Der Oligarch Michail Chodorkowski, der nach zehnjähriger Haft vom russischen Präsidenten Wladimir Putin kurz vor Weihnachten begnadigt wurde, wird von deutschen Politikern und Medien als Märtyrer der Demokratie gefeiert.
Die Grünen-Politikerin Marieluise Beck schilderte dem Deutschlandfunk, wie sie sich in Berlin zum ersten Mal mit Chodorkowski, „einem Menschen, den ich über acht Jahre gefühlsmäßig ganz, ganz eng begleitet habe“, unterhielt und ihn umarmte: „Und es war schon sehr schön.“
Der Fraktionschef der Linkspartei, Gregor Gysi, schrieb auf seiner Facebook-Seite: „Der Begnadigungsakt ist ein wichtiger, überfälliger und dringend notwendiger Schritt.“ Auch der Linken-Abgeordnete Stefan Liebich äußerte seine Freude über die Freilassung des Oligarchen, bemängelte allerdings, man habe „den Eindruck, dass der Staatschef entscheidet, wer ins Gefängnis kommt und wer freikommt“.
Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) sagte der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung: „Ich freue mich, dass Michail Chodorkowski in Freiheit in Deutschland ist. Allen, die daran Anteil hatten, gebührt Dank.“ Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel äußerte ihre Freude.
Die Begeisterung der deutschen Eliten über Chodorkowski sagt mehr über den Zustand der Demokratie in Deutschland aus, als über die politischen Zustände in Russland. Der Aufstieg des mittlerweile 50-Jährigen zum reichsten Mann Russlands, der 2003 mit seiner Verhaftung jäh endete, ist mit Verbrechen gepflastert, die auch nach deutschem Recht strafbar sind.
1963 in Moskau geboren, studierte Michail Borissowitsch Chodorkowski wie seine Eltern zuerst Chemie und dann Ökonomie. Bereits in der Sowjetunion legte er dann als Funktionär des kommunistischen Jugendverbands Komsomol die Grundlage für seinen späteren Reichtum.
Unter Gorbatschow durften ausgesuchte Komsomol-Mitglieder mit Markt und Handel experimentieren. Als Leiter des auf marktwirtschaftlichen Grundsätzen beruhenden Komsomol-Unternehmens NTTM importierte Chodorkowski Computer, Jeans und billigen Brandy aus dem Ausland, den er als teuren Cognac weiterverkaufte, und exportierte unter anderem Matrjoschka-Puppen.
Schließlich fanden Chodorkowski und ein Geschäftspartner eine Möglichkeit, die in der Sowjetunion zirkulierende Industriewährung in Rubel umzuwandeln. Dies, so ein Artikel im Spiegel, war „wie eine Lizenz zum Golddrucken“.
1989 übernahm er den Vorsitz einer der ersten Privatbanken Russlands. Sie war mit dem Ziel gegründet worden, Geldmittel für NTTM zu beschaffen. 1990 kaufte die Bank NTTM und nannte sie Menatep-Invest, mit Chodorkowski als Vorstandsvorsitzendem.
Nach der Auflösung der Sowjetunion Ende 1991 halfen Chodorkowski die Beziehungen zum russischen Präsidenten Boris Jelzin weiter. Um 1993 wurde er Mitglied im Beraterstab des russischen Premierministers, Stellvertretender Minister für Brennstoffe und Energie sowie Mitglied des ‚Rats für Industriepolitik’ bei der russischen Regierung.
Aus diesem Jahr stammt auch das Bekenntnis des damals Dreißigjährigen: „Wir wollen nicht verbergen, dass wir beseelt sind vom Reichtum. Unsere Ziele sind klar, die Aufgaben festgelegt – wir wollen Milliardäre werden. Wir haben die Nase voll vom Leben nach Lenin! Unser Idol ist Ihre Majestät, das Kapital.“
Als Regierungsmitglied war Chodorkowski am Verkauf der Unternehmen beteiligt, an denen sich der Banker Chodorkowski bereicherte. So nahm er 1995 an der Kabinettssitzung teil, auf der das „loans for shares“-Programm vorgeschlagen wurde, in dessen Rahmen mehrere große Erdölunternehmen privatisiert wurden.
Der große Coup gelang Chodorkowski 1995. Rosprom, eine Tochter seiner Menatep-Bank, ersteigerte bei einer Auktion für 309 Millionen Dollar, einen Bruchteil des damaligen Marktwerts, die Aktienmehrheit des Ölkonzerns Jukos. Die Auktion wurde von Menatep durchgeführt, die vorher schon als Hausbank von Jukos tätig gewesen war. Es handelte sich also gleich in mehrfacher Hinsicht um ein Insidergeschäft. Der Wert von Jukos stieg in kurzer Zeit um das Hundertfache auf 30 Milliarden Dollar.
