In seiner jüngsten Ausgabe klagt der Spiegel über den „Wahlkampf der Lethargie“ und fordert mehr Mut zu „unpopulären Entscheidungen“. Unter der Überschrift „Die bequeme Republik“ kritisieren die Spiegelautoren die „politische Feigheit“ der Parteien und Politiker, die sich an die „Reformunwilligkeit“ der Bürger anpassten.
Zwei Seiten weiter doziert der 84-jährige Philosoph Jürgen Habermas über das „Elitenversagen“. Habermas wirft die Frage auf: Was heißt eigentlich unpopulär? Er antwortet, politische Lösungen, die notwendig und vernünftig seien, müssten dem Wählerpublikum auch zugemutet werden. Es sei nicht zu akzeptieren, dass die Regierung von allen anderen Ländern in Europa schmerzhafte Sparmaßnahmen fordere, zu Hause aber vor jeder Modernisierungsmaßnahme zurückschrecke.
Der „Opportunismus der Machterhaltung“ führe dazu, so Habermas, dass Deutschland seine Führungsverantwortung in Europa nicht wahrnehme. Europa befinde sich im Notstand, aber Deutschland tanze nicht, sondern döse auf dem Vulkan.
Die Regierung in Berlin sei nur stark und unnachgiebig, wenn es um die Kürzungen anderer gehe, schreibt der Spiegel. Sie habe den europäischen Südländern Sparmaßnahmen zugemutet, die in mehreren Ländern „dramatische soziale und politische Verwerfungen“ hervorgerufen hätten: „Rentenkürzungen bis zu 30 Prozent, heftige Einschnitte bei Sozialleistungen und im Gesundheitswesen, Massenentlassungen im Staatsdienst.“ Dies sei zwar notwendig, „aber Deutschland könnte den Südländern glaubwürdiger Härte abverlangen, wenn es selbst wenigstens zu einem Bruchteil dieser Maßnahmen bereit wäre“.
Mit anderen Worten: Die kommende Regierung soll die soziale Konterrevolution in ganz Europa verschärfen und gleichzeitig in Deutschland vorantreiben. Dabei darf sie sich weder vor dem Wählervotum fürchten, noch vor Protesten und Widerstand der Bevölkerung zurückschrecken.
Das ist der Ruf nach autoritären Herrschaftsformen und diktatorischen Maßnahmen.
Am ehesten zu einem solchen Kurs in der Lage ist nach Ansicht der Spiegelredaktion die SPD. Sie habe als führende Partei der rot-grünen Bundesregierung der Bevölkerung „die soziale Härte der Agenda-Politik“ zugemutet und sich dem Druck der Straße nicht gebeugt.
Regelrecht ins Schwärmen geraten die Autoren, wenn sie über „Genosse Müntefering“ schreiben. Er habe „sich getraut, was Merkel sich nie traute. Damals nicht, heute nicht. Was sich kaum ein demokratisch gewählter Politiker je getraut hat.“ Er habe den Mut gehabt, dem Land etwas zuzumuten, was es nicht wollte. Er habe sich der Mehrheitsmeinung widersetzt und Reformen eingeleitet, die das Land „zukunftsfähig“ machten.
Zustimmend zitiert der Artikel Münteferings Feststellung, Demokratie sei prima, „aber leider sehr legislaturperiodenfixiert“. Soll heißen: Leider finden in der Demokratie von Zeit zu Zeit Wahlen statt und Regierungen können abgewählt werden. Denkt man diesen Gedanken zu Ende, dann besteht die einfachste Lösung dieses Demokratie-Problems darin, dass man ganz auf Wahlen verzichtet oder sie so gestaltet, dass es nichts mehr zu wählen gibt.
Um diesen reaktionären und undemokratischen Standpunkt zu rechtfertigen, rufen die Spiegelredakteure den Politikwissenschaftler Herfried Münkler zur Hilfe. Münkler ist ordentlicher Professor und lehrt politische Theorie am Institut für Sozialwissenschaften der Berliner Humboldt-Universität. Er hat schon früher über die Vorzüge autoritärer Herrschaftsformen und das „Bedürfnis nach bonapartistischen Lösungen“ geschrieben.
Im Spiegelartikel fordert er, „es müsste eine Gruppe von führenden Politikern geben, die bereit sind, um der Zukunft willen gegenwärtige Risiken (gemeint sind soziale Proteste und Wahlniederlagen) einzugehen“. Das sei aber nicht der Fall und daher sei kaum noch ein Politiker zu langfristigem Denken fähig. Es fehle „nicht nur an Mut zu unpopulären Maßnahmen“, es fehle die Bereitschaft zu strategischem Denken, erklärt Münkler. Belohnt werde, „wer moralisch, nicht strategisch denkt“. Das füge der Gesellschaft „langfristig schweren Schaden“ zu.
