Für Dienstagabend, den 7. Oktober, rief die Lokführer-Gewerkschaft GDL ihre Mitglieder bei der Bahn AG ab 21 Uhr zu einem neunstündigen Streik auf. In der Woche davor hatten sich 91 Prozent der GDL-Mitglieder in einer Urabstimmung für einen unbefristeten Streik ausgesprochen. Der flächendeckende Streik, der bis Mittwochmorgen 6 Uhr andauerte, brachte in ganz Deutschland den größten Teil der Fern- und Regionalzüge, Güterzüge und S-Bahnen zum Erliegen.
Die Lokführer fordern eine Lohnerhöhung von fünf Prozent und eine Arbeitszeitverkürzung der jetzigen 39-Stunden-Woche um zwei Stunden. Sie riefen auch ihre Mitglieder unter den Zugbegleitern und dem Bordbistro-Personal zum Streik auf. Ein großer Teil des so genannten fahrenden Personals hatte sich in den letzten Jahren der GDL angeschlossen, weil die EVG, die DGB-Gewerkschaft der Eisenbahner, zu offensichtlich im Boot des Arbeitgebers sitzt und alle Spar- und Deregulierungs-Orgien des Managements mitgetragen hat.
Die WSWS traf am Dienstagabend eine Gruppe streikender Lokführer vor dem Frankfurter Hauptbahnhof. Sie berichteten ausführlich, wie die Veränderungen der letzten Jahre bei der Bahn mehr und mehr zur vollkommenen Unterwerfung des Personals unter den Betriebsablauf geführt haben.
„Unsere Arbeitszeiten sind die reine Hektik“, sagte ein S-Bahn-Führer. „Was meinen Sie, wie oft am Tag bei uns die Schicht beginnt und endet? Sie kann zu jeder Minute des Tages neu beginnen. Es gibt über tausend Varianten, je nachdem, wie man uns gerade braucht.“ Er erläuterte, dass die Dienstpläne nicht die geringste Rücksicht auf das Personal nehmen. Die Lokführer müssen sehr oft ihre Pausen aufwenden, um pünktlich zum Streckenbeginn einen Zug übernehmen zu können. „Ein großer Teil unserer Freizeit ist völlig in den Arbeitsprozess integriert – er dient uns nicht zur Erholung.“
Ein S-Bahn-Zugführer bestätigte: „Früher war die Freizeit mehr an einem Stück. Man achtete darauf, dass wir nicht noch die Pausen für die Anfahrt nutzen müssen. Seit dem Fahrplanwechsel für die S-Bahn im Dezember 2013 nimmt man praktisch keine Rücksicht mehr auf uns.“ Er wohne zum Beispiel außerhalb Frankfurts und müsse oftmals schon zwei Stunden vor Schichtbeginn anfahren, um pünktlich zu sein. „Was mich betrifft, gehen so wöchentlich bis zu sechs Stunden meiner Pausenzeit drauf.“
Auch berichteten die Lokführer, sie hätten im Jahr gerade mal zwölf Wochenenden zur freien Verfügung, alle anderen Wochenenden seien entweder mit Dienst oder Bereitschaft belegt.
Ingo Klett (auf dem Foto zweiter von links) ist Lokführer und stellvertretender Betriebsratsvorsitzender in Frankfurt. Er erläutert: „Dem Verdienst nach stehen die deutschen Lokführer in Europa an zweitletzter Stelle. Das Höchste, was ein Lokführer an Gehalt erreichen kann, sind 3.187 Euro brutto im Monat.“ Das Anfangsgehalt eines Lokführers in den ersten Jahren beträgt rund 2.000 Euro brutto.
