"Die Akkumulation von Reichtum auf dem einen Pol ist also zugleich Akkumulation von Elend, Arbeitsqual, Sklaverei [...] auf dem Gegenpol." (Karl Marx, Das Kapital, Band 1)
Die Themen Mindestlohn und exorbitante Managergehälter beherrschen seit Wochen die öffentliche Debatte in Deutschland.
SPD-Chef Kurt Beck will im kommenden Jahr "einen Schwerpunkt auf die Gerechtigkeitsdebatte" legen. SPD-Fraktionschef Peter Struck bezeichnet es als "unanständig", wenn ein Manager in einem halben Tag so viel verdient, wie ein Angestellter in einem ganzen Jahr. Der Deutsche Gewerkschaftsbund warnt angesichts unverschämter Managergehälter vor der Gefährdung des sozialen Zusammenhalts in den Betrieben. Sowohl SPD wie DGB verlangen die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns von 7,50 Euro.
Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel und Bundespräsident Horst Köhler kritisieren öffentlich Millionenabfindungen für gescheiterte Manager. Man dürfe den wachsenden Unmut der Bevölkerung über die Abzocke in den Vorstrandsextagen nicht als Neiddebatte abtun, warnt Merkel, lehnt aber gesetzliche Regelungen ebenso wie einen Mindestlohn ab. Köhler beschwört den sozialen Frieden als "wichtigen Standortvorteil".
Woher diese plötzliche Sorge um soziale Gerechtigkeit nach Jahren der Flexibilisierung, des Sozialabbaus und der Lohndrückerei?
Offenbar befürchten die Herrschenden eine soziale Explosion. Laut einer Umfrage der Bertelsmann Stiftung glauben nur noch 15 Prozent der Befragten, die wirtschaftlichen Verhältnisse in Deutschland seien gerecht. Im vorigen Jahr waren es noch 28 Prozent. Was Millionen seit Jahren am eigenen Leib erfahren, ist mittlerweile auch durch Statistiken belegt: Die Kluft zwischen Arm und Reich hat sich in jüngster Zeit dramatisch vertieft.
Die Debatte über Managergehälter und Mindestlöhne hat unter diesen Umständen präventiven Charakter. Sie soll von der Verantwortung der etablierten Parteien ablenken und verhindern, dass sich die Menschen von ihnen abwenden und gegen die gesellschaftlichen Zustände rebellieren.
Die vorgeschlagenen Maßnahmen haben dabei weitgehend Placebo-Charakter. Ein gesetzlicher Mindestlohn und die Deckelung von Managerbezügen würden an der Verarmung breiter Bevölkerungsschichten wenig ändern. Dennoch ist mit solchen Maßnahmen kaum zu rechnen, da sie auf den erbitterten Widerstand der Wirtschaft stoßen. Und ihr sind wiederum alle etablierten Parteien hörig.
Massenarmut ...
Will man wirklich gegen Armut und soziale Ungleichheit vorgehen, muss man sich Rechenschaft über deren Ursachen ablegen. Sie sind nicht vom Himmel gefallen, sondern das Ergebnis der Politik derselben Parteien, die nun scheinheilig darüber lamentieren.
Alle sozialen Statistiken weisen im Jahr 2000 einen scharfen Knick auf. Der Grund: Im zweiten Regierungsjahr der rot-grünen Koalition begannen ihre "Reformen" Wirkung zu zeigen. Drastisch verringerte Einkommens- und Unternehmenssteuern, Rentenreform, Gesundheitsreform, Hartz-Gesetze und höhere Mehrwertsteuer haben zusammengenommen die Gesellschaft völlig verändert. Ganz oben werden sagenhafte Reichtümer angehäuft, die Mittelschicht zerfällt, und die untersten Schichten stürzen ins Bodenlose.
Eine Grafik des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), die das reale Nettoeinkommen der reichsten und der ärmsten zehn Prozent der Bevölkerung nachzeichnet, sieht aus wie eine Schere. Bis 2000 entfernen sich die beiden Kurven nur wenig voneinander. In diesem Jahr hatten die Reichsten 12 und die Ärmsten 6 Prozent mehr verdient als 1992. Dann öffnete sich die Schere. 2006 verdiente das oberste Zehntel 31 Prozent mehr, das unterste Zehntel dagegen 13 Prozent weniger als 1992.
Entsprechend verlagerte sich der Besitz. Inzwischen befinden sich 60 Prozent des deutschen Immobilien-, Aktien- und Geldvermögens in den Händen der reichsten zehn Prozent. Am unteren Ende der Vermögensskala findet man dagegen nur noch Schulden.
Das einstige Hochlohnland Deutschland ist unter rot-grüner Regie in ein Billiglohnland verwandelt worden.
2006 verdienten zwei Millionen Menschen - das ist fast jeder zehnte Vollzeitbeschäftigte - weniger als 7,50 Euro brutto die Stunde, ein Anstieg von zehn Prozent gegenüber 2004. Rechnet man die Teilzeitbeschäftigten mit ein, so steigt die Zahl auf 5,5 Millionen. Von diesen verdienten wiederum rund 1,9 Millionen weniger als fünf Euro brutto die Stunde, eine Zunahme von über zwanzig Prozent gegenüber 2004.
Fast sieben Millionen Menschen verrichten einen so genannten "Mini-Job", in dem sie nicht mehr als 400 Euro im Monat verdienen. Mehr als 2 Millionen von ihnen üben diesen Mini-Job inzwischen neben ihrem eigentlichen Beruf aus. Ein Arbeitsplatz allein reicht ihnen nicht mehr zum Leben.
