Matteo Renzi, der neue Chef der italienischen Demokratischen Partei (PD), treibt die Regierung seines Parteifreunds Enrico Letta (PD) mit immer neuen Forderungen vor sich her. Zurzeit verlangt er ein neues Arbeitsrecht, eine Verfassungsänderung und eine Wahlrechtsreform. Zuletzt hat er sich mit Silvio Berlusconi zusammengetan, um Letta, den er als Regierungschef gerne ablösen würde, unter Druck zu setzen.
Der Florentiner Bürgermeister Renzi ist erst vor sieben Wochen zum neuen Chef der Demokratischen Partei gewählt worden. Aus den Parteiwahlen im Stil amerikanischer Primaries, an denen sich nicht nur Parteimitglieder, sondern praktisch jeder beteiligen konnte, ging er im Dezember mit siebzig Prozent der Stimmen als neuer Parteisekretär hervor.
Seither wird der 39-Jährige von der italienischen und internationalen Presse als „charismatischer Reformer“ und Italiens Tony Blair gefeiert. Die Welt bezeichnet ihn als „Shootingstar“, Der Spiegel als „Italiens Polit-Hoffnung“ und die Financial Times als „Italy’s best hope“. Er selbst nennt sich „Rottamatore“ (Verschrotter), der bereit sei, alte Zöpfe abzuhauen und sogenannte „Reformen“ rücksichtslos durchzudrücken.
Welcher Art diese Reformen sind, zeigen seine Vorschläge für ein neues Arbeitsrecht, die er auf Facebook vorstellte und am 16. Januar im Parteisekretariat absegnen ließ. Die Reformen, in Anlehnung an Barack Obamas Arbeitsmarktpolitik „Jobs Act“ genannt, sollen Unternehmer in jeder Hinsicht entlasten und den Arbeitsmarkt auf Kosten der Arbeiter flexibler gestalten.
Im Zentrum der Vorschläge steht ein neuer, einheitlicher Arbeitsvertrag für praktisch alle privaten Arbeitsverhältnisse. Danach sollen Arbeiter oder Angestellte erst nach drei Jahren Probezeit volle Bezüge, Rechte und Kündigungsschutz erhalten. Schon jetzt breiten sich Zeit-, Leih- und Fremdfirmen in Italien rasant aus. Mit dem neuen Arbeitsvertrag sollen nun auch reguläre Gehälter gesenkt und die Unternehmer in den ersten drei Jahren von jeder Verpflichtung für die Arbeiter befreit werden.
Zudem will Renzi die „Cassa Integrazione“ abschaffen und sie durch ein einheitliches staatliches Arbeitslosengeld, gekoppelt an die Pflicht zur Weiterbildung, ersetzen.
Die „Cassa Integrazione“ ist eine Art Nullstundenkurzarbeit. Sie bewahrt Arbeiter vor der Entlassung, wenn sie vorübergehend nicht oder nur teilweise arbeiten. Ihre Abschaffung ist vor allem ein Zugeständnis an den Fiat-Konzern, der seit längerem mit dem Gedanken spielt, die Konzernzentrale aus Italien abzuziehen, und Teile der Belegschaft immer wieder monatelang auf Nullstundenkurzarbeit setzt. Mit Renzis Reform könnte der Konzern sie leichter entlassen.
Außerdem schlägt Renzi vor, trotz eines gewaltigen staatlichen Defizits die Unternehmenssteuern um weitere zehn Prozent zu senken. Auf Facebook schwärmt er: „Nicht die Gesetze schaffen Arbeit, sondern die Unternehmer.“ Es gehe um „die Lust, sich zu engagieren, zu investieren, zu erneuern“.
Renzi will auch das Label „Made in Italy“ stärker schützen, eine nationalistische Forderung, die er mit der Forconi-Bewegung und dem Movimento 5 Stelle von Beppe Grillo teilt. Er bezieht das „Made in Italy“ nicht nur auf Waren, sondern auch auf die Personen, die sie herstellen. Die Maßnahme richtet sich unter anderem gegen Chinesen in der italienischen Textil- und Modebranche.
