Ende November streikten erneut rund 1.000 Beschäftigte an den Amazon-Standorten Bad Hersfeld und Leipzig. Die kurzen Arbeitsniederlegungen sollen den weltweit größten Versandhändler zwingen, die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi als Partner anzuerkennen.
Amazon, von Jeff Bezos 1994 in den USA gegründet, übernahm 1998 den damaligen deutschen Marktführer Teleclub. Inzwischen deckt Amazon fast ein Viertel des deutschen Onlinehandels ab. 2012 setzte der Konzern in Deutschland 6,4 Milliarden Euro um, 60 Prozent mehr als noch 2010. Das sind ungefähr 10 Prozent vom weltweiten Umsatz. Deutschland ist damit nach den USA der wichtigste Absatzmarkt. Aufgrund von Gewinnverschiebungen ins Ausland und legalen Steuertricks zahlte der Großkonzern im letzten Jahr in Deutschland aber nur 3,2 Millionen Euro Steuern.
2012 betrieb Amazon weltweit 89 Warenversandhäuser, dieses Jahr sollen sieben weitere hinzukommen. Am Donnerstag vergangener Woche öffnete ein Versandlager in Brieselang (Brandenburg) in der Nähe von Berlin. Rund 1.000 Beschäftigte und 2.000 Saisonarbeiter sollen dort 110.000 Pakete täglich packen.
Nächstes Jahr sollen weitere Verteilzentren in Osteuropa aufgebaut werden. In Tschechien sind zwei Zentren in der Nähe des Flughafens der Hauptstadt Prag (Praha) und der zweitgrößten Stadt Brünn (Brno) geplant. In Polen plant Amazon zwei Verteilzentren im Umfeld von Breslau (Wroclaw) und eines bei Posen (Poznan). Die polnische Regierung lockt mit „Sonderwirtschaftszonen“, in denen Unternehmen zehn Jahre lang keine Grundsteuer zahlen.
Gewinne hat Amazon schon längere Zeit nicht mehr gemacht. Bezos investiert immer wieder gewaltige Summen, um weltweit seine marktbeherrschende Stellung auszubauen. Dazu bietet der Konzern Waren auch so günstig an, dass Verluste einkalkuliert sind. Ziel ist der Ruin der Konkurrenten.
Der Amazon-Konzern organisiert die Arbeit in seinen europäischen Zentralen und Versandlagern genauso gnadenlos wie an den US-amerikanischen Standorten. Ursprünglich wollte Bezos den Konzern „relentless.com“ nennen, gnadenlos, schreibt die Süddeutsche Zeitung. Kleinen Verlagen, die ohne Amazon nicht verkaufen können, ringt er selbstzerstörerische Rabatte ab. Laut SZ nennt er dies das „Gazellen-Projekt“. Amazon jagt die Kleinverleger „wie ein Gepard eine kranke Gazelle“. Anstatt Klimaanlagen habe Amazon in früheren Zeiten in den heißen Lagerhallen lieber Rettungswagen für kollabierende Arbeiter eingesetzt. „Diese Variante war kostengünstiger.“
Auch jetzt müssen die Beschäftigten weltweit noch bei niedriger Bezahlung in langen Schichten schuften. Ständig stehen sie unter dem Druck und der Beobachtung der Geschäftsleitung. Eine Reportage der britischen BBC zeigte mit versteckter Kamera, wie Beschäftigte in 10,5-Stunden-Schichten über 17 Kilometer (11 Meilen) laufen mussten. Der französische Journalist Jean-Baptiste Malet, der im Vorweihnachtsgeschäft undercover bei Amazon im südfranzösischen Montélimar (nördlich von Marseille) arbeitete, berichtete gar von 20 Kilometern, die er in einer Schicht als „Picker“, zu Deutsch Kommissionierer, laufen musste.
