Seit dem Ende des Nazi-Regimes sind in Deutschland selten derart offen rassistische Thesen verbreitet worden, wie in dem neuen Buch von Bundesbankvorstand Thilo Sarrazin. Das Buch trägt den Titel „Deutschland schafft sich ab“. Es ist eine Hetztirade gegen muslimische Immigranten, gespickt mit sozialdarwinistischen Vorurteilen und Rassentheorien, wie sie einst die Rassenhygieniker des Dritten Reichs vertraten.
Sarrazin wähnt „das kulturelle und zivilisatorische Gleichgewicht“ Europas durch „die enorme Fruchtbarkeit der muslimischen Migranten“ bedroht. Er beklagt den Umstand, dass „wir als Volk und Gesellschaft zu träge und zu indolent sind, selbst für ein bestanderhaltendes, unsere Zukunft sicherndes Geburtenniveau Sorge zu tragen, und diese Aufgabe quasi an Migranten delegieren“. Die „autochthonen Deutschen“ würden so in kurzer Zeit zur Minderheit in einem Land, in dem „über weite Strecken Türkisch und Arabisch gesprochen wird, die Frauen ein Kopftuch tragen und der Tagesrhythmus vom Ruf der Muezzine bestimmt wird.“
Sarrazin schreibt Muslimen generell eine geringere Intelligenz zu als anderen Bevölkerungsgruppen und behauptet, dies sei genetisch bedingt. Daraus folgert er: „Wenn Menschen mit hohem Bildungsgrad andauernd eine unterdurchschnittliche und Menschen mit niedrigem Bildungsgrad andauernd eine überdurchschnittliche Fertilität haben“, sei dies „mit der Zeit abträglich für das intellektuelle Potential der Bevölkerung“.
Selbst vor dem primitivsten, biologisch begründeten Rassismus schreckt Sarrazin nicht zurück. In einem Interview mit der Welt am Sonntag schwadronierte er über den „Genpool der europäischen Bevölkerung“ und behauptete: „Alle Juden teilen ein bestimmtes Gen, Basken haben bestimmte Gene, die sie von anderen unterscheiden.“ Das ist nicht nur wissenschaftlich absurd; mit solchen pseudobiologischen Auffassungen hatten die akademischen Lakaien der Nazis einst ihre Theorie des Untermenschen und des unwerten Lebens begründet.
Sarrazin ist kein durchgeknallter Einzelgänger. Seine rassistischen Thesen werden von den Medien eifrig aufgegriffen und verbreitet. Der Spiegel und die Bild-Zeitung haben die provokantesten Auszüge aus seinem Buch als Vorabdruck veröffentlicht. Die Welt am Sonntag hat ihm eine Doppelseite für ein ausführliches Interview zur Verfügung gestellt. Auch die Welt und die FAZ, das Sprachrohr der deutschen Wirtschaft, haben seine Thesen verteidigt.
Durch die Kommentare der etwas liberaleren Presse zieht sich wie ein roter Faden die Behauptung, Sarrazin habe die richtigen Fragen aufgeworfen und sich lediglich in der Wortwahl vertan. So schreibt die Süddeutsche Zeitung: „Er hat ein Problem benannt, das noch bestehen wird, wenn die Wogen der Empörung bereits verebbt sind: das enorme Integrationsdefizit der muslimischen Minderheit in Deutschland.“
Talkshows wie „Beckmann“ und „hart aber fair“ bieten Sarrazin ein Forum, in dem er seinen Schmutz verbreiten kann. Ansichten, die bisher nur in rechtsextremen Kreisen salonfähig waren, werden dort als ernsthafter Diskussionsbeitrag bewertet.
Die SPD, der Sarrazin seit 37 Jahren angehört, hat ihn bis heute nicht aus ihren Reihen verwiesen. Der Partei-Vorsitzende Sigmar Gabriel hat zwar ein neues Ausschlussverfahren gegen Sarrazin angekündigt - allerdings nur wegen seinen Äußerungen über „jüdische Gene“ und nicht wegen seiner antimuslimischen Tiraden. Gleichzeitig gab Gabriel bekannt, dass in den vergangenen Tagen im Willy-Brandt-Haus „fast ausschließlich positive“ Anrufe zu Sarrazin eingegangen seien.
