„‚Zahlmeister‘ kann auf Dauer nur sein, wer auch bereit ist, die schwierige Rolle eines ‚Zuchtmeisters‘ zu spielen“, schreibt Herfried Münkler in seinem neuen Buch „Macht in der Mitte“. Der Berliner Politwissenschaftler plädiert darin unverhüllt für eine deutsche Vormachtstellung in Europa. Deutschland sei „zur Zentralmacht Europas geworden“ und müsse „die ihm zugefallene Rolle auch spielen“, lautet die zentrale These seines Buches.
Münkler begründet den deutschen Machtanspruch damit, dass „der europäische Integrationsprozess zum Stillstand gekommen“ sei und mit seiner Wiederaufnahme „vorerst nicht gerechnet werden“ könne. „Die Idee, aus dem Europaprojekt könne einmal eine europäische Nation hervorgehen“, sei gescheitert. Aus der „Achse Berlin-Paris“ sei aufgrund der lange währenden wirtschaftlichen Krise Frankreichs „in den letzten Jahren eine deutsche Mitte geworden“. Unter diesen Umständen obliege Deutschland als „Macht in der Mitte“ die Aufgabe, „Europa zusammenzuhalten“ und „die Europäer auf eine gemeinsame Linie zu bringen“.
„Deutschland muss in Europa führen“, fordert Münkler. Dies müsse zwar in einer umsichtigen Weise geschehen, was „jedoch nicht mit Zögerlichkeit und Entschlusslosigkeit zu verwechseln“ sei. Die Rolle einer Macht in der Mitte lasse „sich heute nicht mehr auf die eines finanziellen Ausgleichers beschränken“, sondern schließe „die einer entschlossenen politischen und wirtschaftlichen Führung mit ein“.
Münkler ist sich im Klaren, dass der von ihm propagierte deutsche Machtanspruch sowohl in der Bevölkerung Deutschlands als auch in anderen europäischen Ländern auf Widerstand stößt. Er muss zugeben, dass „der Blick in die Geschichte der letzten eineinhalb Jahrhunderte ein einziges großes Warnschild bezogen auf die geopolitische Konstellation einer starken Mitte“ sei.
Die „wahrscheinlich schwerwiegendste Verwundbarkeit“ der von ihm propagierten Politik sei „die durch die deutsche Geschichte, der jederzeit mögliche Verweis auf den Aufstieg des Nationalsozialismus mitsamt seiner Rassenideologie, die von Hitler seit 1938 betriebene Politik der Erpressung und Annexionen, die Angriffskriege seit September 1939, die Verbrechen der Wehrmacht vor allem im Krieg gegen die Sowjetunion und schließlich die Ermordung der europäischen Juden.“
Die Tatsache, dass die deutschen Eliten bei ihrem letzten Versuch, sich zum Herrscher Europas aufzuschwingen, unsägliche Verbrechen begingen, kann Münkler allerdings nicht davon abhalten, dasselbe Ziel ein weiteres Mal zu propagieren. Ein großer Teil von „Macht in der Mitte“ widmet sich der Aufgabe, entsprechende Einwände zu entkräften und die deutsche Außenpolitik dagegen zu wappnen.
Als erstes schlägt Münkler vor, demokratische Mitsprache weitgehend zu unterdrücken. „Die europäische Integration war und ist ein viel zu komplexer Prozess, als dass man diesen der begleitenden Kontrolle und Einspruchnahme der Bevölkerung aussetzen könnte“, schreibt er und bezeichnet das „Wahlverhalten der Bürger“ als „Achillesferse der Europapolitik“.
„Wir werden uns abgewöhnen müssen, von allen und jedem geliebt werden zu wollen“, bemerkt er an anderer Stelle, „denn das ist für eine Macht in der Mitte nicht möglich, wenn sie ihren Aufgaben gerecht werden will“. „Antideutsche Demonstrationen an den Rändern des EU-Raumes“ und „antideutsche Invektiven“ dürften „uns nicht überraschen und nicht irritieren“.
Dafür, so Münkler, seien rücksichtslose Politiker erforderlich. Als „sicherheitspolitische Führungsmacht“ brauche Deutschland ein anderes „Profil der politischen Eliten“. Es benötige Personal, das nicht nur Wohlstand administriere, sondern imstande sei, „riskante Entscheidungen zu treffen“.
Man könnte Münklers Buch als überhebliches Werk eines großspurigen Professors abtun, wenn es nur seine eigene Meinung widergäbe. Doch der Lehrstuhlinhaber an der Berliner Humboldt Universität steht in enger Verbindung zu den Führungsspitzen des Landes und betätigt sich als Berater von Parteien, Regierung und Bundeswehr. Viele Thesen seines Buches finden sich in den Diskussionen und Planspielen wieder, die das Außen- und das Verteidigungsministerium im vergangenen Jahr veranstaltet haben.
So orderte Außenminister Frank-Walter Steinmeier im Rahmen des Prozesses „Review 2014 – Außenpolitik weiter denken“ über 50 internationale „Expertenmeinungen“, die alle darauf hinauslaufen, dass Deutschland „mehr Verantwortung“ übernehmen müsse. Und Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen sprach vor einem Monat auf der Münchner Sicherheitskonferenz in direkter Anlehnung an Münkler zum Thema „Führen aus der Mitte“.