Beschäftigte des Lagers in Rugeley (East Midlands, nördlich von Birmingham) berichteten in Interviews mit dem britischen Privatsender Channel 4, dass sie während dieser langen Schichten nur eine halbstündige Pause haben, wobei sie allein zwanzig Minuten benötigen, um zur Kantine und wieder zurück zu ihrem Arbeitsplatz zu laufen. Dabei müssen sie an den Ein- und Ausgängen des Lagers und der Kantine Sicherheitskontrollen wie auf einem Flughafen durchlaufen.
Ein ehemaliger Beschäftigter des Lagers im deutschen Rheinberg bei Duisburg bestätigte diese Prozedur. „Da man durch die Metalldetektoren geht, darf man nichts Metallisches am Körper haben, keine Uhr, keinen Schlüssel, kein Handy, nicht einmal einen Gürtel. Selbst die Stahlkappen in den Arbeitsschuhen sind aus Carbon.“
Ein ausgeklügeltes Punktesystem setze die Arbeiter unter Druck, berichteten seine britischen Kollegen. Jede Bewegung der Arbeiter wird per GPS-Tracker verfolgt und ausgewertet. Auf Grundlage der Ansage „Drei Vergehen und du bist raus“ würden Punkte für „Vergehen“ verteilt. Darunter fielen kurze Unterhaltungen mit Kollegen, Krankmeldungen oder „zu lange Toiletten-Aufenthalte“. In Deutschland ist man nach sechs Punkten „raus“.
In Großbritannien heuert Amazon die Arbeiter über so genannte zero hours contracts (Null-Stunden-Verträge) an. Dabei haben die Arbeiter keine gesicherte Arbeitszeit, sondern müssen auf Abruf arbeiten. In Deutschland nutzt Amazon Leiharbeiter, um flexibel zu sein. Den rund 9.000 fest Beschäftigten – von denen schätzungsweise 90 Prozent einen befristeten Arbeitsvertrag haben – stehen rund 14.000 Leiharbeiter gegenüber.
Die befristeten Verträge und die unmenschlichen Arbeitsbedingungen bei geringer Bezahlung führen zu einer hohen Fluktuation innerhalb der Belegschaft. Daher siedelt sich Amazon immer in Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit an, um ständig neuen Nachschub an billigen Arbeitskräften zu erhalten.
Doch nicht nur das. 2011 kam an die Öffentlichkeit, dass Amazon in der Weihnachtszeit Langzeitarbeitslose unbezahlt bis zu 14 Tage arbeiten ließ. Die örtlichen Arbeitsagenturen bzw. Jobcenter waren eingebunden und sprachen von „Probearbeiten“ im Rahmen einer „Maßnahme zur Aktivierung und Eingliederung“. Weigerten sich die Arbeitslosen, umsonst zu arbeiten, drohte ihnen die Kürzung ihrer Hartz-IV-Gelder.
Das alles störte Verdi solange nicht, bis eine ARD-Fernsehreportage Anfang des Jahres aufdeckte, dass es neben diesen miesen Arbeitsbedingungen auch noch „moderne Sklavenarbeit“ gab, wie es die TV-Journalisten nannten.
Arbeiter aus Ländern wie Spanien, Rumänien und Ungarn wurden mit falschen Lohn-Versprechungen nach Deutschland gelockt und über eine deutsche Leiharbeitsfirma angestellt. So war es möglich, sie innerhalb von 24 Stunden ohne Begründung zu entlassen und zurück in ihr Herkunftsland zu schicken. Unter diesen Bedingungen mussten viele Arbeiter oft wochenlang am Stück arbeiten – für Niedrigstlöhne.
Öffentliche Empörung löste aber vor allem die Unterbringung dieser Arbeiter in überfüllten Quartieren aus, wo sie von offenbar rechtsradikalen Angestellten der Sicherheitsfirma „H.E.S.S Securities“ drangsaliert wurden. Heß war auch der Name von Hitler’s Stellvertreter.