Auch auf internationaler Ebene steht Sarrazin nicht alleine da. Die Wiederbelebung von längst überwunden geglaubtem faschistischen Gedankengut ist eine gesamteuropäische Erscheinung.
In den Niederlanden haben Liberale und Christdemokraten ein Regierungsbündnis mit Geert Wilders vereinbart, dessen Programm aus Hasstiraden gegen Muslime besteht. In Ungarn unterhält die Regierungspartei Fidesz enge Verbindungen zur Bewegung Jobbik, die sich auf die Tradition der faschistischen Pfeilkreuzler stützt, die in den letzten Kriegsmonaten Zehntausende ungarische Juden in den Tod geschickt hatten. In Frankreich hat Präsident Sarkozy eine Hetzkampagne gegen Roma entfesselt, um von seiner sinkenden Popularität und seiner Verstrickung in Korruptionsskandale abzulenken.
Wie ist dieser Rechtsruck der europäischen Politik zu erklären? Warum finden Auffassungen, die bisher nur von rechtsextremen Zirkeln unterstützt wurden, Eingang in etablierte bürgerliche Kreise?
Die Antwort auf diese Fragen liegt in der Zuspitzung der sozialen Spannungen. Mit der griechischen Schuldenkrise ist die herrschende Klasse im Frühjahr zur Offensive übergegangen. Die Konjunkturprogramme des Vorjahres sind durch drakonische Sparprogramme abgelöst worden. Die Milliardenausgaben für die Rettung der Banken werden seither auf Kosten der Bevölkerung wieder eingetrieben. Die Folge sind verheerende Einsparungen bei sozialen und öffentlichen Leistungen, Arbeitsplatzabbau und Lohnsenkungen.
Die Hetze gegen Immigranten, Muslime und Roma dient dazu, die wachsende Empörung auf jene abzulenken, die sich am wenigsten dagegen wehren können. Sie erfüllt dieselbe Funktion wie einst der Antisemitismus der Nazis. Sie soll die Arbeiterklasse spalten und die rückständigsten Teile der Gesellschaft für ein rechtes Programm mobilisieren.
In der Biografie Thilo Sarrazins vereinigen sich die Angriffe auf die arbeitende Bevölkerung mit dem Schüren von Rassismus in einer Person.
Der 1945 geborene Spross einer Hugenottenfamilie erwarb 1973 das Parteibuch der SPD und stieg mit seiner Hilfe die Karriereleiter über verschiedenen Ministerien bis in die Chefetage der Bundesbank hoch. In den 1990er Jahren arbeitete er in führender Funktion für die Treuhandanstalt. Er half mit, die DDR-Wirtschaft abzuwickeln und dabei Hunderttausende Arbeitsplätze zu zerstören.
2002 beriefen SPD und PDS, die Vorgängerin der Linkspartei, Sarrazin dann zum Finanzsenator in Berlin. Hier spielte er eine Doppelrolle. Als rücksichtsloser Sparkommissar erzwang er einen beispiellosen sozialen Niedergang der Hauptstadt. Gleichzeitig diente der dem Senat als Blitzableiter, in dem er durch provokante Äußerungen den Zorn der Bevölkerung auf sich zog, so dass sich SPD und PDS hinter ihm verstecken konnten.
Obwohl Sarrazins rechte Ansichten seit langem bekannt waren, hielten SPD und Linkspartei bis 2009 als Finanzsenator an ihm fest. Dann wechselte er auf Vorschlag des Berliner Senats und der Brandenburgischen Regierung (beide SPD-geführt) in den Vorstand der Bundesbank, die sich europaweit für einen brutalen Sparkurs einsetzt.
Als Berliner Finanzsenator hat Sarrazin die sozialen Missstände, die ihm nun als Ausgangspunkt für seine Immigrantenhetze dienen - den Niedergang der Schulen und Universitäten, den Mangel an Ausbildungs- und Arbeitsplätzen, die Bildung sozialer Brennpunkte - maßgeblich mit verursacht. Wenn sich der langjährige Sozialdemokrat nun an die Spitze einer rassistischen Hetzkampagne stellt, muss dies eine Warnung sein. Der Niedergang der kapitalistischen Gesellschaft hat ein derartiges Ausmaß erreicht, dass sich die herrschende Klasse und ihre Lakaien in den Medien und Parteien, einschließlich der SPD, nur noch durch das Schüren faschistischer Stimmungen an der Macht halten können.