Sarrazin und die SPD

Das Ausschlussverfahren gegen Thilo Sarrazin entwickelt sich für die SPD zur Zerreißprobe. Führende Sozialdemokraten – wie der ehemalige Hamburger Bürgermeister Klaus von Dohnanyi, Ex-Verteidigungsminister Peter Struck und Ex-Finanzminister Peer Steinbrück – haben sich entweder öffentlich mit Sarrazin solidarisiert oder das vom Parteivorstand eingeleitete Ausschlussverfahren als falsch kritisiert. Auch aus den unteren Parteiebenen treffen zahlreiche E-Mails im Willy-Brandt-Haus ein, die Sarrazin unterstützen.

Wer die Geschichte der SPD kennt und ihre jüngere Entwicklung verfolgt hat, kann sich über die Unterstützung für Sarrazin nicht wundern. Seit der Wiedervereinigung hat die SPD fast die Hälfte ihrer Mitglieder verloren – 400.000 von insgesamt 900.000. Arbeiter und kleine Angestellte haben ihr den Rücken gekehrt, während Beamte, die mithilfe des SPD-Parteibuchs Karriere machten, blieben. Sie haben den nicht endenden Sozialabbau mitgetragen, für den die Namen Dohnanyi, Struck, Steinbrück und vor allem Sarrazin als Symbol stehen. Nun unterstützen sie Sarrazins Versuch, Immigranten und Muslime zum Sündenbock für die dadurch entstandene soziale Misere zu stempeln.

Sarrazin kann sich dabei auf alte Traditionen der SPD stützen, der Ausländerfindlichkeit, Rassismus und selbst Eugenik nicht fremd sind.

Glaubt man den Warnungen Sarrazins, läuft Deutschland Gefahr, durch Verdummung und Islamisierung unterzugehen. Denn die Dummen und Faulen allgemein und Muslime insbesondere pflanzten sich viel zu stark fort, die fleißigen und intelligenten deutschen Akademiker aus der Mittel- und Oberschicht dagegen zu wenig. Damit knüpft er an Theorien an, die einmal großen Einfluss in der Sozialdemokratie hatten, wie ein Aufsatz von Cord Riechelmann in der taz aufzeigt.

Riechelmann schreibt dort: „Die sozialdemokratische Traditionslinie, auf der Sarrazin sich bewegt, hat Anfang des vergangenen Jahrhunderts der Mediziner und Professor für Sozialhygiene in Berlin, Alfred Grotjahn (1869-1931), begründet. Grotjahn saß für die SPD von 1921 bis 24 im Reichstag. Er hat entscheidend an den gesundheitspolitischen Maßgaben der SPD in der Weimarer Republik mitgearbeitet und mit seinem 1926 erschienenen Lehrbuch ‚Die Hygiene der menschlichen Fortpflanzung. Versuch einer praktischen Eugenik’ die wesentlichen Thesen Sarrazins vorbereitet.“ Die Übereinstimmung Sarrazins mit Grotjahn gehe „bis in die zitierten Quellen“.

Der 1931 verstorbene Grotjahn war Mitglied der „Gesellschaft für Rassenhygiene“, die später das Nazi-Regime beriet. Die Nazis trieben die Eugenik dann bis zur „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ in Massenmorden an Behinderten.

In seinem 1926 erschienenen Buch „Hygiene der menschlichen Fortpflanzung“ ging Grotjahn nicht ganz so weit. Er trat aber für die „planmäßige Ausmerzung durch Verwahrung und Zwangsunfruchtbarmachung“ erblich Belasteter ein. Mit seinen Forderungen war er einer der radikalsten Eugeniker der Weimarer Republik. So verlangte er als Mittel zur Rationalisierung der menschlichen Fortpflanzung in „quantitativer und qualitativer Hinsicht“ eine „Reinigung der menschlichen Gesellschaft von Krankem, Hässlichen und Minderwertigen“, deren Anteil an der Bevölkerung er auf ein Drittel schätzte.

