeitsplätze in der Industrie vernichtet. Zweieinhalb Millionen Menschen haben Polen verlassen, um im Ausland zu arbeiten, speziell in Deutschland und Großbritannien. Im Jahr 2015 lag das durchschnittliche Nominaleinkommen bei 904 Euro im Monat. Das ist weniger als die Hälfte des Durchschnittseinkommens in der EU von 2.299 Euro. Trotz des Wirtschaftswachstums bleibt die Arbeitslosenquote bei zehn Prozent, unter Jugendlichen liegt sie bei 25 Prozent.

Nur eine schmale Schicht des Groß- und Kleinbürgertums hat von der Integration in die EU profitiert. Sie ist die Hauptbasis der offiziellen Opposition und der PO.

Die PiS war mit einer Mischung aus rechtem Nationalismus und sozialer Demagogie in der Lage, von der sozialen Unzufriedenheit zu profitieren, speziell in den ärmeren ländlichen Gebieten. Aber sie weiß, dass das Land in hohem Maße von der EU abhängig ist. Die EU ist die Hauptquelle von finanziellen Zuschüssen und mit 80 Prozent der Exporte sowie 75 Prozent der Importe ihr wichtigster Handelspartner. Außerdem plant die Regierung weitere soziale Angriffe.

Das Umschreiben der Geschichte, um extrem rechte autoritäre Diktatoren zu glorifizieren, das Herumtrampeln auf demokratischen Rechten, die Einschüchterung der Bevölkerung durch Massenüberwachung und der Aufbau von paramilitärischen Milizen sind Vorbereitungen auf einen brutalen Krieg gegen die Arbeiterklasse.

Loading