Am Mittwochabend beschloss der italienische Senat mit 192 gegen 113 Stimmen, Silvio Berlusoni auszuschließen. Infolge einer rechtskräftigen Verurteilung wegen Steuerbetrug im August darf der ehemalige Regierungschef fortan kein politisches Amt mehr ausüben.
Der 77-jährige Multimilliardär verliert auch seine Immunität. Im Februar werden drei weiterer Gerichtsprozesse gegen ihn fortgesetzt, unter anderem der Ruby-Prozess wegen Prostitution mit einer Minderjährigen und ein Korruptionsverfahren wegen Bestechung eines Senators.
Der Entscheidung vom Mittwochabend ging eine stürmische, stundenlange Senatssitzung voraus. Sie begann mit Dutzenden Änderungsanträgen von Berlusconi-Getreuen, wurde immer turbulenter und mündete schließlich beinahe in Handgreiflichkeiten zwischen Anhängern der neu belebten Forza Italia und Berlusconi-Gegnern in der Demokratischen Partei (PD), der SEL und Beppe Grillos Movimento Cinque Stelle (M5S).
Berlusconi, der selbst nicht an der Sitzung teilnahm, hatte seine Anhänger zur Demonstration vor seiner Römer Villa Palazzo Grazioli aufgerufen, wo er auf einer Bühne im rot-grün-weißen Fahnenmeer auftrat und pathetisch ausrief: „Dies ist ein bitterer Tag und ein Tag der Trauer für die Demokratie. Wir werden nicht nachgeben.“ Er versicherte, er bleibe Politiker: „Es gibt auch andere Führer, die nicht Parlamentarier sind.“
Noch am Wochenende hatte er seinen Ausschluss aus dem Senat als politische Verfolgung und Teil eines „Staatsstreichs“ hingestellt und indirekt an Präsident Giorgio Napolitano appelliert, ihn rasch zu begnadigen, obwohl er ihn nicht darum bitten werde. Napolitano lehnte dies umgehend ab.
Erst vor kurzem hatte Berlusconi seine alte Partei Forza Italia wieder zum Leben erweckt, mit er vor zwanzig Jahren politisch aufgestiegen war. Doch sein bisheriger Vertrauter Angelino Alfano, Vizepremier und Innenminister der derzeitigen Regierung, machte diesen Schritt nicht mit, weil er Neuwahlen vermeiden wollte, und gründete mit den vier anderen amtierenden Ministern der bisherigen Berlusconi-Partei PdL und 57 Abgeordneten die Nuovo Centrodestra (Neue Rechte Mitte).
Alfano und dreißig weitere Senatoren seiner Fraktion stimmten am Mittwochabend im Senat zwar gegen den Ausschluss Berlusconis, ließen aber keinen Zweifel an ihrer Entschlossenheit, die Regierung von Enrico Letta (PD) im Amt zu halten. Alfano forderte die Letta-Regierung auf, jetzt geschlossen zu handeln. Sie habe jetzt keinen Vorwand mehr, Reformen auf die lange Bank zu schieben, sagte Alfano.
Guglielmo Epifani, Chef der Demokratischen Partei, erklärte, der Senat habe an diesem Tag lediglich seine Pflicht getan. Der Rechtsstaat habe sich durchgesetzt. Wer jetzt von einem „Staatsstreich“ rede, handle „gefährlich und unverantwortlich“.
Premierminister Enrico Letta (PD) sagte, jetzt sei der Weg für eine rasche Durchsetzung der „Reformen“ offen. Die Regierung werde in ihrer jetzigen Form weitermachen, schließlich regiere auch in Deutschland neuerdings eine Große Koalition. Die italienische Regierung sei jetzt stärker und geschlossener.
Auch zahlreiche internationale Zeitungen begrüßten das Ausscheiden Berlusconis aus allen offiziellen Ämtern. Der „übermächtige Mann“ habe die italienische Politik zwanzig Jahre lang dominiert, schrieb etwa die Süddeutsche Zeitung. Nun keime die „Hoffung auf eine große Renaissance“ und einen Neubeginn auf.
Eine derartige Beurteilung überschätzt allerdings die Bedeutung der Person Berlusconis. Seine dominierende Rolle war in erster Linie ein Ergebnis des Niedergangs und Bankrotts der offiziellen Arbeiterbewegung.
Die Kommunistische Partei (KPI), die größte Westeuropas, hatte in der Nachkriegszeit jahrzehntelang die italienische Arbeiterbewegung dominiert. Obwohl sie den italienischen Staat loyal unterstützte, wurde sie – mit Ausnahme eines kurzen Zwischenspiels am Ende des Zweiten Weltkriegs – aber nie an der Regierung beteiligt. Die Christdemokraten regierten unbehelligt nahezu fünf Jahrzehnte lang und entwickelten ein dichtes Geflecht von Nepotismus und Korruption, in dem auch die Mafia, der Vatikan und rechte Verschwörungen der Geheimdienste eine Rolle spielten.