Klett wies darauf hin, dass die Zugführer einen Berg von drei Millionen Überstunden vor sich her schieben. „Eigentlich müsste die Bahn bei uns über 2.237 Leute einstellen.“
Einige ältere Lokführer kommen ursprünglich aus dem Osten und haben ihre ersten Berufsjahre bei der Staatsbahn der DDR gemacht. Einer sagt: „Kurz nach der Zusammenlegung der Staatsbahn mit der Bundesbahn ging es so ab 1993 los mit den Vorbereitungen auf einen Börsengang. Da wurde der ganze Betrieb nach den Gesichtspunkten von Profitabilität umstrukturiert.“
Die Lokführer äußerten sich entrüstet über die allgemeine Medienhetze. „Gegen uns wird richtig Stimmung gemacht“, sagt einer. „Wir haben kaum die Möglichkeiten, alles richtig zu stellen, was da gelogen wird. Selbst wenn ein Reporter ein Interview richtig aufnimmt, wird es meistens nicht gebracht oder es wird verfälscht.“
Am übelsten fanden sie den Artikel auf Spiegel Online mit dem Titel „Deutschlands dümmste Gewerkschaft“. Darin warf der Spiegel am Montag der GDL vor, dass sie ihren Kampf auch auf das restliche Bahnpersonal ausdehnt. Der [GdL-Vorsitzende] Weselsky rufe zum „Heiligen Krieg auf, um sein Ego zu stärken“.
Ein Lokführer sagte: „Wenn die schon vom Heiligen Krieg anfangen, dann stellen sie uns doch gleich mit ISIS auf eine Stufe.“ Andere wiesen darauf hin, dass die meisten Leserbriefe die Lokführer gegen solche Anschuldigungen vehement verteidigt hätten.
Überhaupt reagierte das Publikum im Allgemeinen mit Verständnis auf die Streiks. Dem neuen ARD-Deutschlandtrend zufolge haben 54 Prozent der Befragten Verständnis für den Lokführerstreik geäußert.
Die Lokführer sind sich bewusst, dass sie einen Kampf führen, bei dem es eigentlich um mehr geht als um Lohnerhöhung und Arbeitszeitverkürzung. Ein Lokführer berichtete: „Besonders im letzten Jahr hat sich der Tonfall des Managements extrem verändert. Nicht nur bei den Dienstplänen nimmt keiner auf uns Rücksicht. Dies zeigt sich auch daran, wie stur [Bahn-Chef Ulrich] Weber auf unsere Forderungen reagiert.“ Ein anderer sagte: „Das hier sieht nach einem schwierigen und langen Kampf aus.“
Die Regierung arbeitet im Verein mit der Bahn AG und der Eisenbahnergewerkschaft EVG an einem Gesetz zur so genannten Tarifeinheit, um die kleinen Spartengewerkschaft auszuschalten. Ein S-Bahn-Führer sagte: „Wir wissen nicht, was die Regierung vorhat. Wenn sie die Tarifeinheit gesetzlich einführen, ist das ein grundlegender Angriff auf das Streikrecht.“
Ein jüngerer Lokführer sagte: „Die Bahn hat offensichtlich die ganze Auseinandersetzung provoziert. Der Vorstand bewegt sich überhaupt nicht, stellt völlig auf stur. Ich fürchte, die Bahn-Direktion will uns um jeden Preis eine Niederlage beibringen, um die GDL loszuwerden.“ Sein Fazit: „Wir haben keine Demokratie mehr, wir können nur noch alle vier Jahre entscheiden, wer uns betrügt.“
Das Gesetz zur Tarifeinheit, das Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) für die Bundesregierung vorbereitet, würde bedeuten, dass in einem Unternehmen nur noch die Gewerkschaft mit den meisten Mitgliedern im Gesamtunternehmen die Tarife verhandeln kann. Ein solches Machtmonopol für die DGB-Gewerkschaften würde den kleineren Gewerkschaften wie GDL, Cockpit, UFO (Fluglotsen), Marburger Bund (Ärzte) und GdF (Flugsicherung) die Verhandlungsgrundlage entziehen. Angesichts der Tatsache, dass der DGB und seine Einzelgewerkschaften eng mit Unternehmen und Regierung zusammenarbeiten, würde dies de facto die Abschaffung des Streikrechts bedeuten.
Um dieser Gefahr entgegenzutreten, reicht aber die Strategie der GDL in keiner Weise aus. Schon am Mittwochmorgen, kurz nach Streikende, versprach Claus Weselsky im Morgenmagazin, die GDL werde keinen unbefristeten Streik ausrufen, obwohl die Mitglieder einem solchen unbefristeten Streik in der Urabstimmung mit 91 Prozent zugestimmt hatten. „Wir sind uns unserer Verantwortung bewusst“, versicherte Weselsky.