Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe hat am Dienstag die Berechnung der Hartz-IV-Regelsätze für Erwachsene und Kinder für verfassungswidrig erklärt. Auf mehr Geld können die Langzeitarbeitslosen und ihre Familien, insgesamt 6,7 Millionen Menschen, aber nicht hoffen.
Das höchste deutsche Gericht begründete sein Urteil mit der "mangelnden Transparenz" und ordnete eine Neuberechnung bis Ende des Jahres an. Mehrere Familien hatten gegen die Regelsätze geklagt, weil sie völlig willkürlich berechnet und daher viel zu niedrig seien, um das laut Verfassung garantierte Existenzminimum zu gewährleisten.
Das Bundesverfassungsgericht gab den Klägern aber nur im ersten Punkt uneingeschränkt Recht, in der Frage der Festsetzung und Berechnung der Sätze. "Die verfassungsrechtlichen Mängel betreffen die Vorgehensweise des Gesetzgebers bei der Bemessung der Regelleistungen", sagte der Präsident des Bundesverfassungsgerichts und Vorsitzende Richter des Ersten Senats Hans-Jürgen Papier in seiner Urteilsbegründung. Konkrete Zahlen zur Höhe des Existenzminimums in Deutschland nannte er aber nicht. Im Gegenteil, er überließ es ausdrücklich dem "Gesetzgeber", also dem Parlament, dieses festzulegen.
Schätzungen bei der Regelsatzbestimmung, so Richter Papier, "auf fundierter empirischer Grundlage sind nicht ausgeschlossen, Schätzungen ins Blaue hinein’ laufen jedoch einem Verfahren realitätsgerechter Ermittlung zuwider". Genau diese Schätzung "ins Blaue hinein" hatte aber die damalige rot-grüne Bundesregierung unter Gerhard Schröder (SPD) veranlasst. Das Ziel stand fest: Die Leistungen für Langzeitarbeitslose sollten drastisch gekürzt werden. SPD und Grüne bezeichneten dies euphemistisch als "Anreiz" für die Arbeitsaufnahme.
Als Grundlage für die Bestimmung der Regelsätze von 345 Euro monatlich beim Start von Hartz IV vor fünf Jahren (heute 359 Euro) galt die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe des Statistischen Bundesamtes. Gemessen wurde der Konsum von Singles aus dem untersten Fünftel der Einkommensskala. Diesen niedrigen Satz haben dann die Ministerialbeamten nochmals willkürlich runtergerechnet. Für Lebensmittel zogen sie z.B. 4 Prozent ab, für Gesundheitspflege 9 Prozent, für Kultur und Freizeit 45 Prozent! Zusätzlich zogen sie Geld für Strom, Privatfahrzeuge und "Luxusartikel" ab, etwa "Segelflugzeuge". Man darf davon ausgehen, dass Geringverdiener - Friseurinnen, Verkäuferinnen, Reinigungskräfte, Hilfsarbeiter usw. - eher selten Besitzer von Segelflugzeugen sind.
Weil die Stichprobe vom Statistischen Bundesamt aber nur alle fünf Jahre erhoben wird, hat die Schröder-Regierung nicht etwa die Preissteigerung, sondern kurzerhand die Renten als Bemessungsgrundlage für die Zeiten dazwischen benannt. Einen Zusammenhang gibt es nicht. "Der geltende Mechanismus hat nur für den Finanzminister einen Vorteil", schreibt die Frankfurter Rundschau, "denn die Rente nimmt meist nur wenig zu."
Was das Bundesverfassungsgericht gänzlich verworfen hat, ist die Bestimmung der Regelsätze für Minderjährige. Sie wurden einfach willkürlich vom Erwachsenen-Regelsatz abgeleitet, nämlich 80 Prozent davon für Jugendliche und 60 Prozent für Kinder unter 14 Jahren. Dies hatte zur Folge, dass der Regelsatz für Kleinkinder und Babys 11,90 Euro für Tabak und Alkohol aufweist, aber nichts für Windeln. Für Spielzeug wurden 62 Cent erhoben, für Kino- und Theaterbesuche kamen 3,83 Euro zusammen.
