Bei der vorgezogenen Parlamentswahl in Griechenland, die der Parteichef und ehemalige griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras im August angesetzt hatte, wurde Syriza laut vorläufigem Endergebnis erneut stärkste Kraft.
Tsipras kehrt auf der Grundlage eines politischen Programms zurück an die Macht, das, zumindest oberflächlich, das genaue Gegenteil des Programms ist, mit dem Syriza im Januar 2015 ins Amt kam. Damals gewann die Partei die Wahl mit dem Versprechen, die Sparmaßnahmen zu kippen, die von der Europäischen Union und dem internationalen Finanzkapital als Bedingung für die letzten beiden Rettungsabkommen durchgesetzt wurden. Jetzt kehrt Tsipras ins Amt zurück, um noch weitergehende Sparmaßnahmen umzusetzen, die er als Bedingung für ein drittes Rettungspaket akzeptieren musste.
Die gestrige Wahl war der dritte Urnengang in diesem Jahr. Im Januar hatte die griechische Bevölkerung Tsipras und Syriza aufgrund des weit verbreiteten Irrglaubens gewählt, sie würden gegen den Sparkurs kämpfen. Im Juli stimmte sie in einem Referendum, zu dem die Syriza-Regierung aufgerufen hatte, mit großer Mehrheit gegen den Sparkurs. Allerdings machte Tsipras kaum eine Woche später eine Kehrtwende und akzeptierte die Sparauflagen, die ihm von der sogenannten „Troika“ – der Europäischen Union, dem Internationalen Währungsfonds und der Europäischen Zentralbank – diktiert wurden.
Dass Syriza den Willen der Bevölkerung missachtet hat, den diese im Referendum zum Ausdruck gebracht hatte, war nur ein weiterer Schritt in ihrem Abrücken vom Anti-Austeritäts-Programm. Der Prozess begann fast direkt nach ihrem Wahlsieg im Januar. Nur einen Monat nach ihrer Amtsübernahme unterzeichnete Syriza ein Abkommen mit der EU, laut dem sie die bis dahin verhängten Sparmaßnahmen beibehalten und neue verhängen musste.
Dieser Verrat ist eine wichtige strategische Erfahrung für die Arbeiterklasse in Griechenland und weltweit. Sie entlarvt das bösartige, arbeiterfeindliche Wesen der Pseudolinken an der Macht. Hinter Syrizas populistischem Gerede verbirgt sich eine bürgerliche Partei, deren Mitglieder sich aus privilegierten Schichten des oberen Kleinbürgertums rekrutieren und die sich schnell als Feind der Arbeiter erwiesen hat.
Bei der Wahl am Sonntag stimmte eine klare Mehrheit von 45,2 Prozent der griechischen Wählerschaft mit den Füßen ab und ging nicht zur Wahl. Diese Rekordzahl liegt neun Prozent höher als im Januar und ist angesichts der Tatsache, dass in Griechenland Wahlpflicht besteht, noch bedeutsamer.
Die Rekordquote der Wahlenthaltung am Sonntag ist ein klarer Ausdruck der wachsenden Entfremdung der Masse der arbeitenden Bevölkerung vom ganzen politischen Establishment in Griechenland: von den alten, diskreditierten und geschrumpften Parteien, die Griechenland in den letzten 40 Jahren dominiert haben, Nea Dimokratia (ND) und Pasok, sowie von der neuen, angeblich „linken“ Syriza.
Bei der Wahl am Sonntag wurde deutlich, ist, dass sich keine Partei als glaubwürdiger Gegner des Sparkurses darstellen kann. Keine kann sich zum Sprecher des Willens der arbeitenden Bevölkerung machen und einen Kampf gegen das kapitalistische System führen, das für die Massenarbeitslosigkeit und Massenarmut der letzten Jahre verantwortlich ist. Dieser Wille hatte sich bei dem Referendum im Juli deutlich geäußert.
