EU-Türkei-Gipfel riegelt Flüchtlingsrouten ab

Ein Sondergipfel der 28 EU-Mitglieder und der Türkei hat am Montag ein ganzes Bündel von Maßnahmen beschlossen, um die Flüchtlingsrouten nach Europa hermetisch abzuriegeln.

  • Die sogenannte Westbalkanroute, auf der im vergangenen Jahr mehrere hunderttausend Flüchtlinge über Griechenland ins Zentrum Europas gelangt waren, wird mit dem offiziellen Segen der Europäischen Union „geschlossen“.
  • Griechenland erhält mehrere hundert Millionen Euros sowie personelle und logistische Unterstützung, um gestrandete Flüchtlinge in Lager zu sperren, zu registrieren und zurückzuschicken.
  • Die Ägäis zwischen der türkischen Küste und den griechischen Inseln wird von der Nato kontrolliert, die in enger Zusammenarbeit mit Frontex und der türkischen Küstenwache die Fluchtwege über das Meer unterbindet.
  • Die Türkei hindert Flüchtlinge daran, Richtung Europa aufzubrechen und nimmt Flüchtlinge, denen die Überfahrt nach Griechenland trotzdem gelungen ist, wieder zurück. Sie erhält dafür mehrere Milliarden Euro sowie Visa-Erleichterungen für türkische Staatbürger und beschleunigte Verhandlungen über eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union.

Der Entwurf der Abschlusserklärung des Gipfels lag den Medien bereits vor, bevor das Treffen begonnen hatte. Im Verlauf des Tages kam es dann allerdings zu unvorhergesehenen Schwierigkeiten, insbesondere in den Verhandlungen mit der Türkei, so dass der Gipfel bis in die Nacht hinein andauerte. Dabei ging es aber um Einzelheiten und nicht um die Grundlinien der eingeschlagenen Politik, die vorher sorgfältig ausgearbeitet worden waren.

Für die Flüchtlinge, die versuchen, den Kriegen in Syrien, Irak und Afghanistan zu entkommen, hat der Gipfel verheerende Folgen. Sie werden der Willkür von Polizei und Behörden ausgeliefert, gegen ihren Willen in Lager eingesperrt und schließlich wieder in ihre Herkunftsländer zurücktransportiert. Sie werden gezwungen, noch gefährlichere und teurere Fluchtrouten zu wählen, was die Zahl der Todesopfer weiter in die Höhe treiben wird.

Der Gipfel entlarvt den Mythos von der sogenannten „Willkommenskultur“, der der deutschen Bundeskanzlerin angedichtet wird, seit sie sich im vergangenen Jahr bereit erklärt hatte, Flüchtlinge, die in Ungarn unter unmenschlichen Bedingungen festsaßen, nach Deutschland weiterreisen zu lassen.

In Wirklichkeit ging es Merkel nie um Humanität, wenn sie eine einseitige Abriegelung der innereuropäischen Grenzen ablehnte und sich für eine „europäische Lösung“ aussprach. Sie fürchtete vielmehr, dass die Rückkehr zu Grenzkontrollen im Schengenraum unabsehbare Folgen für die deutsche Wirtschaft haben und langfristig die Europäische Union gefährden würde, von der Deutschland stark profitiert.

Die Exporterfolge der deutschen Industrie im letzten Jahrzehnt beruhen nicht zuletzt darauf, dass sie Teile der Produktion nach Osteuropa ausgelagert hat, wo die Löhne nur einen Bruchteil der deutschen betragen. Die Produktionsstätten sind grenzübergreifend eng verzahnt und auf pünktliche Lieferungen angewiesen. Die EU-Kommission hat kürzlich ausgerechnet, dass flächendeckende Grenzkontrollen im Schengenraum jährlich bis zu 18 Milliarden Euro kosten könnten. Ein großer Teil dieser Kosten resultiert aus längeren Fahrt- und Wartzeiten für Lkw.

Wie Merkels „europäische Lösung“ aussieht, zeigt nun der Gipfel in Brüssel. Zu seinen Beschlüssen zählt auch, bis Ende des Jahres „einen normal funktionierenden Schengenraum wiederherzustellen“, also die Grenzkontrollen, die Österreich und einige Balkanstaaten einseitig und gegen den Willen Brüssels und Berlins eingeführt haben, wieder abzuschaffen. Voraussetzung dafür ist die hermetische Abriegelung der EU-Außengrenzen.

Im vorbereiteten Gipfelpapier heißt es: „Irreguläre Ströme von Migranten entlang der Route des westlichen Balkans enden; diese Route ist jetzt geschlossen.“ Medienberichten zufolge soll sich Merkel gegen diese Formulierung gesträubt haben. Aber dabei ging es lediglich darum, das Gesicht zu wahren. In Wirklichkeit ist die Route bereits blockiert und Merkel hatte schon vor Tagen unmissverständlich erklärt, dass sie anders als letztes Jahr in Ungarn nicht bereit sei, Flüchtlingen, die unter unmenschlichen Bedingungen an der griechisch-mazedonischen Grenze vegetieren, die Durchreise nach Deutschland zu erlauben.