Münkler erläutert das nicht genauer. Für ihn ist der gesellschaftliche Schaden moralisch motivierter Politik offensichtlich. Die systematische Verelendung von Millionen Hartz IV-Empfängern und Billiglohnarbeitern mag moralisch verwerflich sein, doch im Interesse der herrschenden Finanzaristokratie ist sie genauso unvermeidbar und notwendig wie die Bewilligung von 700 Milliarden Euro im Namen der Bankenrettung.
Vor drei Jahren hatte Münkler, der selbst der SPD nahe steht, einen Aufsatz unter der Überschrift „Lahme Dame Demokratie“ veröffentlicht, der zu einem „frischen, unverkrampften Blick auf das Verhältnis von Demokratie und Diktatur“ aufrief.
Der Ruf nach autoritären Herrschaftsformen steht in direktem Zusammenhang mit der Verschärfung der gesellschaftlichen Krise. Das aggressive Spardiktat der Regierung Merkel hat vor allem die südeuropäischen Länder in eine verheerende soziale und politische Krise gestürzt. Das wirkt zurück auf Deutschland, wo die soziale Krise trotz entgegengesetzter Behauptungen bereits jetzt weit fortgeschritten ist. Die Spaltung der Gesellschaft ist in Deutschland weiter fortgeschritten als in den meisten anderen europäischen Ländern.
Fast ein Viertel aller Beschäftigten arbeitet im Niedriglohnbereich, das sind über 8 Millionen.
Die Hälfte von ihnen, 4,1 Millionen, verdienen weniger als 7 Euro die Stunde. In Betrieben und Verwaltungen findet systematisches Lohndumping statt. Neben Leiharbeitern, die bereits seit Jahren von Vermittlungsagenturen ausgebeutet werden, wächst ein Heer von „Werkverträglern“, die für Stücklohn und ohne soziale Absicherung arbeiten. 4,5 Millionen Menschen leben von Hartz IV – das sind 382 Euro im Monat zuzüglich der Miet- und Heizkosten.
Am anderen Pol der Gesellschaft wächst der Reichtum. Eine privilegierte Schickeria lebt in Saus und Braus. Luxus und Verschwendungssucht kennen keine Grenzen. Die Zahl der in Deutschland lebenden Millionäre hat erstmals die Millionenmarke überschritten. „Genau sind es 1,015 Millionen Millionäre – ein Plus von 6,7 Prozent gegenüber dem Vorjahr“, berichtet die Tageszeitung Die Welt. „Noch schneller als die Zahl der Millionäre wuchs im vergangenen Jahr deren Vermögen. Es erhöhte sich von 3,4 Billionen Dollar auf 3,7 Billionen Dollar – ein Plus von 7,7 Prozent.“
Das heißt, die sozialen Angriffe, die für Millionen Familien verheerende Auswirkungen haben, dienen dazu, das gesellschaftliche Vermögen in die Taschen der Reichen und Superreichen zu lenken.
Angesichts des wachsenden Widerstands gegen diese Politik der sozialen Konterrevolution rufen Wortführer der herrschenden Klasse in Politik, Medien und Universitäten nach autoritären Strukturen und Herrschaftsformen. Edward Snowden, der ehemalige Mitarbeiter der National Security Agency (NSA) und Whistleblower, hat aufgedeckt, in welchem Ausmaß die Bevölkerung überwacht wird. Hinter der demokratischen Fassade ist der Aufbau eines Polizeistaats bereits weit fortgeschritten.
Alle etablierten Parteien unterstützen diese Entwicklung. Angesichts der wachsenden gesellschaftlichen Krise rücken sie enger zusammen. Während die Kanzlerin ihren reaktionären Sparkurs verteidigt, hat die SPD Merkels ehemaligen Finanzminister zum Spitzenkandidaten ernannt, um deutlich zu machen, dass sie in allen wichtigen Fragen mit der Regierung übereinstimmt. Die Grünen streben eine Koalition mit der SPD an, halten sich aber auch eine Koalition mit der CDU offen. Die Linkspartei bietet SPD und Grünen ihre Unterstützung an und wird dabei von allen Pseudolinken unterstützt.
Dieser großen bürgerlichen Einheitspartei, die vom rechten Flügel der CSU bis zum linken Flügel der Linkspartei reicht, steht nur eine Partei gegenüber: die Partei für soziale Gleichheit (PSG). Sie mobilisiert die Arbeiterklasse auf der Grundlage eines internationalen, sozialistischen Programms und warnt davor, dass die herrschende Klasse wie in den dreißiger Jahren nicht davor zurückschrecken wird, ihr Profitsystem mit Diktatur und Faschismus zu verteidigen.