Der Streik der Lokführer vom vergangen Wochenende hat in den Medien, der Regierung und den DGB-Gewerkschaften regelrechte Tobsuchtsanfälle ausgelöst.
„Donnerwetter, das hat bisher noch niemand gewagt: 50 Stunden Dauerstreik bei der Deutschen Bahn“, tobte Corinna Budras in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS). Sie bezeichnete ihren Kommentar selbst als „Wutausbruch“ gegen den Chef der Lokführergewerkschaft (GDL), Claus Weselsky. In der Überschrift forderte sie: „Stoppt diesen Mann!“. Der „ungezügelte Machtanspruch einer kleinen Spartengewerkschaft“ dürfe nicht länger hingenommen werden.
Die 38-jährige Journalistin, die schon als Schülerin ein Auslandsjahr in Washington verbrachte und nach zwei Semestern Jurastudium in Belgien bei der Nachrichtenagentur Bloomberg in New York arbeitete, schreibt, die Forderung der Lokführer klinge in ihren Ohren „wie die Wehklage eines verwöhnten Rotzlöffels, der darauf besteht, auch mal Anführer zu sein“.
Noch aggressiver geifert Marcus Werner in der WirtschaftsWoche. Er wirft GDL-Chef Weselsky vor, er mache die Lokführer „zu Deppen der Nation“. Das Vorgehen der GDL sei „ganz schön größenwahnsinnig“, schreibt Werner und fügt hinzu: „Und das bei einer solch popelig-kleinen Gewerkschaft wie der GDL.“
Er bezeichnet den Streik als Amoklauf eines „komplexbeladenen Außenseiters“, der „sich nach Anerkennung sehne“ und für den „am Ende fast jedes Mittel recht ist, um im Mittelpunkt zu stehen“. Er rückt die Streikenden gezielt in die Nähe von Terroristen, indem er schreibt: „Es ist keine Kunst, für Chaos zu sorgen. Dafür reicht schon ein Drohanruf mit verstellter Stimme. Das kann jeder. Aber offenbar fühlt es sich für manche total geil an, für Chaos verantwortlich zu sein.“
Es sei Zeit, die Spartengewerkschaften in die Schranken zu weisen und „ihnen ihre Großkotzigkeit auszutreiben“, damit „einige selbstherrliche Wenige nicht mehr eine ganze Gesellschaft lahmlegen können“. Die „kleinen Kläffer“ müssten endgültig „an die Leine genommen werden“.
Woher kommt diese aggressive Gossensprache, die an die Nazi-Kampfschrift Der Stürmer erinnert?
Dieselben Journalisten, die den Streik attackieren, haben in den vergangen Jahren die Rettung der Banken mit hunderten Milliarden Euro verteidigt, die mit massiven sozialen Angriffen und einer hemmungslosen Bereicherung an der Spitze der Gesellschaft verbunden war. Sie unterstützen die Sparprogramme und den Sozialabbau in ganz Europa, die die Gesellschaft ruinieren und in vielen Ländern rechtsextreme politische Kräfte stärken. Sie trommeln für militärische Aufrüstung und Krieg.
Die herrschenden Eliten sehen im Streik der Lokführer, der in der Bevölkerung viel Sympathie und Unterstützung genießt, einen Ausdruck der wachsenden Opposition gegen die unsoziale Politik und den Kriegskurs der Regierung. Militärische Aufrüstung und Krieg, die von Regierung und Medien massiv vorangetrieben werden, gehen mit der Unterdrückung jedes politischen und sozialen Widerstands einher.
Am Montagmittag erschien die Online-Ausgabe des Stern mit der Schlagzeile „Nahles muss den Erpresser Weselsky stoppen“. Das Lifestyle-Blatt der Oberschicht, das Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen kürzlich auf der Titelseite als „Kriegsministerin“ feierte, fordert von Arbeits- und Sozialministerin Andrea Nahles (SPD) ein hartes und schnelles Durchgreifen.
Am Wochenende hatte Nahles bereits angekündigt, ihr Ministerium arbeite unter Hochdruck an einem Gesetz zur Tarifeinheit. Es soll festlegen, dass künftig in einem Unternehmen nur noch die Gewerkschaft mit den meisten Mitgliedern die Tarife verhandeln darf. Das würde den DGB-Gewerkschaften das Machtmonopol übertragen und kleinere Gewerkschaften wie GDL, Cockpit (Piloten), UFO (Fluglotsen) und Marburger Bund (Ärzte) die Grundlage entziehen.
Angesichts der Tatsache, dass der DGB und seine Einzelgewerkschaften eng mit Unternehmen und Regierung zusammenarbeiten, bedeutet das die faktische Abschaffung des Streikrechts. Kampfmaßnahmen von Arbeitern, die das Co-Management der DGB-Gewerkschaften und deren enge Zusammenarbeit mit der Regierung ablehnen, wären dann illegal.
Unter diesen Umständen ist es dringend notwendig, dass alle Arbeiter den Streik der Lokführer und Piloten unterstützen und die Medienhetze dagegen scharf zurückweisen.