Unterstützung für seine arbeiter- und ausländerfeindlichen Maßnahmen erhält Renzi aus den Reihen der Gewerkschaften und der früheren Rifondazione Comunista, die seine „Reformen“ als Ausweg aus der Krise feiern.
Die Gewerkschaften begrüßen Renzis Arbeitsmarktreform mit dem Argument, die Neuorganisation von Arbeitsvertrag und Arbeitslosengeld mache es jungen Arbeitern leichter, Arbeit zu finden. Sie unterstützen auch Renzis Vorschlag, eine stärkere gewerkschaftliche Mitbestimmung nach deutschem Vorbild einzuführen. Renzi fordert die Beteiligung von Gewerkschaftsvertretern in den Aufsichtsräten mit dem Argument, dieses System funktioniere in Deutschland hervorragend.
„Renzis Ansatz ist richtig“, lobte Susanna Camusso, Chefin der größten Gewerkschaft CGIL, in einem Stampa-Interview. Maurizio Landini, der Chef der Metallergewerkschaft FIOM, erklärte: „Ich bin mit der Idee einverstanden, dass man die Prekarität eindämmen muss“. Wobei er einräumen musste, dass Renzi nicht einmal einen Mindestlohn vorsehe.
Nichi Vendola, der apulische Regionalpräsident und Chef der Rifondazione-Abspaltung SEL, behauptet, Renzi werde die große Koalition beenden, die gegenwärtig die italienische Regierung bildet. Die Demokraten hatten im April 2013 eine Koalitionsregierung mit der PdL Silvio Berlusconis und nach dessen Ausscheiden im Oktober mit der PdL-Abspaltung Nuovo Centrodestra von Angelino Alfano gebildet. Als dritter Partner gehört die Partei Scelta Civica (Bürgerwahl) von Ex-Premier Mario Monti der Regierung an.
Der Zeitung Unità erklärte Vendola: „Ich stehe allen nahe, die sagen, dass die große Koalition eine Katastrophe für das Land sei. (…) Wenn Renzi das sagt, dann lebe Renzi hoch.“
Vendola gab zu, früher ein gespanntes Verhältnis zu Renzi gehabt zu haben, doch seit er bei den Primärwahlen der Demokraten siebzig Prozent der Stimmen erobert habe, müsse er den Hut vor ihm ziehen („Ich muss sagen: Chapeau!“). Renzis Sieg sei ein „Zyklon“, ein Wirbelwind, der die Probleme der Demokratie überwinden könne. Vendola kündigte an, mit Renzi zusammenzuarbeiten: „Ich hoffe, gemeinsam mit Renzi ein gemeinsames Haus für die Zukunft zu bauen.“
Um das Wahlrecht und die Verfassung zu ändern, hat sich Renzi direkt mit Silvio Berlusconi zusammengetan und damit heftige Konflikte in der eigenen Partei ausgelöst.
Anfang Dezember 2013 hatte das Verfassungsgericht das geltende Wahlrecht für verfassungswidrig erklärt. Es war 2005 von Berlusconis Justizminister Roberto Calderoli (Lega Nord) eingeführt worden, der es selbst als „Porcellum“ (von Porcata – Schweinerei) bezeichnete. Es sollte vor allem Berlusconis Mehrheit sichern und war hochgradig undemokratisch. Das Verfassungsgericht bemängelte unter anderem das Bonussystem, das den Wahlsieger stark begünstigt, und die geschlossenen Listen, die keine Stimmabgabe für individuelle Kandidaten zulassen.
Renzi Vorschlag ist genauso undemokratisch. Es sieht ebenfalls ein ausgeprägtes Bonussystem für den Wahlsieger und geschlossene Listen vor. Außerdem schafft es zahlreiche gewählte Institutionen ab und diskriminiert kleinere Parteien noch stärker als das bisherige Wahlrecht.
