Die niederländische Regierung hat Ende vergangener Woche eine Vereinbarung mit drei kleineren Oppositionsparteien getroffen, um den Haushalt 2014 zu beschließen. Die Übereinkunft beinhaltet zusätzliche 6 Milliarden Euro an Einsparungen im Haushalt sowie Verschlechterungen für Arbeiter und Arbeitslose.
Der Haushalt muss in beiden Kammern des niederländischen Parlaments verabschiedet werden. Die Regierung aus rechtsliberaler VVD und sozialdemokratischer PvdA unter Ministerpräsident Mark Rutte (VVD) hat eine Mehrheit in der Zweiten Kammer, die von der Bevölkerung gewählt wird, in der kleineren „Ersten Kammer“, dem Oberhaus oder Senat, deren Vertreter von den Provinzparlamenten gewählt werden, aber nicht. Sie ist deshalb auf Unterstützung angewiesen.
Diese erhält sie nun von der liberalen D66 und zwei kleinen christlichen Parteien, der ChristenUnie und der SGP. Die fünf Parteien haben in der Ersten Kammer eine hauchdünne Mehrheit von einer Stimme.
Die Verhandlungen hatten mehrere Wochen gedauert und drohten sich zu einer Regierungs- und Staatskrise zu entwickeln. Finanzminister Jeroen Dijsselbloem (PvdA), der zugleich Chef der Euro-Gruppe ist, hatte wegen der Verhandlungen seine Teilnahme an der Jahrestagung des Internationalen Währungsfonds (IMF) abgesagt.
Die Regierung hatte von Beginn an klar gemacht, dass die Höhe der Einsparungen nicht verhandelbar sei. Die jetzt getroffene Einigung sieht lediglich einige Umschichtungen im geplanten neuen Sparpaket vor. So sollen u. a. zusätzliche Ausgaben im Bildungssektor und für die Unterstützung von Behinderten durch höhere Abfall- und Wasserversorgungsgebühren finanziert werden.
Bestandteil der Vereinbarung der Regierung und der drei Oppositionsparteien sind neben weiteren Sozialkürzungen außerdem eine weitere Aufweichung des Kündigungsschutzes sowie Änderungen in der Arbeitslosenversicherung. So müssen Arbeitslose schon nach einem halben Jahr jeden Job annehmen, auch wenn er weit unter ihrer Qualifikation und ihrem vorherigen Gehalt liegt.
Hintergrund des erneuten Sparhaushalts ist die wachsende Finanzkrise des Benelux-Landes. Für das Haushaltsdefizit werden Werte von 3,2 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) in diesem Jahr und 3,3 Prozent im kommenden Jahr vorhergesagt. Auch die Staatsverschuldung steigt, der IWF schätzt auf 434 Milliarden Euro in diesem Jahr. Das Centraal Planbureau (CPB), ein Beratungsorgan der niederländischen Regierung in Wirtschafts- und Finanzfragen, prognostiziert für die Niederlande eine Verschuldung von 76 Prozent des BIP im Jahr 2014.
Die Europäische Union verlangt daher immer weitere Kürzungen. Der EU-Kommissar für Wirtschaftsfragen, Olli Rehn, hatte im Juni die Regierung in Den Haag besucht und Einsparungen von weiteren sechs Milliarden Euro im kommenden Jahr verlangt.
Für das laufende Jahr prognostiziert das CPB einen Rückgang der Wirtschaftsleistung um 1,25 Prozent. Immer mehr Firmen melden Insolvenz an, die Arbeitslosigkeit steigt. Sie ist inzwischen so hoch wie seit 30 Jahren nicht mehr. Knapp 700.000 Arbeitslose (Quote: 8,6 %) sind derzeit verzweifelt auf der Suche nach einem Job.
Nächstes Jahr soll die Wirtschaft angeblich um 0,5 Prozent wachsen. Diese Vorhersage ist sehr optimistisch. Denn das verfügbare Einkommen der Privathaushalte sinkt nicht zuletzt aufgrund der ständigen Kürzungen und der steigenden Arbeitslosigkeit in diesem Jahr erneut stark, was sich wiederum negativ auf die Binnennachfrage auswirken wird.
Die Verschuldung der Privathaushalte liegt bei 250 Prozent des verfügbaren Einkommens. In Spanien beträgt sie im Vergleich dazu „nur“ 125 Prozent. Zudem haben niederländische Banken insgesamt rund 650 Milliarden Euro an Hypothekenkrediten in ihren Büchern. Ein Platzen der Immobilienblase würde die gesamte Wirtschaft und die Banken mit sich reißen.