Münklers Buch fasst diese Auffassungen zusammen, rechtfertigt sie und entwickelt sie weiter. Es ist Propagandaschrift, politischer Ratgeber und Versuch der historischen Rechtfertigung in einem. Dementsprechend strotzt es vor grotesken Widersprüchen und ideologischen Verrenkungen.
So behauptet Münkler immer wieder, Deutschland habe sich nach der Rolle einer Zentralmacht „nicht gedrängt, ja nicht einmal um sie beworben“, und sei davor „regelrecht zurückgeschreckt“. Doch – „gewollt oder eher unbeabsichtigt“ – sei Deutschland „in die Position der Macht der Mitte eingetreten“ und müsse nun „damit zurechtkommen“.
An einer Stelle versucht Münkler sogar, die Verbrechen des Nazi-Regimes ins Positive zu wenden. Die „historische Verwundbarkeit Deutschlands“ sei womöglich „gar kein Handicap, sondern eine Voraussetzung für die Akzeptanz einer deutschen Führungsrolle in Europa“, erklärt er. Auf „einen politisch unverwundbaren Akteur als europäische Zentralmacht“ hätten sich die anderen EU-Mitglieder vermutlich nicht eingelassen. In Anbetracht der europäischen Geschichte wollten sie „nur einen verwundbaren Hegemon akzeptieren, einen, den sie notfalls bremsen zu können glauben“.
Um die Notwendigkeit einer „Macht in der Mitte“ zu rechtfertigen – das Wort „Mitte“ kommt allein im Inhaltsverzeichnis zwanzig Mal vor – unternimmt Münkler lange Exkurse in die Geschichte. Er befasst sich mit den Reichen Alexanders des Großen, der Römer, der Karolinger und der Habsburger, mit den Kreuzzügen, dem Dreißigjährigen Krieg und den napoleonischen Kriegen. An einer Stelle versteigt er sich sogar zur Behauptung, „das unabweisbare Bedürfnis nach einer Mitte“ stelle eine „anthropologische Konstante“ dar.
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
Einer Frage weicht er dagegen konsequent aus: Der Frage nach den gesellschaftlichen Interessen, die dem deutschen Streben um die Vorherrschaft in Europa zugrunde liegen.
Vor einem Jahr hatte Münkler einen regelrechten Feldzug gegen den Historiker Fritz Fischer geführt. Dieser hatte 1961 in seinem bahnbrechenden Buch „Griff nach der Weltmacht“ nachgewiesen, dass die deutschen Kriegsziele im Ersten Weltkrieg in den Interessen des deutschen Kapitals und den strategischen Forderungen von Heer und Marine verwurzelt waren und sich weitgehend mit den Zielen deckten, die Hitler im Zweiten Weltkrieg verfolgte.
Wir kommentierten damals: „Münklers Angriffe auf Fritz Fischer und sein Eintreten für eine aggressivere imperialistische Außenpolitik hängen inhaltlich eng zusammen. Um neue Verbrechen des deutschen Imperialismus vorzubereiten, müssen seine historischen Verbrechen, zu deren Verständnis Fischer maßgeblich beigetragen hat, verharmlost und beschönigt werden.“
Münklers jüngstes Buch bestätigt diese Einschätzung. Es propagiert die deutsche Vorherrschaft in Europa und verschleiert, in wessen Interesse sie liegt. Sie entspringt weder einem abstraktem „Bedürfnis nach einer Mitte“ noch dem Ruf anderer Länder nach „deutscher Führung“, sondern dem historischen Dilemma, vor dem der deutsche Kapitalismus steht, seit er sich Ende des 19. Jahrhunderts zum stärksten in Europa entwickelte.
Um sich auf dem Weltmarkt zu behaupten und zu expandieren, muss er das in 50 Länder zersplitterte Europa in seinem Interesse organisieren. Zweimal – 1914 und 1939 – versuchte er dies mit Gewalt, und beide Versuche führten in die Katastrophe. Die Zuspitzung der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise und die damit verbundende Verschärfung der nationalen und sozialen Spannungen in Europa treiben die herrschenden Eliten Deutschlands nun zu einem dritten Versuch, der ebenso katastrophal enden wird, wenn ihnen die Arbeiterklasse nicht rechtzeitig in den Arm fällt.
In der Ukraine und Griechenland haben sie bereits gezeigt, wozu sie fähig sind. In der Ukraine hat die Bundesregierung gemeinsam mit den USA einen pro-westlichen Putsch unterstützt, der das Land in den Bürgerkrieg und Russland und die Nato an den Rand eines möglichen Atomkriegs getrieben hat. In Griechenland ist sie treibende Kraft hinter dem Spardiktat, das den Lebensstandard der Arbeiterklasse um Jahrzehnte zurückgeworfen hat.
Beides soll nun, geht es nach Münkler, Vorbild für die Politik Deutschlands als Zentralmacht Europas sein. Er schreibt: „Fasst man die wesentlichen Elemente des deutschen Agierens in der Eurokrise und im Russland-Ukraine-Konflikt zusammen, dann bekommt man die Merkmale der Politik, denen Deutschland in den nächsten Jahren folgen sollte, um seinen Aufgaben als Macht in der Mitte nachzukommen.“