Ulrich Chaussy, „Oktoberfest – Das Attentat: Wie die Verdrängung des Rechtsterrors begann“, Verlag Ch. Links, 2015
„Ich halte nichts von einer Recherche, bei der vorher schon feststeht, was hinterher herauskommen soll.“ Diese eher beiläufige Aussage von Ulrich Chaussy auf Seite 168 begründet die Qualität der Neuauflage seines Buches „Oktoberfest – Das Attentat: Wie die Verdrängung des Rechtsterrors begann“.
Der Journalist und Autor analysiert gewissenhaft Berge von Akten, interviewt Beteiligte – Opfer, Zeugen, Ermittler und Vertreter von Behörden –, fragt nach, zweifelt die schnellen Erklärungen der Ermittler an, deckt Ungereimtheiten ebenso wie das skandalöse Verhalten von führenden Vertretern des Staatsschutzes und der Ermittlungsbehörden auf. Er beschreibt detailliert die Vorgänge und zieht gut begründete Schlüsse.
„Ein Lehrstück des investigativen Journalismus“, heißt es in der Presseinformation des Verlags. Dem ist zuzustimmen.
Die zentralen Ergebnisse von Chaussys jahrzehntelangen Recherchen: Die zuständigen staatlichen Stellen waren nicht willens, Ermittlungen in der rechtsextremistischen Szene zu führen; der Staatsschutz und womöglich andere Behörden haben gezielt Ermittlungen sabotiert; die Durchdringung damaliger rechtsterroristischen Gruppen – insbesondere der „Wehrsportgruppe Hoffmann“ – durch Verfassungsschutzbehörden wird nach wie vor geheim gehalten. Chaussy zieht mehrmals Parallelen zu den Morden des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU).
Das am 16. Dezember 2015 erschienene Buch ist eine erweiterte und aktualisierte Neuausgabe des gleichnamigen Buches aus dem Jahr 2014, das sich auf ein Buch aus dem Jahr 1985 stützt. Bei den Beschreibungen des Tatablaufs und der Ermittlungen gab es keinen Änderungs- oder Korrekturbedarf. „Hingegen schien es mir an einigen Stellen angemessen, die Kritik am Handeln der behördlichen Ermittler, an der Verengung und manipulativen Vereinseitigung ihrer Nachforschungen auf die Alleintäterthese hin noch deutlicher herauszuarbeiten“, schreibt Chaussy.
Seine Recherche zum bislang größten Terroranschlag in Deutschland, bei dem am 26. September 1980 auf dem Münchener Oktoberfest dreizehn Menschen starben und über 200 zum Teil schwer verletzt wurden, begann der Journalist im Sommer 1983. Damals bekam er einen Teil der Ermittlungsakten zugespielt. Nur ein halbes Jahr zuvor, im November 1982, war das Verfahren vom damaligen Bundesanwalt Kurt Rebmann eingestellt worden.
Trotz zahlreicher konkreter Hinweise auf mutmaßliche Hintermänner oder Mitattentäter aus der rechtsextremen militanten Szene hatte sich die Bundesanwaltschaft sehr schnell darauf festgelegt, den jungen Gundolf Köhler zum Alleintäter zu erklären. Köhler selbst war von der Bombe, die er in einem Papierkorb abgelegt hatte, getötet worden.
Chaussy hatte schon 1985 nachgewiesen, dass die Alleintäter-These haltlos ist. Mehrere Augenzeugen hatten Köhler zuvor mit anderen Personen am Anschlagsort gesehen. Zunächst waren auch die Ermittler von Mittätern ausgegangen, und zwar aus dem rechtsextremen Umfeld. Denn Köhler hatte Kontakte zur erst Anfang 1980 verbotenen rechtsextremen paramilitärischen „Wehrsportgruppe Hoffmann“.
Der Autor beschreibt ausführlich das Vorgehen des damaligen bayerischen Staatsschutzchefs Hans Langemann, das dann auch eine zentrale Rolle im Film Der blinde Fleck von Daniel Harrich spielte. Langemann hatte am Tag nach dem Anschlag 1980 bewusst die vom Generalbundesanwalt verhängte Nachrichtensperre gebrochen, die Presse über die Identität des Attentäters Gundolf Köhler und dessen Verbindungen zur WSG Hoffmann informiert und so die rechten Kreise gewarnt.
Sehr schnell nach dem Attentat, ab Anfang November 1980, wechselten die Ermittlungsbehörden zur Alleintäterthese. Die Aussagen eines engen Köhler-Freundes, Max Gärtner, der von Diskussionen über einen Anschlag auf das Oktoberfest, von Bauteilen einer Bombe im Keller von Köhler und von den rechten politischen Zielen eines Anschlags berichtete, verwarfen die Ermittler. Gärtner habe zum Zeitpunkt der Vernehmung an einer psychischen Erkrankung gelitten.
Sie stützten sich dafür voll und ganz auf die Aussagen eines zweiten engen Köhler-Freundes, Peter Wiegand. Danach lag das Motiv für den Bombenanschlag in den Schwierigkeiten Köhlers mit Frauen sowie im Studium. „Ich bin mir sicher, dass Gundolf [Köhler] mit Sicherheit kein politisches Motiv für die Tat hatte“, sagte Wiegand. Der Anschlag sei „das Fazit einer persönlichen Katastrophe“.
Wiegand war nach den Bekundungen anderer Zeugen „politisch rechts eingestellt“. Bevor sie vernommen wurden, hatte er sich mit Gärtner abgesprochen, von den Diskussionen mit Köhler nichts zu sagen. Und bei einer Durchsuchung von Wiegands Wohnung wurde ein Gesetzestext gefunden, in dem der § 138 des Strafgesetzbuchs, „Nichtanzeige geplanter Straftaten“, deutlich unterstrichen war. Dennoch wurde die Aussage Wiegands „von den Ermittlern zur offiziell anerkannten Version des Tatgeschehens erhoben“.