Als ein Sturm der Entrüstung ausbrach, schritt Verdi sofort ein. Nur wenig später forderte sie Amazon auf, einen umfassenden Tarifvertrag auszuhandeln. Als Amazon sich verwundert weigerte, ließ die Gewerkschaft über Streik abstimmen und im April erstmals die Arbeit niederlegen. Zuvor hatte es Verdi nicht weiter gestört, dass Amazon möglichst niedrige Löhne zahlte und den Beschäftigten kaum eine Erhöhung zugestand – von Arbeitserleichterungen ganz zu schweigen.
Die Gewerkschaft schreitet nur dann gegen schreiendes Unrecht ein, wenn es die Geschäfte der Konzerne bedroht und die Gefahr besteht, dass Arbeiter unabhängig von ihr gegen dieses Unrecht aufbegehren. Das war nach der ARD-Reportage über die „Sklavenarbeit“ der Fall. Mit ihren Verbindungen in den Betrieben wirkt die Gewerkschaft wie ein Seismograph, der bei der leisesten Andeutung von Empörung und Protest reagiert und sich sofort dagegen in Stellung bringt.
Der Grund für die aktuelle Auseinandersetzung mit Amazon ist daher vorgeschoben. Verdi fordert eine Bezahlung nach dem Tarif im Einzel- und Versandhandel. Amazon orientiert sich an der geringeren Bezahlung in der Logistikbranche. Man sei eine „Logistikfirma”, sagte Amazons Deutschland-Chef Ralf Kleber. Zudem zahle der Konzern nach diesem Tarif schon übertariflich, nämlich 10,01 Euro brutto die Stunde. In diesem Jahr gäbe es auch erstmalig ein Weihnachtsgeld von 400 Euro, bzw. 600 Euro für Vorarbeiter (Leads genannt).
Verdi fordert hingegen einen Einstiegstarif von 11,69 Euro sowie ein tarifliches Weihnachtsgeld von mindestens 1.250 Euro. Über die Arbeitsbedingungen verlieren die Verdi-Vertreter dagegen kein Wort.
Wenn Amazon die Gewerkschaftsfunktionäre an seinen Tisch zitiert und mit ihnen über eine Tarifpartnerschaft berät, ist mit den Streiks Schluss. „Es ist nicht unser Ziel, Weihnachten zu bestreiken“, stellte Verdi-Gewerkschaftssekretär Heiner Reimann gegenüber welt.de klar. Der Betrieb von Amazon solle nicht lahmgelegt werden, vielmehr spreche man „eine nachdrückliche Einladung aus, an den Verhandlungstisch zu kommen“.
So versucht Verdi Amazon zu Hilfe zu eilen und bietet gleichzeitig dem stärksten Konkurrenten von Amazon, dem Hamburger Otto Versand, Schützenhilfe. Michael Otto, Aufsichtsratsvorsitzender der Otto Group – hinter Amazon mit weltweit 53.000 Beschäftigten zweitgrößtes Unternehmen im Internethandel – kritisierte bei einem Einzelhändlerkongress in Berlin Wettbewerber, die das Ansehen des E-Commerce durch schlechte Arbeitsbedingungen schädigen. „Diese schwarzen Schafe versuchen an den Futtertrog zu kommen und verschaffen sich kurzfristige Vorteile durch ihr Sozialdumping”, sagte er. „Wir brauchen einen Konsens darüber, dass Mindeststandards erhalten bleiben.”
Verdi, die den Otto-Konzern in der Auseinandersetzung mit Amazon ausdrücklich lobt, weil dieser mit ihr zusammenarbeitet, handelt diesen „Konsens“ aus. Dass dabei immer auch etwas für die Gewerkschaft abfällt, versteht sich von selbst. Im Aufsichtsrat des Otto-Konzerns sitzen neun Verdi- und Betriebsratsfunktionäre.