Bildung, Sport und Musik wurden vollständig aus der Berechnung der Regelsätze genommen! Auch "Härtefallregelungen" etwa für chronisch Kranke oder getrennte Eltern, die weit entfernt voneinander leben - und dementsprechend höhere Fahrtkosten haben, um ihre Kinder zu besuchen -, kennen die Hartz-IV-Regelungen nicht. Auch dies bemängelte das Gericht.
Das Prinzip der Schätzung auf Grundlage der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe widerspricht laut Bundesverfassungsgericht jedoch nicht dem Grundgesetz, wohl aber die Willkür darin. Zusammen mit der in der Urteilsbegründung stehenden Feststellung, dass sich die Hartz-IV-Regelsätze "nicht als evident unzureichend" erweisen, bedeutet dies für die vielen armen Familien, die sich Hoffnungen auf eine Erhöhung ihrer Unterstützung gemacht hatten, nichts Gutes. Mit anderen Worten bedeuten die juristischen Sätze des Gerichts: Die Bundesregierung muss bei der Neuberechnung nicht die Sätze erhöhen, sondern nur "transparent", "nachvollziehbar" und "auf fundierter empirischer Grundlage" darlegen, weshalb sie so niedrig sind.
Zahlreiche Politiker haben sich sofort auf diese Hintertür, die das Gericht der Bundesregierung offen gehalten hat, gestürzt und niedrigere Sätze gefordert. "Das Bundesverfassungsgericht hat nicht gesagt, dass die Hartz-IV-Sätze zu niedrig sind", sagte der Vorsitzende der Arbeitnehmergruppe in der Unions-Bundestagsfraktion, Peter Weiß (CDU). "Eine Reform sollte aus meiner Sicht zu niedrigeren Regelsätzen führen."
Laut Weiß verlange das Verfassungsgericht, den konkreten Einzelfallbedarf etwa für Kühlschränke oder Wintermäntel wieder stärker zu berücksichtigen und dies nicht durch pauschalierte Aufschläge im Hartz-IV-Regelsatz zu regeln. Das müsse nun korrigiert werden. Er glaubt daher an ein Nullsummenspiel. Unterm Strich dürften die Ausgaben für den Staat in etwa gleich bleiben, so Weiß.
Auch in der FDP gab es ähnliche Töne. Die FDP-Fraktionsvorsitzende Birgit Homburger sprach von einem "überschaubaren zusätzlichen Finanzbedarf", der andere Projekte der schwarz-gelben Bundesregierung nicht gefährden würde. Gemeint waren die Steuersenkungen für Reiche im Rahmen der angestrebten Steuerreform.
Der bayerische FDP-Bundestagsabgeordnete Martin Lindner warnte vor einer Anhebung der Hartz-IV-Bezüge, weil dann angeblich immer weniger Menschen arbeiten wollten. Wörtlich sagte er nach Angaben des Senders N-TV: "Ich möchte nicht, dass wir über ein neues System Anreize schaffen, dass man übers Kinderkriegen Geld verdienen kann."
In der SPD war es wieder der Berliner Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky, der sich gegen eine Erhöhung aussprach. Buschkowsky, Bürgermeister des verarmten Stadtteils Neukölln, hatte schon in der Vergangenheit häufiger gegen "saufende Hartz-IV-Empfänger" gehetzt. Auch jetzt sagte er in einem Interview, "gerade in bildungsfernen Milieus mit fehlender sozialer Kompetenz kommen höhere Geldleistungen den Kindern meist nicht zugute. Die wandern dann eher ins Pay-TV, in Zigaretten, an die Tanke oder in sonstige Suchtmittel wie Alkohol." Er machte daher den perfiden Vorschlag, eine mögliche Erhöhung der Regelsätze für Kinder mit "Infrastrukturleistungen" wie Kindergartenbesuch, Mittagessen in der Schule etc. aufzurechnen.
Das Bundesverfassungsgericht hat der Bundesregierung in seiner Urteilsbegründung schon dargelegt, es bleibe grundsätzlich dem Gesetzgeber überlassen, ob er das Existenzminimum "durch Geld-, Sach- oder Dienstleistungen sichert". So könnte dann tatsächlich der neu berechnete Regelsatz für Kinder noch unter dem jetzigen liegen, allerdings "transparent und nachvollziehbar", ganz so wie das Bundesverfassungsgericht es gefordert hat.