Auch dass zwei rechtsextreme Mitglieder der WSG Hoffmann sich selbst des Anschlags bezichtigt hatten, wurde abgetan. Sowohl Walter Ulrich Behle, V-Mann des nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzes, als auch Stefan Wagner wurden von den Ermittlern gedeckt. Behles Aussage zum Attentat („Das waren wir“) sei eine „alkoholbedingte Aufschneiderei“ gewesen, Wagners Bekenntnis („Ich war bei der Aktion gegen das Oktoberfest dabei“), kurz bevor er sich auf der Flucht vor der Polizei selbst richtete, soll falsch gewesen sein.
Die Bundesanwaltschaft erklärte, Wagner habe für den Tag des Anschlags ein eindeutiges Alibi gehabt. Chaussy berichtet dagegen, ein hoher Beamter des Bundeskriminalamtes habe gesagt, „man habe das Alibi Stefan Wagners aus taktischen Gründen nie überprüft“. Er stützt sich dabei auf Reporter des Stern, die Wagners Selbstbezichtigung herausgefunden hatten. Hier stehe bis heute Aussage gegen Aussage, so Chaussy.
Die Kapitel über den mysteriösen „Tod des unerwünschten Hauptzeugen“ Frank Lauterjung, der nicht ganz zwei Jahre nach dem Oktoberfest-Attentat im Alter von 38 Jahren starb, werfen viele Fragen auf.
Lauterjung hatte Köhler und zwei Begleiter kurz vor dem Anschlag aus unmittelbarer Nähe sehr genau beobachtet. Er war der einzige Zeuge, der mögliche Mittäter auf Fotos oder in Gegenüberstellungen hätte identifizieren können. Doch als die Ermittler sich auf die Alleintäterthese festlegten, machten sie Lauterjung klar, dass sie seinen Aussagen keinen Glauben schenkten.
Der zuvor kerngesunde Zeuge bekam daraufhin nicht näher beschriebene Ängste und immer stärkere Herzprobleme. Am 6. August 1982, drei Tage nachdem sich WSG-Mitglied Stefan Wagner selbst bezichtigt und umgebracht hatte, lag Lauterjung tot in seiner Wohnung. Eine Ärztin stellte einen natürlichen Tod fest. Eine sonst übliche Obduktion der Leiche unterblieb, der Leichnam wurde schon zwei Tage später eingeäschert.
Chaussy geht auch auf den Doppelmord an Shlomo Lewin und seiner Lebensgefährtin Frieda Poeschke am 19. Dezember 1980 ein, zu dem er 2010/2011 erneut recherchierte. Lewin war von 1977 bis 1979 Vorsitzender der jüdischen Gemeinde in Nürnberg. Das Mitglied der WSG Hoffmann, Ulrich Behrend, soll die beiden im Auftrag von WSG-Chef Karl-Heinz Hoffmann in deren Wohnung erschossen haben. Hoffmann wurde jedoch von diesem Vorwurf freigesprochen. Behrend konnte sich nicht äußern, er starb 1981 im Libanon, wohin er sich mithilfe von Hoffmann abgesetzt hatte. Angeblich beging er dort Selbstmord.
Zugute kam Hoffmann nicht nur der Tod des Mörders, sondern auch eine mediale Kampagne, die „die moralische Integrität des Gewaltopfers Shlomo Lewin“ infrage stellte. Chaussy zitiert aus einem „äußerst verstörenden“ Artikel der Nürnberger/Erlanger Nachrichten gleich nach dem Mord: „Nach dem Tod des jüdischen Verlegers wird über Ungereimtheiten seiner schillernden Vergangenheit gerätselt“. Anschließend werden unterschiedliche „Gerüchte“ über Lewin kolportiert. Das hatte, schreibt Chaussy, „damals eine ähnliche Wirkung, wie dies später bei der Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrunds zu beobachten war“.
Die Kampagne beschädigte die Solidarisierung mit dem Opfer und das Verlangen nach vollständiger Aufklärung. Chaussy berichtet, dass der Nürnberger Historiker Andreas Clemens 2010 für eine geplante wissenschaftliche Arbeit die Ermittlungsakten der Nürnberger Justiz einsehen konnte. Die ersten Bände der etwa 15.000 Seiten umfassenden Ermittlungsakten „drehen sich schwerpunktmäßig um Nachforschungen in der Jüdischen Gemeinde zu Nürnberg“.
Der Beharrlichkeit Chaussys und des Opferanwalts Werner Dietrich ist es zu verdanken, dass das Oktoberfestattentat nie in Vergessenheit geraten ist und das Verfahren 2014 von der Bundesanwaltschaft wieder aufgenommen werden musste. Die WSWS hat seitdem darüber mehrere Artikel geschrieben und im Dezember letzten Jahres auch ein Interview mit Ulrich Chaussy geführt. In seinem neuen Buch beschreibt er ausführlich in sieben Kapiteln den Stand der Erkenntnisse.
Schon Chaussys erste Beschäftigung mit dem Attentat vor über 32 Jahren warf so viele Fragen auf, die bis heute einer Beantwortung harren, weckten so starke Zweifel an der offiziellen Version, dass Chaussy seine Recherchen auch in Zukunft weiterführen wird. Denn bis heute melden sich Hinweisgeber und Zeugen. „Meine Recherchen gehen jedenfalls weiter. […] Es bleibt spannend“, endet sein Buch.
Chaussys Buch von 1985 „ist ausgiebig rezensiert und gelobt – und wenig verkauft worden“, schreibt der Autor. Seine überabeitete Ausgabe von 2015 verdient eine große Leserschaft.