Fast 35 Jahre nach dem schwersten rechtsterroristischen Anschlag in der Nachkriegsgeschichte Deutschlands verhindert die Bundesregierung weiterhin die Aufklärung, indem sie wichtige Akten geheim hält. Ihre Haltung lässt nur einen Schluss zu: In Deutschland existiert seit Jahrzehnten ein Staat im Staat, der sich jeglicher Kontrolle entzieht.
Beim Bombenattentat auf das Münchener Oktoberfest am 26. September 1980 starben zwölf Unbeteiligte und der Attentäter Gundolf Köhler, 200 wurden zum Teil schwer verletzt. Schon damals verschleierten die Ermittlungs- und Geheimdienstbehörden die Hintergründe und Hintermänner des Anschlags. Sehr schnell legten sie sich auf die Einzeltäterschaft Köhlers fest. Indizien und Zeugenaussagen sprachen dafür, dass staatliche Behörden und neonazistische Terrorgruppen gleichermaßen involviert waren. Schon zwei Jahre nach dem Attentat, am 23. November 1982, stellte der damalige Generalbundesanwalt die Ermittlungen ein.
Es ist dem Journalisten Ulrich Chaussy und dem Opferanwalt Werner Dietrich zu verdanken, dass sich Generalbundesanwalt Harald Range im Dezember letzten Jahres gezwungen sah, die Ermittlungen neu aufzunehmen. Tausende von Akten sollen erneut ausgewertet werden, auch bislang verschlossene. Doch alle Akten, die eine Verstrickung deutscher Geheimdienste in die damalige rechtterroristische Szene und den Anschlag belegen könnten, sollen geheim bleiben.
Das geht aus einem Schreiben des Justizministeriums an Bundestagsabgeordnete der Grünen hervor, aus dem die Süddeutsche Zeitung zitiert. Der parlamentarische Justizstaatssekretär Christian Lange (SPD) hatte am 7. April geschrieben, die Regierung sei erneut zu dem Ergebnis gekommen, dass „Fragen zu Art und Weise der Quellenführung sowie zur V-Leute-Eigenschaft von Personen – auch wenn es sich um zeitlich weit zurückliegende Vorgänge handelt – zum Schutz der Funktionsfähigkeit der Nachrichtendienste nicht beantwortet werden können“.
Das Justizministerium unter Heiko Maas (SPD) stellt damit die „Funktionsfähigkeit der Nachrichtendienste“ über die Aufklärung eines Massenmords.
Weiter heißt es laut Süddeutscher Zeitung in Langes Schreiben, das Anwerben und Führen von V-Leuten seien elementare nachrichtendienstliche Mittel. „Eine besondere Geheimhaltung muss deshalb auch dann gelten, wenn eine Person nicht als V-Person tätig war oder der Vorgang zeitlich weit zurückliegt.“ Der Informationsanspruch des Parlaments finde seine Grenzen „im Wohl des Bundes oder eines Landes, das durch das Bekanntwerden geheimhaltungsbedürftiger Informationen gefährdet werden kann“.
Mit diesem Satz lässt sich jede Diktatur rechtfertigen. Wenn das „Wohl“ des Staates über dem Informationsanspruch des Parlaments steht, dass für die Kontrolle der Exekutive zuständig ist, ist die Demokratie nur eine leere Hülse. Das Justizministerium stellt die Interessen des Staates und seiner Geheimdienste höher als die Rechte des Parlaments und das Interesse der Öffentlichkeit. Der Geheimdienstapparat agiert als Staat im Staat und entzieht sich jeder Kontrolle.
Die Oppositionsparteien im Bundestag, die Grünen und die Linkspartei, hatten die Bundesregierung schon mehrmals zur Herausgabe geheimer Akten aufgefordert – stets ohne Erfolg. Zuletzt hatte die Bundesregierung die Auskunft auf eine kleine Anfrage der Bundestagsfraktion der Grünen Ende November vergangenen Jahres verweigert. In einem Brief hatten die Grünen protestiert. Nun hat die Bundesregierung nach mehr als vier Monaten mit dem Brief von Lange geantwortet. Die Grünen-Fraktion im Bundestag will nun Klage beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe einreichen, um die Informationen über V-Leute im Umfeld des Oktoberfest-Attentäters zu erstreiten.
Der Staat ist nach bisherigen Erkenntnissen vor allem über die Wehrsportgruppe Hoffmann und den rechtsradikalen Förster Heinz Lembke in das Oktoberfest-Attentat verwickelt.
Die Wehrsportgruppe Hoffmann wurde 1973 von Karl Heinz Hoffmann gegründet und konnte in Bayern sechs Jahre lang unbehelligt Neonazis an Waffen und im Partisanenkampf ausbilden. Der Attentäter Köhler hatte sich laut Bundesregierung 1975 und 1976 an diesen Übungen der paramilitärischen Miliz beteiligt. Dem baden-württembergischen Verfassungsschutz war dies bekannt.
Als am 30. Januar 1980, acht Monate vor dem Oktoberfestattentat, die Wehrsportgruppe vom damaligen Bundesinnenminister Gerhart Baum (FDP) verboten wurde, zählte sie 400 Mitglieder. Hoffmann und seine engsten Mitstreiter setzten sich in den Libanon ab. Chaussy ist sich sicher, dass es in der Wehrsportgruppe mehrere V-Leute gab. Zwei davon sind namentlich bekannt, Walter Ulrich Behle und Odfried Hepp.