Die Forderungen der Piloten nach Beibehaltung des bisher geltenden betrieblichen Frührentensystems und der Lokführer nach fünf Prozent mehr Lohn und einer Verkürzung der Wochenarbeitszeit um zwei Stunden sind mehr als berechtigt. Seit vielen Jahren sind die Beschäftigten dieser Verkehrsunternehmen nicht endenden Angriffen ausgesetzt. Allein die Bahn reduzierte von 2002 bis 2012 die Belegschaft von 350.000 auf 190.000 Beschäftigte, was zu ständiger Mehrarbeit führt. Fast acht Millionen Überstunden leisteten die Bahn-Beschäftigten im vergangenen Jahr.
Auch die Forderung der GDL, künftig nicht nur die Lokführer, sondern auch Zugbegleiter, Bordgastronomen, Ausbilder und Disponenten, das heißt das fahrende Personal der Bahn, zu vertreten, ist gerechtfertigt. Bis Ende Juni war ihr das untersagt. Denn bis dahin galt ein so genannter „Grundlagentarifvertrag“, nach dem für diese Berufsgruppen allein die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) zuständig war.
Die EVG ist die Nachfolgerin der Gewerkschaften Transnet und GdED und hat in den vergangenen Jahren gemeinsam mit dem Bahnvorstand den massiven Arbeitsplatzabbau durchgesetzt. Daher haben sich in dieser Zeit viele Beschäftigte der GDL angeschlossen.
DGB und EVG unterstützen den Bahn-Vorstand und die Bundesregierung im Kampf gegen die GDL. EVG-Chef Alexander Kirchner sitzt als stellvertretender Vorsitzender im Aufsichtsrat der Bahn AG. Seine Behauptung, die Forderung der GDL spalte die Belegschaft, ist absurd und verlogen.
Kirchner behauptet wortgleich mit dem Bahn-Vorstand, unterschiedliche Verträge über Löhne, Arbeitszeiten, Urlaubs- und Pausenregelung und weitere Arbeitsbedingungen seien in einem Unternehmen nicht praktikabel und störten den „Betriebsfrieden“. Dieses Argument wird in de Medien hundertfach wiederholt. Es ist absurd.
In Wirklichkeit sind unterschiedliche Tarife für dieselbe Arbeit längst überall gängige Praxis – eingeführt von den DGB-Gewerkschaften. Diese bekämpfen seit Jahren die Forderung: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit! Nicht nur in den großen Autowerken, im Maschinenbau und der Chemieindustrie, sondern überall in Betrieben und Verwaltungen arbeiten Beschäftige in derselben Abteilung bei gleicher Tätigkeit zu völlig unterschiedlichen Bedingungen. Neben den Alt-Tarifen gibt es Verträge für Neueingestelle mit zehn, zwanzig, fünfzig oder noch mehr Prozent geringerem Lohn. Dann kommen die Leiharbeiter mit Billiglohnverträgen und die Beschäftigen mit Werkvertrag, deren Entlohnung und Arbeitsbedingungen noch tiefer liegen.
Diese Spaltung und Differenzierung diente stets dazu, die Löhne nach unten zu drücken und die Arbeitsbedingungen zu verschlechtern. Jetzt, wo die Lokführer und Piloten ihre wirtschaftliche Macht nutzen, um dieser sozialen Abwärtsspirale entgegenzutreten, schreien Kirchner, der DGB und sogar die Wirtschaftspresse plötzlich, das sei Spaltung.
Ihre Forderung nach Einheit ist die Forderung nach der uneingeschränkten Diktatur der DGB-Bürokratie, um jeglichen Widerstands in Betrieben und Verwaltungen zu unterdrücken.
Bahnvorstand, Bundesregierung und DGB wollen die Lokführer in die Knie zwingen, um das Streikrecht einzuschränken und eine neue Runde massiver Angriffe auf Löhne, Sozialleistungen und Arbeitsbedingungen für alle Arbeiter durchzusetzen.
Vor hundert Jahren hatten die Gewerkschaften im Ersten Weltkrieg einen „Burgfrieden“ mit der Reichsregierung geschlossen, alle Lohnkämpfe eingestellt und Streiks unterdrückt. Heute unterstützt der DGB die Kriegspolitik der Bundesregierung und tut alles, um die Arbeiterrechte einzuschränken.
Das darf nicht hingenommen werden. Um dagegen anzukämpfen, muss der Streik der Lokführer und Piloten verteidigt und unterstützt werden. Überall sind Arbeiter mit ähnlichen Problemen konfrontiert. Die zunehmende Privatisierung und die Auswirkungen der globalen Konkurrenz verschärfen nicht nur im Flug- und Bahnverkehr die Ausbeutung, sondern sind auch in allen anderen Industrie- und Dienstleistungsbereichen mit immer schärferen Angriffen auf die Beschäftigten verbunden.
Die Streiks der Lokführer und Piloten müssen zum Ausgangspunkt einer breiten politischen Bewegung gegen die Bundesregierung gemacht werden. Das erfordert ein politisches Programm, das weit über die beschränkten Konzepte von GDL und Cockpit hinaus geht. Notwendig ist ein Programm, das sich der kapitalistischen Profitlogik widersetzt, eine sozialistische Perspektive vertritt und eine internationale Strategie verfolgt.