1996 wechselte Chodorkowski von der Spitze von Menatep an die Spitze von Jukos. In diesem Jahr sorgte er gemeinsam mit anderen Oligarchen mit massiven Geldsummen für die Wiederwahl Jelzins, der zu einer Art Säulenheiliger der Oligarchen geworden war und für deren hemmungslose Bereicherung durch die Plünderung des öffentlichen Eigentums garantierte.
Chodorkowskis Aufstieg beruhte aber nicht nur auf Beziehungen, Insidergeschäften und Betrug. Wie andere Oligarchen griff er auch zu härteren Methoden. 2006 wurde der Sicherheitsschef von Jukos wegen mehrfachen Mordes zu 24 Jahren Haft verurteilt. Präsident Putin zeigte sich im Fernsehen überzeugt, dass er „auf Anweisung seines Chefs“ gehandelt habe. Juristisch konnte Chodorkowski allerdings nie eine Verbindung zu den Morden nachgewiesen werden.
Zu den ungeklärten Opfern am Wegrand Chodorkowskis gehört der Bürgermeister der Stadt Neftejugansk. Jukos hatte dort 1998 wegen angeblicher Korruption die Zahlung von Steuern eingestellt und Geld direkt an Krankenhäuser und ähnliche Einrichtungen überwiesen. Als sich der Bürgermeister widersetzte, wurde er kurz danach ermordet.
Gegen Ende der 1990er Jahre wandelte sich der Multimilliardär Chodorkowski zum Unternehmer, der für „Transparenz“, westliche Standards bei der Buchführung und „Ehrlichkeit, Offenheit und Verantwortung“ eintrat.
Sein Vermögen stieg weiterhin rasant an. Jukos wurde zum weltweit viertgrößten Öl- und Gasproduzenten. Auf der Forbes-Rangliste der reichsten Männer der Welt kletterte Chodorkowski von Platz 194 (2001) auf Platz 26 (2003). Nun ging es nicht mehr darum, noch mehr zu rauben, sondern das Zusammengeraffte gegen andere Räuber zu schützen.
Chodorkowski begann, die Regierung zu kritisieren und Oppositionsparteien – von der rechtsliberalen Jabloko bis hin zur Kommunistischen Partei – zu finanzieren und sich als Mann des Westens darzustellen. Dabei brüstete er sich öffentlich, dass er Parlamente und Wahlergebnisse kaufen könne.
Nachdem er mit den US-Ölkonzernen Exxon und Chevron über den Verkauf von Jukos-Anteilen verhandelt hatte und mit Putin vor laufenden Kameras aneinander geraten war, ging die Staatsanwaltschaft gegen ihn vor. 2003 wurde er verhaftet und 2005 zusammen mit seinem Geschäftspartner Platon Lebedew zu zehn Jahren Haft wegen schweren Betruges und Steuerhinterziehung verurteilt. In der Revision wurde das Urteil auf acht Jahre reduziert.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg, bei dem Chodorkowski Beschwerde einreichte, gab ihm in einem Urteil vom Mai 2011 zwar in einigen Fragen der Haftbedingungen Recht, verneinte aber, dass das Strafverfahren zu politischen Zwecken missbraucht worden sei.
2010 wurden Chodorkowski und Lebedew in einem weiteren Prozess wegen der Unterschlagung von Öleinnahmen in Milliardenhöhe zu weiteren sechs Jahren Haft verurteilt. Dieses Verfahren stieß wegen der Beeinflussung durch die Regierung auf starke internationale Kritik.
Während seiner zehnjährigen Haft hat Chodorkowski einen großen Teil seines einstigen Reichtums verloren. Jukos ist zerschlagen und in den staatlich kontrollierten Rosneft-Konzern eingegliedert. Ein armer Mann ist Chodorkowski deshalb aber nicht.
Er selbst schweigt sich aus guten Gründen über sein Vermögen aus. Jukos hatte aus der Schweiz heraus operiert und in zahlreichen Steueroasen Briefkastenfirmen unterhalten und Gelder deponiert. Allein in der Schweiz hatte die Bundesanwaltschaft 2004 aufgrund eines russischen Rechtshilfeantrags fünf Milliarden Franken vorübergehend eingefroren, die Menatep-Aktionäre auf Schweizer Banken deponiert hatten.
Forbes schätzte Chodorkowskis Vermögen noch 2011 auf 2,2 Milliarden Dollar und hielt trotz Dementis seiner Anwälte an dieser Summe fest. 2010 entdeckten deutsche Staatsanwälte bei der Durchsuchung der Filiale der Schweizer Privatbank Julius Bär in Frankfurt zufällig 17 Millionen Dollar, die Chodorkowski auf einem Offshore Finanzplatz deponiert hatte. Ein Verfahren wegen Geldwäsche stellten sie bald wieder ein.