Als dieses Geflecht vor zwanzig Jahren in einem riesigen Korruptionsskandal zerriss, entledigte sich die KPI ihrer kommunistischen Symbolik und bastelte aus den Trümmern der alten Parteien die Demokratische Partei. Flankendienste leistete ihr dabei eine Abspaltung, die unter dem Namen „Kommunistische Neugründung“ (Rifondazione Comunista) auch die kleinbürgerliche radikale Linke in ihre Reihen aufnahm.
In den folgenden zwanzig Jahre erlebte Italien dann ein sich mehrfach wiederholendes Spiel: Von den Demokraten getragene oder geführte Regierungen „reformierten“ mit der Unterstützung von Rifondazione den italienischen Kapitalismus auf Kosten der Arbeiterklasse, während sich Berlusconi, ein zwielichtiger Emporkömmling des alten korrupten Systems, als Gegner des Establishments, des Staats und seiner Richter ausgeben konnte.
Daran wird auch Berlusconis Ausscheiden aus allen politischen Ämtern nichts ändern. Die Regierung Letta ist dabei, den Sparhaushalt 2014 durchzusetzen. Um die großen Unternehmen und die Bankenwelt zufrieden zu stellen, greift sie die Arbeiterklasse immer brutaler an. Auf dringliche Aufforderung der EU hat Letta den Sparhaushalt weiter verschärft.
Nicht nur werden nächstes Jahr die Staatsausgaben um über zwölf Milliarden Euro gesenkt, indirekte und Mehrwertsteuern erhöht, die Löhne im öffentlichen Dienst eingefroren und leer werdende Stellen nicht wiederbesetzt. Die Regierung will außerdem acht Staatsunternehmen privatisieren, darunter das Schiffbauunternehmen Fincantieri, sowie Teile von Alitalia, der Post und des Ölkonzerns ENI, wodurch weitere tausende Arbeitsplätze gefährdet sind.
Dabei befindet sich das Land bereits seit fünf Jahren in einer tiefen Rezession. Die Jugendarbeitslosigkeit ist über vierzig Prozent geklettert und die Altersarmut ist drastisch angestiegen. Fünf Millionen Einwohner Italiens gelten als absolut arm, sechs Millionen sind ohne Arbeit.
Lettas Regierung ist äußerst instabil. Um den Sparhaushalt durchzusetzen, ist sie auf die Koalition mit Alfanos rechter Rumpfpartei angewiesen. Erst am Dienstagabend gewann Letta eine Vertrauensabstimmung über den Stabilitätspakt im Senat nur dank den Stimmen der Alfano-Fraktion. Neben Berlusconis PdL ist auch er dritte Koalitonspartner, die Scelta Civica (Bügerwahl) Mario Montis, auseinander gebrochen.
Die Demokratische Partei selbst ist tief zerstritten. Der Bürgermeister von Florenz, Matteo Renzi, fordert ein Ende der Koalition mit Alfano und strebt baldige Neuwahlen an. Letta dagegen möchte die Regierung bis zum Ende der Wahlperiode weiterführen. Renzi hat gute Chancen, in der offenen Urwahl am 8. Dezember Epifani vom Sessel des Parteichefs zu verdrängen. Renzi hat die Unterstützung eines Großteils jener Demokraten, die aus der Funktionärselite der ehemaligen Kommunistischen Partei kommen, zum Beispiel des ex-Rifondazione-Führers Nichi Vendola.
In dieser Situation stellt sich die dringende Aufgabe, eine neue revolutionäre Partei aufzubauen, um die Arbeiterklasse auf die kommenden Klassenkämpfe vorzubereiten. Denn unter Bedingungen des jahrzehntelangen Verrats der KPI, ihrer Nachfolgeparteien und der Gewerkschaften wächst die Gefahr, die von rechten populistischen Parteien ausgeht.
Auch Berlusconis Forza Italia, die nach wie vor über eine beträchtliche Anhängerschaft verfügt, versucht sich als rechtspopulistische Opposition neu zu positionieren. Sie hat am Dienstagabend ihren Austritt aus der Regierungskoalition erklärt und verweigert seither dem Sparhaushalt 2014, den Berlusconi als „Stabilitätspakt der Faulenzer“ bezeichnet, jede Unterstützung.
Schon der Aufstieg der Fünf-Sterne-Bewegung von Beppe Grillo vor einem halben Jahr hat gezeigt, welch tiefe Frustration sich in der Bevölkerung ausbreitet, und dass sie bisher keine Möglichkeit hat, sich auf fortschrittliche Weise zu artikulieren.