Der Fall Sarrazin hat sich innerhalb von zwei Wochen zu einer umfassenden Kampagne entwickelt. Sie wird von einer breiten Allianz getragen, die von führenden Sozialdemokraten über prominente Intellektuelle und Medienschaffende bis zum rechten Flügel der Union reicht. Ihr Ziel: Sie soll lange verpönten rassistischen Vorurteilen wieder zum Durchbruch verhelfen und einer neuen Rechtspartei den Boden bereiten.
Das langjährige SPD-Mitglied Thilo Sarrazin hat in seinem Buch „Deutschland schafft sich ab“ die Stichworte geliefert. Er erklärt darin soziale Probleme zu ethnischen Problemen und lastet sie pauschal Immigranten muslimischen Glaubens an. Zur Begründung zieht er falsch interpretierte Statistiken und pseudobiologische Argumente heran, die seit den Nürnberger Rassengesetzen und den Eugenikprogrammen der Nazis nur noch in der neonazistischen Schmuddelecke Gehör fanden.
Sarrazin, der als langjähriger Berliner Finanzsenator maßgebliche Mitverantwortung für den sozialen Niedergang ganzer Stadtteile trägt, macht die angebliche unterdurchschnittliche Intelligenz und die angebliche Integrationsunwilligkeit von Immigranten für die Zunahme von Armut und die damit einher gehenden sozialen Probleme verantwortlich. „Nicht die materielle, sondern die geistige und moralische Armut ist das Problem“, behauptet das gut verdienende Bundesbankvorstandsmitglied. Es ist ein durchsichtiger Versuch, die wachsende Wut über die Verelendung von den Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft abzulenken auf die wehrlosesten Teile der Gesellschaft zu richten.
Das Erscheinen von Sarrazins Buch wurde von einer systematischen Kampagne in den Medien begleitet. Das begann mit der Vorabveröffentlichung langer Passagen durch Spiegel und Bild-Zeitung. In der vergangenen Woche gab es dann keine prominente Fernseh-Talkshow mehr, die nicht Sarrazin selbst oder einem seiner Verteidiger eine Bühne geboten hätte.
Distanzierten sich anfangs die meisten Kommentare noch von den provokantesten Thesen Sarrazins, indem sei erklärten, er habe zwar die richtige Debatte begonnen, aber mit „einem falschen Zungenschlag“ (Der Spiegel), so unterstützen inzwischen auch prominente Politiker und Journalisten offen seine rassistischen Thesen.
So meldete sich am Montag mit dem ehemalige Bundesbildungsminister und Hamburger Bürgermeister Klaus von Dohnanyi in der Süddeutschen Zeitung ein prominenter Sozialdemokrat zu Wort.
Dohnanyi erklärte sich bereit, Sarrazin in einem Parteiausschlussverfahren zu verteidigen. Er rechtfertigte „Sarrazins Grundthese“, die an die Rassenhygiene der Nazis erinnert. Er fasste sie mit den Worten zusammen, „dass Deutschland Gefahr läuft, seine geistigen Eliten einzuschmelzen, weil diese selbst zu wenige Kinder bekommen, während Gruppen, die sich bisher nicht durch Arbeit und Leistung hervorgetan haben mehr Kinder bekommen und so das Leistungsniveau der Nation langfristig absenken könnten“.
Dohnanyi verteidigte auch ausdrücklich Sarrazins rassistische Thesen, es gebe „besondere, kulturelle Eigenschaften von Volksgruppen“ und Juden wiesen „eine etwas andere Genstruktur“ auf. Sein Beitrag endete mit dem Aufruf: „Also bitte keine Feigheit mehr vor Worten wie Rasse, Juden, Muslime“.
Auf SpiegelOnline hieb Matthias Matussek, der ehemalige Leiter des Kulturressorts des Spiegel, in dieselbe Kerbe. Sarrazin sei „zur Chiffre geworden für die Empörung darüber, wie das Justemilieu der Konsensgesellschaft den Saalschutz losschickt, um einen verstörenden Zwischenrufer nach draußen zu eskortieren“, behauptete er.