Millionen von Griechen wussten, dass die Wahl nichts entscheiden würde. Alle grundlegenden Entscheidungen über die Bedingungen, unter denen sie in Zukunft leben werden, wurden bereits hinter ihrem Rücken in dem Abkommen getroffen, das Syriza im Juli mit Griechenlands internationalen Gläubigern ausgehandelt hatte. Syriza, die 35 Prozent der Stimmen erhielt, und ihr stärkster Rivale ND mit 28 Prozent, verpflichteten sich gleichermaßen, die drastischen Sparmaßnahmen umzusetzen, die ihnen dieses Abkommen diktiert.
Der Wahlkampf von ND bestand größtenteils darin, Syriza für ihre „falschen Versprechen“ und ihre „amateurhafte“ Umsetzung der Wirtschaftspolitik zu kritisieren. Die Aussicht auf einen „professionelleren“ Angriff auf den ohnehin schon dezimierten Lebensstandard der Bevölkerung machte sie für griechische Wähler nicht gerade zu einem Anziehungspunkt.
Syriza wird im griechischen Parlament voraussichtlich 145 Sitze erhalten und damit die Mehrheit knapp verfehlen. Sie wird die Koalition fortsetzen, die sie im Januar mit den Unabhängigen Griechen gebildet hatte, einer rechten Partei, die auf immigrantenfeindliche und antisemitische Demagogie setzt. In Tsipras' letzter Regierung hatte diese reaktionäre politische Tendenz de facto die Kontrolle über die Streitkräfte des Landes inne.
Tsipras trat am Sonntagabend in der Syriza-Wahlkampfzentrale auf und schüttelte dem Parteichef der Unabhängigen Griechen, Panos Kammenos, vor einer jubelnden Menge von Syriza-Anhängern die Hand. Zusammen mit den zehn Sitzen der rechten Partei wird das Bündnis eine knappe Mehrheit besitzen.
Die Wiederwahl von Tsipras und Syriza wurde von den kapitalistischen Führern Europas als Schritt zu mehr „Stabilität“ und „Kontinuität“ gefeiert. Der französische Präsident Francois Hollande äußerte sich positiv über das Wahlergebnis und erklärte, es sei ein „wichtiges Ergebnis für Griechenland, das jetzt in eine Periode der Stabilisierung mit einer soliden Mehrheit eintreten wird.“
Der niederländische Finanzminister und Präsident der Eurogruppe, Jeroen Dijsselbloem, gratulierte Tsipras und erklärte, er sei „bereit, eng mit den griechischen Behörden zusammenzuarbeiten und Griechenland weiterhin bei seinen ehrgeizigen Reformbemühungen zu begleiten.“
Der deutsche Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz, äußerte sich ähnlich: „Jetzt ist schnell eine solide Regierung vonnöten, die bereit ist zu liefern.“ Und der EU-Wirtschaftskommissar Pierre Moscovici äußerte die Zuversicht, dass Tsipras den Sparkurs wie versprochen verschärfen werde. „Ab Montag sind wir zur Zusammenarbeit bereit, um das Programm zur Reformierung der griechischen Wirtschaft umzusetzen.“
Der britische Daily Telegraph fasste die Stimmung des internationalen Finanzkapitals in einem Artikel mit dem Titel „Nervöse Gläubiger atmen nach Tsipras Wiederwahl kurz und erleichtert auf“ zusammen. In dem Artikel hieß es u.a.: „Griechenlands internationale Gläubiger begrüßen die eindeutige Wiederwahl des ehemaligen Ministerpräsidenten Alexis Tsipras am Sonntagabend angesichts der Befürchtung, der linke Ministerpräsident könne sein Versprechen nicht einhalten, im Euro zu bleiben… Die Wiederwahl des populären Ministerpräsidenten wird Investoren erfreuen, die sich auf eine Periode längerer politischer Unsicherheit und brüchiger Koalitionsverhandlungen eingestellt hatten, weil Umfragen ein knappes Ergebnis vorhergesagt hatten.“
Syrizas Sprecherin Olga Gerovassili versprach, alle diese Erwartungen zu erfüllen: „Unsere Regierung wird eine vierjährige Amtszeit mit einer starken Parlamentsmehrheit ableisten und das Programm durchsetzen, das sie versprochen hat. Sie wird die harten Verhandlungen mit den Gläubigern fortsetzen. Sie weiß, dass dies der Beginn eines Kampfes ist.“
Dieser „Kampf“ wird sich gegen die Arbeiterklasse richten und in seinem Verlauf werden unweigerlich zunehmend die staatlichen Unterdrückungsinstrumente eingesetzt werden, um eine Politik durchzusetzen, die von der Masse der griechischen Arbeiter entschieden abgelehnt wird.