Behle sagte kurz nach dem Attentat: „Das waren wir.“ Eine Bombe sei im Abfalleimer deponiert worden, eine andere habe in einer Abflussrinne gelegen. Diese Aussage – nach der zwei Bomben gelegt worden waren, wovon aber nur die im Papierkorb zündete – deckt sich mit anderen Zeugenaussagen.
Wie viele V-Leute in der Wehrsportgruppe aktiv waren, hält die Regierung bis heute geheim. Die Informationen dazu seien „so sensibel, dass selbst ein geringfügiges Risiko des Bekanntwerdens unter keinen Umständen hingenommen werden kann“, heißt es in einem Brief der Regierung vom Februar an die Linkspartei.
Der Förster Heinz Lembke steht im Verdacht, Köhler und seinen Hintermännern den Sprengstoff für die Bombe besorgt zu haben. Lembke war 1959 aus der DDR in die Bundesrepublik geflüchtet und hatte sich sofort rechtsextremistischen Vereinigungen wie dem Bund Vaterländischer Jugend (BVJ) angeschlossen, dessen Bundesgeschäftsführer er 1960 wurde. 1962 wurde der BVJ verboten.
Lembke unterhielt enge Kontakte zu einer Vielzahl weiterer rechter Organisationen. Er verwaltete mindestens 33 Waffendepots – mit Panzerfäusten, Handgranaten, Sprengstoff, Maschinengewehren, Pistolen, Munition und sogar chemischen Kampfstoffen, alles größtenteils aus Bundeswehrbeständen. Er organisierte auch „Wehrsportübungen“ und war Waffenlieferant für Nazi-Terroristen.
Lembke stand nachweislich in Kontakt mit der Wehrsportgruppe Hoffmann und wurde im Jahr 1981 – nicht im Zusammenhang mit dem Oktoberfest-Attentat – verhaftet. Zwei Tage nachdem er angekündigt hatte, gegenüber der Bundesanwaltschaft umfassend auszusagen, fand man ihn mit einem Kabel erhängt in seiner Zelle.
Die in seinen Depots gefundenen Waffen und Kampfmittel vernichtete die Bundeswehr umgehend. Ein Abgleich mit dem Sprengstoff der Oktoberfestbombe fand nicht statt. Auch Lembke wurde als Einzelgänger dargestellt, die Ermittlungen schnell eingestellt.
Alle Erkenntnisse über das Münchener Oktoberfestattentat und vor allem die Reaktion der Behörden darauf passen in das Muster der Gladio-Geheimtruppen, die die Nato im Kalten Krieg in Europa aufbaute um – offiziell im Falle eines sowjetischen Einmarsches – Terrorakte zu verüben.
Inwieweit Lembke oder auch die Wehrsportgruppe Hoffmann für die Gladio-Truppen der NATO arbeiteten, wurde nie offiziell bekannt. Die Menge und Qualität der gefundenen militärischen Ausrüstung deutet laut Daniele Ganser, einem Schweizer Historiker, der zu den Gladio-Truppen forscht, deutlich auf eine Mitgliedschaft Lembkes in der Geheimorganisation hin.
In Spurenakten zum Oktoberfestattentat fand Opferanwalt Dietrich den Vermerk „Erkenntnisse über Lembke sind nur zum Teil gerichtsverwertbar“. Laut dem Anwalt kommen solche Vermerke normalerweise nur bei V-Leuten oder Mitarbeitern von Geheimdiensten vor.
In der Antwort der Bundesregierung auf die parlamentarische Anfrage der Grünen vom 21. November 2014 bestreitet die Bundesregierung eine solche Schlussfolgerung. „Ein solcher Hinweis auf die nachrichtendienstliche oder polizeiliche Schutzbedürftigkeit einer Information legt im Übrigen nicht den Schluss nahe, dass es sich bei einer in der Erkenntnismitteilung genannten Person um eine nachrichtendienstliche Quelle oder eine verdeckte Quelle der Polizei (V-Mann) handelt.“ Die Antwort auf die Frage, ob Lembke für einen Geheimdienst gearbeitet hat, verweigert sie aber unter Berufung auf die Gefährdung des Staatswohls.
Zuletzt wurde im Zusammenhang mit den rassistischen Morden und Anschlägen des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) deutlich, dass es enge Beziehungen zwischen Geheimdiensten und rechtsextremen Terroristen gibt. Laut dem Journalisten Chaussy existiert auch eine Verbindung zwischen der Wehrsportgruppe Hoffmann und dem Thüringer Heimatschutz, aus dem der NSU hervorging.
Um die Verbindungen zwischen staatlichen Sicherheitskräften und rechtem Terror zu verschleiern, versucht die Bundesregierung, die wirklichen Hintergründe des Oktoberfest-Attentats zu verbergen. Als Generalbundesanwalt Range die Wiederaufnahme des Verfahrens zum Oktoberfest-Attentat verfügte, begründete dies Justizminister Maas nicht mit der vollständigen Aufklärung aller Hintergründe, sondern damit, dass angesichts der Versäumnisse bei den NSU-Morden „jedem Vertrauensverlust gegenüber der Tätigkeit staatlicher Ermittlungsbehörden entgegengewirkt werden“ müsse.