Renzi schlägt vor, dass die größte Partei oder Koalition wie im bisherigen Wahlrecht automatisch 54 Prozent der Sitze in der Abgeordnetenkammer erhält. Allerdings soll dies nur gelten, wenn sie mindesten 35 Prozent der Stimmen bekommt. Erreicht keine Partei 35 prozent, soll ein zweiter Wahlgang stattfinden.
Für kleine Parteien die einer Koalition angehören, soll eine Sperrklausel von 5 Prozent, für Einzelparteien von acht und für Koalitionen oder Wahlbündnisse von zwölf Prozent gelten. Solche Quoten würden auch Parteien wie der Lega Nord oder der SEL den Zugang zum Parlament verwehren.
Die bisherigen Provinzen und den Senat will Renzi als gewählte Körperschaften abschaffen. Aus dem Senat soll eine „Kammer der Autonomien“ werden, in der Vertreter der Regionen, sowie Bürgermeister großer Städte sitzen. Auf diese Weise soll jährlich eine Milliarde Euro eingespart werden.
Die Abschaffung des Zweikammersystems wäre in gewisser Hinsicht eine Rückkehr zu Zuständen, wie sie seit 1861 im Königreich Italien und unter dem Faschismus geherrscht hatten. Damals wurden Senatoren vom König auf Lebenszeit ernannt. Erst die Verfassung von 1947 sah vor, dass Senatoren (bis auf wenige Ausnahmen) von der Bevölkerung gewählt werden.
Renzis Vorschlag und die Art und Weise, wie er seine Pläne durchsetzte, lösten innerhalb der PD Konflikte aus.
Renzi hatte am 18. Januar als erstes Silvio Berlusconi in die Parteizentrale der Demokraten eingeladen. Dazu wurden sämtliche umliegenden Straßen abgesperrt und keinerlei Journalisten zugelassen. Berlusconi betrat das Gebäude durch den Hintereingang, was nicht verhindern konnte, dass seine Limousine mit Eiern beworfen wurde.
Am selben Tag sprach Renzi mit Angelino Alfano, dem Chef des Koalitionspartners Nuovo Centrodestra und ehemaligen Kronprinzen Berlusconis. Alfano sagte anschließend der Zeitung La Repubblica: „Ich und Matteo, wir verstehen uns am Ende, wir sind uns sympathisch. Wenn es ein Problem gibt, dann zwischen ihm und Letta, nicht mit mir.“
Renzi wurde aus den Reihen der eigenen Partei vorgeworfen, er verhelfe Berlusconi, der wegen Steuerhinterziehung rechtskräftig verurteilt und aus dem Senat ausgeschlossenen worden ist, zu einem Comeback.
Der Präsident der PD, Gianni Cuperlo, legte aus Protest sein Amt nieder. Auch Vize-Wirtschaftsminister Stefano Fassino (PD) trat zurück, nachdem ihn Renzi in einer Pressekonferenz persönlich brüskiert hatte.
Renzi rechtfertigte sich, er sorge nur dafür, dass die notwendige Zwei-Drittel-Mehrheit für eine Verfassungsänderung zustande komme. Sein neues Wahlrecht werde sicherstellen, dass das Land regierbar bleibe. In drei Stunden habe er geschafft, was bisher in drei Jahren nicht erreicht worden sei.
Mit seinen Vorstößen fällt Renzi der Regierung Letta in den Rücken und verschärft ihre Krise. Viele Minister des Kabinetts sind angeschlagen.
Am 27. Januar trat Landwirtschaftsministerin Nunzia Di Girolamo (Nuovo Centrodestra) wegen Korruptionsvorwürfen zurück, und auch Justizministerin Anna Maria Cancellieri steht wegen Einflussnahme auf Entscheidungen der Justiz in der Kritik.