Ein unbestreitbarer Faktor hinter dem Timing der vorgezogenen Wahl war Tsipras Wunsch, sie hinter sich zu bringen, bevor eine Reihe neuer Sparmaßnahmen in Kraft treten. Die Regierung hat die Aufgabe, zwischen September und Oktober, wenn Griechenland eine Überprüfung durch seine Gläubiger bevorsteht, die Renten- und Sozialversicherungssysteme weiter auszuhöhlen, eine Reihe von Steuern zu erhöhen, weitere Privatisierungen durchzuführen und einen Haushaltsplan für 2016 aufzustellen, der weitere umfassende Kürzungen beinhalten wird.
Bezeichnenderweise war die Partei mit dem drittgrößten Anteil an den abgegebenen Stimmen am Sonntag die faschistische Goldene Morgenröte, die sich als Gegnerin des Sparkurses darstellt und versucht, aus der Wut der Bevölkerung über Syrizas Kapitulation vor den Sparforderungen der EU Kapital zu schlagen. Obwohl Teile ihrer Parteiführung wegen mörderischer Gewalttaten im Gefängnis sitzen, gewann die Partei etwa 7,2 Prozent der Stimmen. Das ist ein moderater Zuwachs und bedeutet neunzehn Sitze, zwei mehr als bei der Wahl im Januar.
Die Volkseinheit, eine neue Partei, die von ehemaligen Mitgliedern der Syriza-Fraktion Linke Plattform gegründet wurde, verpasste die Dreiprozenthürde und gewann keinen einzigen Sitz im Parlament. Sie besteht aus einer Ansammlung von nationalistischen und pseudolinken Elementen, die letzten Monat aus Syriza ausgetreten waren.
Die Partei unter Führung von Panagiotis Lafazanis, der der Syriza-Regierung als Umweltminister angehört hatte, scheiterte grandios – und zurecht – bei ihrem Versuch, sich als die Verteidiger von bSyrizas ursprünglicher Anti-Austeritäts-Agenda darzustellen.
Lafazanis und seine Mitstreiter waren direkt daran beteiligt, das Sparpaket durchzusetzen, das Tsipras akzeptiert hat. Sie weigerten sich, darüber im Zentralkomitee der Partei abstimmen zu lassen und brachen erst mit Syriza, als klar wurde, dass Tsipras ihnen verbieten würde, mit dem Programm der Partei zur Wiederwahl anzutreten.
Auch die stalinistische Kommunistische Partei Griechenlands konnte mit ihrem reaktionären, nationalistischen Widerstand gegen Syrizas Politik keine Stimmengewinne erzielen, sondern verlor sogar geringfügig im Vergleich zum Januar.
Tsipras schrieb am Sonntag, nachdem sein Sieg entschieden war, auf Twitter: „Vor uns liegt ein Weg voller harter Arbeit und Kampf.“ Tatsächlich wird die Politik, zu der er sich verpflichtet hat, eine Periode verschärfter Klassenkämpfe in Griechenland einläuten, in denen die entscheidende Aufgabe die unabhängige politische Mobilisierung der Arbeiterklasse gegen die Syriza-Regierung sein wird.