Nach dem bisherigen Ermittlungsstand ist der Absturz einer Germanwings-Maschine über Frankreich, die 150 Menschen in den Tod riss, das Ergebnis des bewussten und absichtlichen Handelns des Kopiloten Andreas Lubitz.
Spezialisten der französischen Luftfahrtbehörde BEA und der zuständige Staatsanwalt Brice Robin gelangten nach Auswertung des Voice Recorders zum Schluss, dass der 27-jährige Kopilot den Airbus 320 manuell auf Sinkflug schaltete, nachdem der Pilot das Cockpit verlassen und die Toilette aufgesucht hatte. Anschließend soll er dem Piloten den Zutritt verweigert und ruhig abgewartet haben, bis die Maschine zerschellte.
Ein versehentliches Auslösen dieser Funktionen ist nach Aussage der Ermittler nicht möglich. Aus dem ruhigen Atem des Kopiloten, der auf der Aufnahme zu hören war, schlossen sie außerdem, dass er bis zum Schluss bei vollem Bewusstsein war.
Kaum war die furchtbare Nachricht bekannt, bemühten sich Medien, Politik und Management, die Katastrophe als unfassbaren Ausnahmefall darzustellen, der keine tiefere gesellschaftliche Bedeutung habe.
Das schreckliche Ereignis sei ein tragischer Einzelfall, den die besten Sicherheitstests und Prüfungen nicht verhindern könnten, erklärte Lufthansa-Chef Carsten Spohr. Er hätte sich in seinen „schlimmsten Albträumen nicht vorstellen können, dass so etwas eines Tages passieren könnte“.
Auf FAZ.NET forderte Chefredakteur Mathias Müller von Blumencron zwar: „Dieses Unglück muss erklärt werden, denn nur so können wir es überwinden.“ Doch er suchte die Erklärung ausschließlich in der Person des Täters: „Im Zentrum der Erklärung steht ein Mensch, genauer sein Kopf, sein möglicherweise irregeleitetes Gehirn. … Es ist die Psyche von Andreas Lubitz, die Unfassbares verursacht hat. Die Lösung ist nach gegenwärtigem Stand nur in der Person des Kopiloten zu finden.“
Wirklich?
Natürlich muss man herausfinden, welche Motive, persönlichen Probleme und Krankheiten Lubitz zu dieser fürchterlichen Tat getrieben haben. Aber der psychologische Hintergrund allein kann eine Katastrophe von diesem Ausmaß nicht erklären. Lubitz handelte in einem bestimmten gesellschaftlichen Umfeld. Um seine Tat zu begreifen, muss man nicht nur sein individuelles Krankheitsbild verstehen, sondern auch das der Gesellschaft, in der er lebte.
Welcher enorme gesellschaftliche Druck ist nötig, damit ein junger Mann, der von all seinen Bekannten als unauffällig, ruhig, nett und umgänglich beschrieben wird, einen 149-fachen Mord begeht? Weshalb hat niemand Warnzeichen der kommenden Katastrophe bemerkt?
Die Beantwortung dieser Fragen führt unweigerlich über das „möglicherweise irregeleitete Gehirn“ des Täters hinaus in eine Gesellschaft, die von wachsendem Arbeitsstress, ständiger Existenzangst, wachsenden sozialen Spannungen, staatlicher Gewalt und Militarismus geprägt ist.
Die Düsseldorfer Staatsanwaltschaft, die Lubitzs Wohnungen in Montabaur und in Düsseldorf durchsuchte, fand weder einen Bekennerbrief noch Anhaltspunkte für einen politischen oder religiösen Hintergrund. Sie entdeckte aber Hinweise auf eine – möglicherweise psychische – Erkrankung. Sie fand eine zerrissene Krankschreibung, die sich auch auf den Tag des Absturzes bezog, und schloss daraus, „dass der Verstorbene seine Erkrankung gegenüber dem Arbeitgeber und dem beruflichen Umfeld verheimlicht hat“.
Warum ging Lubitz trotz Krankschreibung zur Arbeit? Fürchtete er seinen Job zu verlieren, der offenbar sein Traumberuf war? Er war bereits als 15-Jähriger dem örtlichen Segelflugverein beigetreten und hatte sich nach dem Abitur in Bremen von der Lufthansa zum Piloten ausbilden lassen. Er unterbrach die Ausbildung dann allerdings für sechs Monate – nach unbestätigten Berichten wegen Depressionen.
