Der FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle hat in den vergangenen Tagen mit heftigen Angriffen auf Hartz-IV-Empfänger die Schlagzeilen beherrscht.
Der Außenminister und Vizekanzler der schwarz-gelben Koalition reagierte auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das die Berechnung der Hartz-IV-Regelsätze für verfassungswidrig erklärte. In einem Zeitungsinterview behauptete er, die Hartz-IV-Diskussion trage "sozialistische Züge" und erinnere an "spätrömische Dekadenz". Er forderte eine "geistig-politische Wende". Statt der Optimierung der Verteilung müsse die "Leistungsgerechtigkeit" in den Mittelpunkt der Politik rücken.
Als seine Äußerungen auf Kritik stießen, legte Westerwelle auf zahlreichen Kanälen nach. Diejenigen, die arbeiten, würden "mehr und mehr zu den Deppen der Nation", verkündete er und forderte einen völligen Neuanfang für den deutschen Sozialstaat. Es sei " eine zynische Debatte, wenn diejenigen, die in Deutschland arbeiten, die aufstehen, die fleißig sind, sich mittlerweile dafür entschuldigen müssen, dass sie von ihrer Arbeit auch etwas behalten möchten".
Die meisten Kommentare werteten Westerwelles Tiraden gegen den Sozialstaat als Versuch, der sinkenden Wählergunst der FDP entgegen zu wirken. Drei Monate vor der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen sind die Liberalen in den Umfragen von 14,6 Prozent bei der Bundestagswahl 2009 auf 8 Prozent gefallen. Die derzeitige Mehrheit von CDU und FDP im bevölkerungsreichsten Bundesland ist gefährdet.
Aus der CDU gibt es mittlerweile ernsthafte Signale in Richtung einer Koalition mit den Grünen, die derzeit ein Umfragehoch erleben. Sollte in NRW - wie bereits in Hamburg - zukünftig eine schwarz-grüne Koalition regieren, wären die Mehrheit von Union und Liberalen im Bundesrat dahin und das Gewicht der FDP im Bund deutlich geringer. Westerwelle versuche daher, durch Krawall die Schlagzeilen zu erobern und so den Wählerschwund seiner Partei zu stoppen, meinen viele Kommentare.
Doch hinter Westerwelles Frontalangriff auf den Sozialstaat steckt mehr als ein wahltaktisches Manöver. Auch wenn seine Äußerungen bei Teilen der Regierungskoalition auf Ablehnung stoßen, sind sich alle Berliner Parteien einig, dass eine neue Runde sozialer Einschnitte, die weit über die Agenda 2010 der Regierung Schröder hinausgeht, unvermeidlich ist.
Allein die von der Großen Koalition im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse zwingt die Regierung, Jahr für Jahr hohe zweistellige Milliardenbeträge im Bundeshaushalt einzusparen. Da weder der Militärhaushalt noch der Schuldendienst an die Banken eingeschränkt werden, verteilen sich diese Kürzungen auf die Ausgaben für Renten, Gesundheit, Arbeit und Soziales. Die meisten Kommunen, die von der Schuldenbremse ebenfalls betroffen sind, stehen ohnehin schon am Rand des Bankrotts.
Bezeichnenderweise fordern deutsche Regierungs- und Wirtschaftsvertreter am nachdrücklichsten, dass die griechische Regierung die Verschuldung des Landes durch schmerzhafte Einschnitte bei den öffentlichen Ausgaben und Löhnen ausgleicht. Griechenland gilt ihnen dabei als Testfall für ganz Europa, einschließlich Deutschlands.
Westerwelles Äußerungen stoßen vor allem deshalb auf Kritik, weil viele Vertreter der herrschenden Klasse der Ansicht sind, dass man die Opfer der nächsten Kürzungsrunde nicht auch noch durch provokative Worte reizen sollte. Nachdem unzählige Familien durch die Wirtschaftkrise unverschuldet in Not geraten sind, die Regierung Hunderte Milliarden an die Banken verschleudert hat, die Deutsche Bank bereits wieder Rekordprofite schreibt und immer neue Steuersünder auffliegen, die ihre Millionen vor dem Fiskus in der Schweiz versteckt haben, treffen Westerwelles Brandreden selbst in jenen gesellschaftlichen Schichten auf Ablehnung, die er eigentlich ansprechen will.
Das ist der Grund, weshalb zahlreiche Unions- und einige FDP-Politiker Westerwelles Äußerungen verurteilen. Ihre Kritik richtet sich aber nur gegen die polemische Form, inhaltlich stimmen sie dagegen weitgehend mit dem Liberalen überein. So rügte CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe Westerwelles "fragwürdigen Verallgemeinerungen und scharfen Töne" mit der Begründung, sie erschwerten die nötige Debatte über die Hartz-IV-Sätze.
Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU), dem das entscheidende Wort bei allen Haushaltsbeschlüssen zufällt, gab Westerwelle inhaltliche Rückendeckung, indem er eine Erhöhung der Hartz-IV-Sätze kategorisch ausschloss. "Das Bundesverfassungsgericht hat ausdrücklich nicht gesagt, die Hartz-IV-Sätze seien unzureichend", sagte er. Mehr Sozialausgaben seien nicht finanzierbar.
Wie Westerwelle begründete Schäuble seine Ablehnung höherer Hartz-IV-Sätze mit der geringen Differenz zum unteren Lohnniveau. "Wir dürfen den Grundgedanken von Hartz IV nicht aus den Augen verlieren", sagte er. "Die notwendigen Sozialleistungen dürfen die Aufnahme von Arbeit nicht unattraktiv machen."
Dieses Argument, dass in der gegenwärtigen Debatte in unzähligen Variationen wiederkehrt, ist besonders zynisch. Die Hartz-Gesetze haben maßgeblich dazu beigetragen, einen riesigen Niedriglohnsektor zu schaffen. Arbeitslose sind nach einem Jahr gezwungen, jede noch so niedrig bezahlte Arbeit anzunehmen oder in einem Ein-Euro-Job praktisch umsonst zu schuften. Das hat zu einem allgemeinen Absinken des Lohnniveaus geführt und eine große Zahl prekärer Arbeitsplätze geschaffen. Nun werden die Hungerlöhne von Friseusen, Sicherheitsleuten, Call-Center- Beschäftigten usw. angeführt, um die Hartz-IV-Sätze unter Hinweis auf den angeblich fehlenden Arbeitsanreiz noch weiter zu senken.
Auch andere Unionspolitiker, vor allem Vertreter des Wirtschaftsflügels, stellten sich uneingeschränkt hinter Westerwelle.
Michael Fuchs (CDU), der stellvertretende Vorsitzende der Unionsfraktion, kritisierte die "überfallartigen Angriffe auf Westerwelle", dem er bescheinigte, er habe "inhaltlich vollkommen recht und eine wichtige Debatte angestoßen". Kurt Lauk, der Präsident des CDU-Wirtschaftsrats, unterstützte Westerwelle ebenfalls und forderte "eine offene Diskussion ohne Tabus darüber, wie wir die Kostenexplosion bei den Sozialausgaben in den Griff bekommen".
CSU-Landesgruppenchef Hans-Peter Friedrich nannte den Grundtenor von Westerwelles Aussagen - "die, die arbeiten müssen mehr haben als die, die nichts arbeiten" - berechtigt. Und CSU-Chef Seehofer setzte sich für strengere Zumutbarkeitsregelungen zur Annahme von Jobs für Hartz-IV-Empfänger ein. Wer solche "Hilfe" ablehne, drohte er, "dem müssen wir das Handwerk legen".
Aus den Reihen der SPD, der Grünen und der Linkspartei wurde Westerwelle zum Teil wortradikal angegriffen. So bezeichnete ihn SPD-Chef Gabriel als "sozialpolitischen Brandstifter", Grünen-Chefin Claudia Roth nannte ihn einen "Schreihals" und die Grünen-Fraktionsvorsitzende Renate Künast einen "Politrowdy".
Diese Kritik ist schon deshalb völlig unglaubwürdig, weil SPD und Grüne gemeinsam die Hartz-Gesetze geschaffen haben, denen das Bundesverfassungsgericht nun bescheinigt, dass sie gegen die Menschenwürde verstoßen. Beide Parteien haben zudem nie einen Zweifel daran gelassen, dass für sie die Konsolidierung des Haushalts durch entsprechende soziale Kürzungen oberste politische Priorität hat.
Was die Linkspartei betrifft, so hat beweist sie im Berliner Senat seit acht Jahren ihre Bereitschaft, soziale Kürzungen ebenso rücksichtslos und brutal durchzusetzen, wie alle anderen Parteien auch.
Der DGB hat mittlerweile Westerwelles Vorschlag unterstützt, eine "Generaldebatte" über soziale Gerechtigkeit zu führen, wohl wissend, dass am Ende einer solchen Debatte eine weitere Runde des Sozialabbaus stehen wird.
Die Bevölkerung sollte durch Westerwelles Tiraden gewarnt sein. Sie läuten eine neue Runde sozialer Angriffe ein, die weit über Schröders Agenda 2010 hinausgehen werden. SPD, Grüne, Linkspartei und Gewerkschaften werden dabei auf der Seite der Regierung stehen.