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts wird die Kampagne gegen die betroffenen Langzeitarbeitslosen auf keinen Fall stoppen. Das ist jetzt schon deutlich. Es wird nicht die von Wohlfahrtsverbänden und Langzeitarbeitslosen erhofften Wirkungen haben, eine Erhöhung der Bezüge und die Linderung der bittersten Armut. Selbst gegen die Anrechnung des Kindergeldes auf den Regelsatz der Hartz-IV-Empfänger hatte das Gericht entgegen der Hoffnungen einiger Kläger nichts einzuwenden.
Doch eines hat das Urteil offen gelegt: Die rot-grüne Bundesregierung unter Kanzler Gerhard Schröder (SPD) und Vizekanzler und Außenminister Josef Fischer (Grüne) hat sich selbst über die Bestimmungen des Grundgesetzes hinweggesetzt, um eine beispiellose Verarmung und soziale Misere durchzusetzen.
Ihr damaliges Argument, das bis heute von den verantwortlichen Berliner Parteien bemüht wird, nur so könnten "Anreize" für die Arbeitsaufnahme geschaffen werden, ist nachweislich falsch. Eine noch unveröffentlichte Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), die der Frankfurter Rundschau vorliegt, kommt zum Schluss, dass die Hartz-Reformen nicht zu einer höheren Arbeitsbereitschaft geführt haben. Und zwar deshalb, weil schon vor der Reform die Motivation der Arbeitslosen "offenkundig kaum steigerungsfähig" gewesen sei, schreiben die Forscher. "Fast alle Hartz-IV-Empfänger bemühten sich ernsthaft um Arbeit", schlussfolgert die Zeitung.
Dennoch wurde und wird ein regelrechter Feldzug gegen Langzeitarbeitslose geführt. Aus Unterlagen der Bundesagentur für Arbeit (BA), die ebenfalls der Frankfurter Rundschau vorliegen, geht hervor, dass die Arbeitsagenturen im letzten Jahr so viele Leistungskürzungen wie noch nie gegen Arbeitslose verhängt haben - insgesamt 843.000 Sperrzeiten. Die Zeitung rechnet vor, dass so erstens die Statistik um 70.000 Personen geschönt wurde und zweitens die Agenturen im letzten Jahr rund 700 Millionen Euro sparten. Und dies allein bei den durchschnittlich 1,2 Millionen Arbeitslosengeld-I-Empfängern. Die durchschnittlich 2,3 Millionen Langzeitarbeitslosen (die erwerbsfähigen Hartz-IV-Empfänger) sind in dieser Statistik nicht enthalten! Die Möglichkeit dazu gab den Agenturen Rot-Grün mit den Hartz-Gesetzen.
Das längerfristige Ziel der rot-grünen Regierung war mithilfe dieser Angriffe auf die Arbeitslosen einen umfassenden Niedriglohnsektor zu schaffen. In dieser Hinsicht war die Hartz-IV-Gesetzgebung äußerst "erfolgreich". 1,2 Millionen der 6,7 Millionen Hartz-IV-Empfänger gehen einer Arbeit nach, 300.000 sogar in Vollzeit. Sie verdienen damit nicht einmal das Geld, das die Bundesregierung willkürlich als Existenzminimum festgelegt hat.
Wie groß der Niedriglohnsektor inzwischen ist, lässt sich auch an einer Berechnung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der BA ermessen. Die Forscher haben errechnet, dass eine Erhöhung des Hartz-IV-Regelsatzes um lediglich 60 Euro auf 420 Euro im Monat bis zu zwei Millionen weitere arbeitende Hilfeempfänger bedeuten würde. Dann würde mehr als jeder zehnte Einwohner Deutschlands zumindest teilweise von Hartz IV leben.
Das ist die soziale Bilanz der rot-grünen Regierung von 1998 bis 2005, die die beiden Nachfolger-Regierungen weiter führen. Wenn nun SPD-Fraktionsgeschäftsführer Thomas Oppermann nach dem Karlsruher Urteil "mehr Geld für Langzeitarbeitslose" und die "Einführung eines Mindestlohns" fordert, erinnert das an den berühmten Ruf "Haltet den Dieb!"