Grotjahn sprach sich ferner für eine Zwangssterilisierung von Schwachsinnigen, Epileptikern, Alkoholikern und Krüppeln und für eine „Dauerasylierung“ von etwa einem Prozent der Bevölkerung aus. Dieser Mann war Autor des gesundheitspolitischen Abschnitts des Görlitzer Programms der SPD von 1922.

Zu dieser Zeit hatte die SPD den Marxismus und Internationalismus bereits weit hinter sich gelassen. Einen sichtbaren und erstarkenden rechten Flügel gab es zwar schon um die Jahrhundertwende. Eduard Bernstein, der theoretische Kopf des anti-marxistischen Revisionismus, war schon 1899 in seinem berühmten Buch „Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie“ mit rassistischen Argumenten für koloniale Eroberungen der „deutschen Kulturnation“ eingetreten: „Zudem kann nur ein bedingtes Recht der Wilden auf den von ihnen besetzten Boden anerkannt werden. Die höhere Kultur hat hier im äußersten Falle auch das höhere Recht.“

Endgültig setzte sich der rechte Flügel dann 1914 durch, als die SPD und die mit ihr verbundenen Gewerkschaften das Deutsche Reich im Ersten Weltkrieg unterstützten. Nach dem Krieg arbeiteten die SPD- und Gewerkschaftsführer eng mit konservativen Generälen und rechtsradikalen Freikorps zusammen, um revolutionäre Arbeiteraufstände in Blut zu ersticken. Der Einsatz für die „eigene“ Nation nach innen und außen entfaltete ihre eigene Logik, und die SPD schreckte dabei vor nichts zurück. Dass Grotjahn mit seinen rassehygienischen, eugenischen Auffassungen nicht nur in der Partei bleiben, sondern sogar beträchtlichen Einfluss ausüben konnte, erstaunt vor diesem Hintergrund nicht.

Auch in Schweden propagierte die regierende Sozialdemokratie ein umfangreiches staatliches Eugenikprogramm, zu dem auch Zwangssterilisationen gehörten, und setzte es in die Tat um – und zwar von 1934 bis Mitte der 1970er Jahre.

Das schwedische Ehepaar Alva und Gunnar Myrdal – letzterer war Parlamentsabgeordneter und Minister für die Sozialdemokraten – trat dafür ein, „besseres Menschenmaterial“ für den schwedischen Nationalstaat zu schaffen. Dabei galt es, wie Franz Walter in der Zeit schreibt, „weniger reife Bevölkerungsteile an starker Fortpflanzung zu hindern. Ein Recht auf Kinder dürfe man denen keinesfalls koinzidieren. Denn in den modernen Arbeitsprozessen komme es auf Schnelligkeit, Rationalität und Effizienz an; da könne man sich eine ‚minderwertige Bevölkerungsqualität‘ nicht leisten.“

Auch in Dänemark und Finnland blieb die gesetzliche Grundlage der Eugenik bis in die 1960er beziehungsweise späten 1970er Jahre erhalten.

In Deutschland war nach der Nazi-Diktatur die Eugenik diskreditiert, der Nationalismus, auch mit rassistischen Zügen, lebte in der SPD aber fort. In dem Programm, mit dem sie 1972 unter Willy Brandt zur Bundestagswahl antrat, fanden Migranten lediglich im Abschnitt zur inneren Sicherheit Erwähnung. Es gelte zu verhindern, „dass die Bundesrepublik zum Tummelplatz von Auseinandersetzungen wird, die ihre Ursachen in den Auseinandersetzungen anderer Staaten haben“. Die SPD werde deshalb „das Ausländergesetz schärfer anwenden“.

Ein Jahr später sprach Brandt in seiner Regierungserklärung von der Erschöpfung der „Aufnahmefähigkeit unserer Gesellschaft“. Seine Regierung verhängte einen Anwerbestopp gegen ausländische Arbeiter.