Griechenland fällt nun die Aufgabe zu, als Auffangbecken und Abschiebegefängnis an der EU-Außengrenze zu dienen. Ein Artikel der Welt stellte die treffende Frage: „Wird Griechenland jetzt zum Nauru Europas?“ Auf der Pazifikinsel Nauru sperrt Australien Flüchtlinge ein, die so daran gehindert werden, jemals australischen Boden zu betreten. Die Syriza-Regierung wird für diese Rolle mit einigen hundert Millionen Euro aus EU-Kassen und dem Hinweis entlohnt, man werde vielleicht bei der Einhaltung der von der Troika diktierten Sparauflagen etwas mehr Nachsicht zeigen.

Noch verhängnisvoller ist die Entscheidung, das größte Militärbündnis der Welt zur Absperrung der Fluchtwege auf der Ägäis einzusetzen. Der Nato-Einsatz war schon im Februar vereinbart worden, zur endgültigen Einigung kam es aber aufgrund von Spannungen zwischen Griechenland und der Türkei erst kurz vor Beginn des jüngsten Gipfels.

Doch jetzt ist das deutsche Führungsschiff „Bonn“ des ständigen maritimen Einsatzverbandes der Nato (SNMG 2) unterwegs, um Position zwischen der griechischen Insel Lesbos und dem türkischen Festland einzunehmen. Auf dem Schiff unter dem Kommando von Admiral Jörg Klein sind rund 210 Soldaten im Einsatz.

Auch Frankreich und Großbritannien schicken Schiffe, um den Einsatz zu unterstützen. Obwohl es nicht Mitglied des Schengenraums ist, um dessen Schutz es angeblich geht, schickt London gleich mehrere Boote, darunter auch solche mit Hubschraubern an Bord, wie Regierungschef David Cameron in der Nacht zum Montag persönlich mitteilte.

In orwellscher Sprache wird der Nato-Einsatz als Kampf gegen „Schlepperkriminalität“ deklariert. Tatsächlich geht es nicht um den Kampf gegen Kriminelle, sondern um den Stopp von Flüchtlingen, die an der Überfahrt gehindert und in die Türkei zurückgebracht werden sollen. Die Nato arbeitet dabei eng mit der europäischen Grenzschutzagentur Frontex und der türkischen Küstenwache zusammen. So wird ein Präzedenzfall für die Militarisierung der Außengrenze der Festung Europa geschaffen.

Die Schlüsselrolle bei der Abschottung der europäischen Außengrenze ist aber der Türkei zugedacht. Obwohl sich dort bereits 2,7 Millionen Flüchtlinge befinden, soll sich das Land verpflichten, alle Flüchtlinge, denen die lebensgefährliche Überfahrt nach Griechenland gelingt, wieder zurückzunehmen. Viele Betroffene sollen dabei als „Wirtschaftsflüchtlinge“ deklariert und aus der Türkei in ihr Heimatland – etwa Afghanistan – abgeschoben werden.

Als Gegenleistung will die EU einige Flüchtlinge direkt aus der Türkei übernehmen. Das gilt allerdings nur für eine Reihe freiwilliger Länder, da sich zahlreiche EU-Mitglieder weigern, Flüchtlinge in ihr Land zu lassen.

Vor allem Deutschland hatte sich bemüht, die Türkei für diese Rolle zu gewinnen. Zahlreiche Diplomaten und EU-Ratspräsident Donald Tusk reisten deshalb vor dem Gipfel nach Ankara. Bundeskanzlerin Merkel traf ihren Amtskollegen Ahmet Davutoglu bereits am Sonntagabend zu stundenlangen Gesprächen. Das die türkische Regierung am Tag zuvor gewaltsam die Tageszeitung Zaman übernahm, eine Frauendemonstration niederknüppelte und im Osten des Landes einen brutalen Krieg gegen die kurdische Bevölkerung führt, wurde dabei großzügig übersehen.

Doch beim Mittagessen mit den EU-Regierungschefs am Montag stellte Davutoglu eine Reihe neuer Forderungen, die die sorgfältig vorbereitete Gipfelregie durcheinanderbrachten.

Statt der längst vereinbarten, aber noch nicht ausgezahlten drei Milliarden verlangte er bis 2018 sechs Milliarden Euro zur Finanzierung der Flüchtlings- und Abschottungspolitik. Er erklärte sich bereit, alle „irregulären Migranten“ wieder zurückzunehmen, die von der Türkei aus auf griechische Inseln übersetzen, wenn die EU dafür die Kosten trage und für jeden Syrer, der von Griechenland in die Türkei zurückgeführt werde, ein Syrer von der Türkei in die EU umsiedle.

Schließlich forderte er die Einrichtung „sichere Zonen“ für Flüchtlinge auf syrischem Boden. Bereits zuvor hatte Präsident Erdogan vorgeschlagen, in Syrien auf einer Fläche von 4500 Quadratkilometern eine „Flüchtlingsstadt“ zu bauen. Dies wäre nur durch eine direkte Militärintervention in Syrien möglich. Die Nato würde so direkt gegen den syrischen Präsidenten Assad und seine russischen Verbündeten in Stellung gebracht, und Ankara könnte die Entstehung eines zusammenhängenden Kurdengebiets in Syrien verhindern.

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