Die Regierung Rutte hatte bereits nach ihrer Wahl vor etwa einem Jahr ein Sparpaket von insgesamt 16 Milliarden Euro verabschiedet. Dieses ergänzte das Kabinett Anfang März 2013 noch einmal um 4,3 Milliarden Euro. Die Einsparungen und Kürzungen betreffen vor allem den Bereich Soziales im weitesten Sinne, während Unternehmen Erleichterungen erhielten und die beiden höchsten Spitzensteuersätze gesenkt wurden.
Die Pflegeversicherung wurde faktisch privatisiert, die Gesundheitsleistungen drastisch eingeschränkt. Die Gehälter im öffentlichen Dienst wurden eingefroren. Die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes wurde von ursprünglich 38 Monaten auf bald 24 Monate verkürzt. Viele Sozialleistungen sind an die Städte und Gemeinden übertragen worden, die sie aber aufgrund leerer Kassen nicht aufrechterhalten.
So müssen Langzeitarbeitslose in den Kommunen staatliche Zwangsarbeiten erledigen, um ihren Anspruch auf finanzielle Unterstützung zu behalten. Für die Beschäftigten wurde der Kündigungsschutz aufgeweicht. Das Renteneintrittsalter ist auf 67 Jahre erhöht worden. Mit der jetzigen Absprache, ab 2014 keine Lohnkostenzuschüsse für ältere Arbeitslose zu zahlen, bedeutet das vor allem Rentenkürzungen, weil die Arbeitslosen ohne Job gezwungen sind, früher in Rente zu gehen.
Nun hat sich die Rutte-Regierung die Abschaffung der letzten sozialstaatlichen Leistungen zur Aufgabe gemacht. Dies klang schon in der Regierungserklärung an, die das niederländische Staatsoberhaupt traditionell am so genannten Prinsjedag (Prinzentag) hält, die aber von der Regierung verfasst wird.
König Willem-Alexander fuhr am 17. September in seiner goldenen Kutsche zu seiner ersten Thronrede, gefolgt vom sozialdemokratischen Finanzminister Dijsselbloem, der den dazugehörigen Haushaltsentwurf in einem großen Koffer mitschleppte, und erklärte den Sozialstaat für überholt.
„Der klassische Versorgungsstaat hat in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gerade hier Regelungen geschaffen, die in ihrer heutigen Form unhaltbar sind“, erklärte der König. Der Staat müsse sich in eine „Teilhabegesellschaft“ verwandeln. „Von jedem, der dazu in der Lage ist, wird erwartet, dass er Verantwortung für sein Leben und sein Umfeld übernimmt.“ Die Niederlande müssten ein Land „mit einem schlanken und handlungsstarken Staat“ werden.
Seit dem legendären Vertrag von Wassenaar 1982, der Geburtsurkunde des niederländischen „Polder-Modells“, haben alle Parteien schrittweise die Sozialleistungen abgebaut und sind dabei von den Gwekschaften unterstützt worden. Auch jetzt betonte Ton Heerts, der Vorsitzende des niederländischen Gewerkschaftsverbands FNV, er habe nicht vor, Arbeitskampfmaßnahmen gegen die Sparpläne zu organisieren. Der FNV versucht vielmehr, den Widerstand unter Arbeitern in eine zahnlose Demonstration am 30. November zu kanalisieren. Dann wird das Sparpaket bereits verabschiedet sein.
Die aktuellen Entwicklungen in den Niederlanden kündigen heftige soziale Auseinandersetzungen an. Die Regierung Rutte ist sich dessen bewusst. Trotz aller Einsparungen erhält die Polizei über 100 Millionen Euro mehr, um sich personell und technisch aufzurüsten.
Die Finanzkrise wird sich weiter verschärfen, die nächsten Angriffe liegen bereits in den Schubladen. Die Financial Times zitiert einen Analysten der niederländischen Finanzgruppe ING, Dimitri Fleming, der 2015 neue Austeritätsmaßnahmen erwartet, unabhängig davon, ob die Niederlande den EU-Defizit-Verfahren entkommen kann oder nicht. Auch Finanzminister Dijsselbloem kündigte unmittelbar nach der aktuellen Einigung an, er werde im Jahr 2014 mit den drei Parteien, die die Regierung jetzt unterstützen, das nächste Sparprogramm für 2015 entwerfen.
Die arbeitende Bevölkerung hat sich unter diesen Bedingungen von den traditionellen bürgerlichen Parteien und Gewerkschaften abgewandt.
Nutznießer dieser Politik sind die Rechten. In Umfragen sind Geert Wilders und seine PVV mit 22 Prozent inzwischen stärkste Kraft, gefolgt von der PvdA und der ehemals maoistischen Sozialistischen Partei (SP), die sich vor allem in ihrer Ausländerpolitik mit Wilders trifft.