Als die von der SPD-Regierung erhoffte Rückkehr der ausländischen „Gastarbeiter“ in Länder wie die Türkei, die selbst ebenfalls von sozialen und politischen Krisen betroffen waren, in den 1970er Jahren ausblieb und die Zahl der Immigranten durch den Familiennachzug sogar wuchs, baute die sozialdemokratische Regierung Helmut Schmidts die „Anreize zur Förderung der Rückkehr“ aus. Ausländer sollten Geld bekommen, wenn sie Deutschland freiwillig verließen.

Einen Anspruch auf Einbürgerung von „Ausländern der zweiten Generation“, also von Menschen, die in Deutschland geboren und sozialisiert worden waren, lehnte die SPD-Regierung ab. Die konservative CDU/FDP-Koalition unter Helmut Kohl setzte diese Politik dann konsequent fort.

Als die Wiedervereinigung anfangs der 1990er Jahre in eine soziale Krise mündete, schürten konservative Politiker und Medien unter dem Schlagwort „Asylmissbrauch“ massiv Ausländerfeindlichkeit bis hin zur Pogromstimmung, die dann, wie bei den Nazi-Morden von Mölln und Solingen, auch tatsächlich zu Toten führte. Die SPD setzte dem nichts entgegen und schaffte schließlich 1993 gemeinsam mit der Union und der FDP das Grundrecht auf Asyl weitgehend ab.

Die SPD musste dabei nicht von den Konservativen getrieben werden. Sie hatte in ihrer Programmatik seit 1980 die Notwendigkeit betont, den „Missbrauch des Asylrechts“ zu verhindern. Daran hielt sie auch 1980 nach dem Militärputsch in der Türkei fest, den sie unterstützte und der zahlreiche Flüchtlinge nach Deutschland trieb.

1998 übernahm die SPD unter Gerhard Schröder gemeinsam mit den Grünen wieder die Regierung. Nun befürwortete sie zwar die Zuwanderung „ausländischer Spitzenkräfte“, ansonsten sollte aber weiter das „Inländerprimat“ gelten, d.h. ausländische Arbeiter wurden weiterhin benachteiligt.

Mit Schröders Agenda 2010 nahmen Armut, Billiglohnarbeit und prekäre Arbeitsverhältnisse deutlich zu, ebenso der Reichtum am anderen Pol der Gesellschaft. Sarrazin, der als Berliner Finanzsenator für diese Entwicklung maßgeblich mitverantwortlich war, schob die Schuld den Opfern zu. Nicht die Politik des Sozialabbaus ist nach ihm schuld an Armut und daraus folgenden sozialen Problemen wie Kriminalität und Gewalt, sondern die Armen selbst.

Solche Ansichten, in denen sich Klassenhass und Rassismus mischen, vertrat er bereits letztes Jahr in seinem berüchtigten „Kopftuchmädchen“-Interview mit der Zeitschrift Lettre International. Schon damals hetzte er, Türken und Araber, „deren Anzahl durch falsche Politik zugenommen“ habe, hätten „keine produktive Funktion, außer für den Obst- und Gemüsehandel, und es wird sich vermutlich auch keine Perspektive entwickeln“. Das gelte „auch für einen Teil der deutschen Unterschicht, die einmal in den subventionierten Betrieben Spulen gedreht oder Zigarettenmaschinen bedient hat“.

Auch seine rassenhygienischen Ansichten waren damals schon eindeutig: „Die Araber und Türken haben einen zwei- bis dreimal höheren Anteil an Geburten, als es ihrem Bevölkerungsanteil entspricht. Große Teile sind weder integrationswillig noch integrationsfähig.“ Ein Jahr vor dem Erscheinen seines Buches hatte er in Lettre International bereits unmissverständlich erklärt: „Die Türken erobern Deutschland genauso, wie die Kosovaren das Kosovo erobert haben: durch eine höhere Geburtenrate.“

All das war für die SPD kein Grund, ihn auszuschließen. Die Landesschiedskommission Berlin lehnte einen Ausschluss Sarrazins sogar ausdrücklich ab. Jetzt hat Sarrazin, ermutigt durch diese Entscheidung seiner Partei, den rassistischen Kern seiner bekannten Thesen lediglich deutlicher ausgesprochen.

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