Dann zählte Matussek all jene antiislamischen Vorurteile auf, mit denen auch der Krieg in Afghanistan und die Kriegsvorbereitungen gegen Iran gerechtfertigt werden. Sarrazin verkörpere „die Wut von Leuten, die es satt haben, das Mittelalter in ihrer Gesellschaft, die einen langen und mühevollen Prozess der Aufklärung hinter sich hat, zurückkehren zu sehen. … Die es satt haben, über terrornahe islamistische Vereine zu lesen, über Ehrenmorde, über Morddrohungen gegen Karikaturisten und Filmemacher … Die wütend zur Kenntnis nehmend lesen, dass sich westliche Staatsmänner für Frauen in einem islamischen Land einsetzen müssen, weil diese dort als Ehebrecherinnen gesteinigt werden sollen.“
Schließlich beschwerte sich Matussek unter Berufung auf Klaus von Dohnanyi, dass „in Deutschland vor dem Hintergrund der Holocaust-Vergangenheit eine Kultur der Gesinnungsverdächtigung blüht, kaum nimmt einer die Worte ‚Gen’ und ‚Jude’ in den Mund.“
Unterstützung unterhielt Sarrazin auch von Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU), der ihm in einem bayrischen Bierzelt vor 2.000 Zuhörern bescheinigte, er habe die richtige Debatte angestoßen, und selbst eine „Debatte ohne Scheuklappen“ über die Integration von Einwanderern forderte. Ähnlich äußerten sich der CDU-Innenexperte Wolfgang Bosbach und sein SPD-Kollege Dieter Wiefelspütz, der die Integration zum „Mega-Thema der nächsten Jahre“ erklärte.
In seiner jüngsten Ausgabe ernannte der Spiegel Sarrazin schließlich zum „Volkshelden“. Sein Konterfei zierte das Titelbild des Nachrichtenmagazins neben der Schlagzeile: „Volksheld Sarrazin. Warum so viele Deutsche einem Provokateur verfallen“.
Tatsächlich gibt es wenig Hinweise, dass der Rummel um Sarrazin mehr ist als eine von den Medien geschürte Kampagne, oder dass seine rassistischen Thesen breite Unterstützung in der Bevölkerung finden. Es bedurfte einer intensiven Medien-Kampagne voller Verdrehungen und Unwahrheiten, bevor das Emnid-Institut in einer von Bild am Sonntag in Auftrag gegebenen Umfrage feststellen konnte, dass fast 18 Prozent der Deutschen eine von Sarrazin angeführte Protestpartei wählen würden.
Bemerkenswert ist allerdings, mit welcher Vehemenz prominente Politiker aus SPD und Union Sarrazin unterstützen und ein Ende der politischen „Tabus“ fordern, die die Verbrechen des Nazi-Regimes der deutschen Politik in der Nachkriegszeit auferlegt hatten.
Die SPD-Führung hat zwar ein Ausschluss-Verfahren gegen Sarrazin eingeleitet, lehnt aber ein Eilverfahren ab, so dass sich der Prozess über Monate, wenn nicht über Jahre hinziehen wird. Laut Statuten muss die Schiedskommission die erste mündliche Verhandlung mit Sarrazin erst in sechs Monaten ansetzen.
Auch in der Linkspartei herrscht Schweigen. Von ihrer Seite gibt es keine Auseinandersetzung mit Sarrazins Thesen. Lediglich die Vorsitzende Gesine Lötzsch hat in einer kurzen Stellungsnahme Sarrazins Entlassung aus dem Vorstand der Bundesbank begrüßt, dies aber in erster Linie mit der Verteidigung des Ansehens der Bundesbank begründet. Inhaltlich sagte sie nichts zu Sarrazins Thesen. Emnid will sogar herausgefunden haben, dass Sarrazin unter Anhängern der Linkspartei besonders viel Unterstützung genießt.
Anders als in Österreich (Jörg Haider), den Niederlanden (Pim Fortuyn und Geert Wilders) oder Italien (Lega Nord) gab es in Deutschland bisher keine ausländerfeindliche Partei mit Einfluss in den städtischen Mittelschichten. Neonazi-Parteien wie die NPD und die DVU konnten zwar vereinzelte Wahlerfolge erzielen, zerfielen aber schnell wieder. Lediglich in einigen ländlichen Gebieten, wie der sächsischen Schweiz oder Vorpommern, konnten sie sich halten.
Dies soll nun, angesichts der raschen Zuspitzung der sozialen Krise, verändert werden. Die Wirtschaftsverbände und ihre Sprachrohre in den Medien klagen seit langem über die Entscheidungsschwäche der Regierung Merkel. Und der SPD unter Sigmar Gabriel trauen sie nicht zu, dass sie fortsetzen kann, was Gerhard Schröder mit der Agenda 2010 begonnen hat.
Unter diesen Umständen sind Sarrazins Buch und die begleitetende Medien-Kampagne ein gezielter Versuch, das Terrain für eine rechte, ausländerfeindliche Partei zu sondieren. Eine solche Partei könnte zum Hebel werden, um die Parteienlandschaft umzugestalten. Der rechtskonservative Flügel der CSU setzt sich seit längerem von Merkel ab. Auch aus den Reihen der SPD, der Linkspartei und der Gewerkschaften könnte eine solche Partei mit Unterstützung rechnen.
Diese Gefahr und Sarrazins Rassismus können nur durch den Aufbau einer neuen Arbeiterpartei bekämpft werden, die - völlig unabhängig von SPD und Linkspartei - für ein internationales sozialistisches Programm kämpft. Dafür tritt die Partei für Soziale Gleichheit ein, die deutsche Sektion der Vierten Internationale.