War Lubitz dem wachsenden Arbeitsdruck nicht gewachsen, der gerade bei der Lufthansa und ihrer Billig-Tochter Germanwings ständig zunimmt. Um diese Frage dreht sich der seit einem Jahr dauernden Tarifauseinandersetzung der Piloten.
Arbeitsstress und damit verbundene psychische Erkrankungen haben nicht nur in der Luftfahrtindustrie, sondern in der ganzen Gesellschaft rasant zugenommen. Laut einer Studie der Weltgesundheitsorganisation WHO leiden 5 Prozent der deutschen Bevölkerung im Arbeitsalter an einer behandlungsbedürftigen Depression, das sind 3,1 Millionen Menschen. Die Anzahl der Krankheitstage aufgrund psychischer Erkrankungen hat nach Angabe der Krankenkassen in den letzten Jahren um das 18-Fache zugenommen; allein 2012 stieg sie um zehn Prozent.
Lubitz muss jedenfalls unter einem enormen Druck gestanden haben, um eine derart ungeheure Tat zu begehen. Selbst erfahrene Psychologen können sich an einen ähnlich extremen Fall nicht erinnern. Es gibt zwar das Phänomen des erweiterten Suizids, bei dem Selbstmörder auch andere umbringen, doch dabei handelt es sich in der Regel um Verwandte oder andere Menschen, zu denen sie in einer engen Beziehung stehen.
Auch mit einem Amoklauf, wie er an der amerikanischen Columbine High School, am Erfurter Gutenberg-Gymnasium und an anderen Schulen stattfand, lässt sich Lubitz‘ Tat nur bedingt vergleichen. Einem Amoklauf fallen meist Menschen aus dem sozialen Umfeld zum Opfer, von denen sich das Opfer gekränkt fühlt. Bei der Germanwings-Katastrophe wurden dagegen 149 Menschen in den Tod gerissen, die rein zufällig in dem Flugzeug saßen und die Lubitz aller Wahrscheinlichkeit überhaupt nicht kannte.
Man würde erwarten, dass selbst ein psychisch tief kranker und depressiver Mensch noch eine Hemmschwelle gegen ein solches Massaker hat. Dass diese scheinbar nicht mehr da war, dürfte auch mit der allgemeinen Entwertung von Menschenleben zusammenhängen.
Andreas Lubitz war elf Jahre alt, als die Bundeswehr in Jugoslawien erstmals in einen Kriegseinsatz zog. Seither hat er einen Krieg nach dem andern erlebt, in dem amerikanische und auch deutsche Truppen Hunderttausende umbrachten und sich öffentlich brüsteten, wie viele „Terroristen“ sie getötet hätten. Im Mittelmeer ertrinken jährlich Tausende Flüchtlinge, während die EU immer neue Hürden aufbaut, um sie am Erreichen des europäischen Kontinents zu hindern. Und die Spardiktate, die die Bundesregierung als alternativlos verteidigt, treiben in Griechenland Millionen in bittere Armut und Tausende in den Selbstmord.
Die Erklärung für die Germanwings-Katastrophe ist deshalb nicht einfach im Kopf und der Psyche von Andreas Lubitz zu finden. Sie ist vielmehr ein Symptom für eine dysfunktionale, zutiefst kranke Gesellschaft.
Gleichzeitig hat die Welle der Betroffenheit, Solidarität und Hilfsbereitschaft, mit der die Bevölkerung im Absturzgebiet, in ganz Frankreich und den Heimatländern der Opfer auf die Katastrophe reagierte, etwas ganz anderes ans Licht gebracht – das tiefe Bedürfnis nach einer wirklich humanen Gesellschaft.
Die Politiker, die der Opfern gedacht haben, werden dieses Bedürfnis allerdings nicht erfüllen. Sie kehren von den Gedenkfeiern zurück, um ihre Politik des Sozialabbaus, der Arbeitsmarktreformen sowie der inneren und äußeren Aufrüstung weiter voranzutreiben.