Auch die offizielle Abnahme der Arbeitslosigkeit, die sich die Bundesregierung so gerne auf die Fahne schreibt, ist größtenteils auf die Ausweitung von Niedriglohnarbeit zurückzuführen. Bei den meisten neuen Arbeitsplätzen handelt es sich um Leih- und Teilzeitjobs. Die Zahl der Teilzeitjobs stieg zwischen 1994 und 2005 von 6,5 auf 11,2 Millionen. Die Zahl der Leiharbeiter hat nach Angaben der IG Metall inzwischen die Millionengrenze überschritten. Neun von zehn Leiharbeitern erhalten Niedriglöhne unter sieben Euro.
2005 war fast jeder zweite Erwerbstätige in Deutschland in Teilzeitarbeit, befristeter Arbeit, Leiharbeit oder als Selbständiger beschäftigt. Zehn Jahre zuvor hatte der Anteil noch unter einem Drittel gelegen.
Doch auch Vollzeitarbeitsplätze sind heute keine Garantie mehr für ein gutes Auskommen - selbst wenn sie tarifgebunden sind. Der niedrigste, von der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi unterschriebene Tariflohn findet sich im Friseurhandwerk Berlin-Brandenburgs. Er beträgt 2,75 Euro brutto bei einer 39-Stunden-Woche! Das sind 464 Euro brutto im Monat für einen Vollzeitarbeitsplatz. In Sachsen liegt der unterste Tarif für Floristinnen bei 4,39 Euro brutto bei einer 41-Stunden-Woche, abgeschlossen durch die IG Bau. Da solche Löhne nicht zum Leben reichen, stocken 1,3 Millionen Menschen ihr Gehalt mit Arbeitslosengeld II (Hartz IV) auf.
... und obszöne Bereicherung
Am anderen Pol der Gesellschaft explodieren die Einkommen. Laut einer Studie des Instituts für Management an der Humboldt-Universität Berlin verdiente das Vorstandsmitglied eines Dax-30-Unternehmens vor zwanzig Jahren 14 Mal so viel wie ein Beschäftigter mit Durchschnittslohn, heute sind es 44 Mal so viel.
Die fünf bestbezahlten Manager Deutschlands - Josef Ackermann (Deutsche Bank), Harry Roels (RWE), Jochen Zeitz (Puma), Henning Kagermann (SAP) und Wolfgang Reitzle (Linde) - erhielten 2006 nach einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung zusammen knapp 55 Millionen Euro.
Porsche-Chef Wendelin Wiedeking kassierte im letzten Jahr mehr als alle fünf zusammen - mindestens 56, womöglich sogar 60 Millionen Euro. Die Frankfurter Rundschau stellte einige Zahlenvergleiche an: Wiedekings Stundenlohn liegt bei 9.589 Euro - unter der Annahme von 16 Arbeitsstunden an 365 Tagen im Jahr. Mit seinem Gehalt könnte er 13.447 Menschen ein Jahr lang den Hartz IV-Höchstsatz zahlen. Er verdient so viel wie 1.166 Porsche-Arbeiter, 2.500 Erzieherinnen oder 647 Professoren. Zum Vergleich: An der Frankfurter Goethe-Universität arbeiten derzeit rund 500 Hochschullehrer. Die gesamte Entwicklungshilfe, die Deutschland an Ruanda für 2007 und 2008 zahlt, ist nicht einmal halb so hoch wie das Jahresgehalt des Porsche-Managers.
Manager, die ihre Posten verlassen, erhalten Unsummen an Abfindungen. Der ehemalige Siemens-Vorstandsvorsitzende Klaus Kleinfeld beispielsweise, der Siemens nach der "Schmiergeldaffäre" und einem gewaltigem Arbeitsplatz- und Lohnabbau im Sommer 2007 verließ, erhielt neben seinem Jahresgehalt von 5,33 Millionen Euro weitere 5,75 Millionen Euro, damit er nicht unmittelbar zur Konkurrenz wechselte. Bei seinem anschließenden Wechsel in den Aufsichtsrat des US-amerikanischen Aluminiumherstellers Alcoa (Aluminum Company of America) kassierte er 6,5 Millionen Euro Begrüßungsgeld, eine Million Euro in Aktienoptionen sowie 1,2 Millionen Euro "Umzugsgeld".
Diese obszöne Bereicherung wäre ohne die tatkräftige Unterstützung der Gewerkschaften nicht möglich. Sie sitzen in den paritätisch besetzten Aufsichtsräten, die über die Managergehälter beschließen.
Der neue IG-Metall-Vorsitzende Berthold Huber hat die Vorstandsgehälter bei Siemens öffentlich verteidigt. Neben Kleinfeld ist dort auch dessen Nachfolger Peter Löscher fürstlich bedacht worden. Siemens garantiert ihm Pensionsansprüche im Umfang von 8 Millionen Euro. "Herr Löscher verdient bei Siemens weniger, als er in Amerika verdient hätte", begründete Huber, Aufsichtsratsmitglied bei Siemens, seine Zustimmung.
Auch mehrere Betriebsratsvorsitzende warfen sich für die Phantasiegehälter ihrer Manager in die Bresche. Robert Oswald (BASF) sprach sich gegen eine "Neid-Diskussion" über Vorstandsgehälter aus. Er halte die Gehälter der Vorstandsmitglieder beim größten Chemiekonzern der Welt für gerechtfertigt, sagte er der Sächsischen Zeitung. Die Vergütung müsse nicht nur die Verantwortung berücksichtigen, sondern auch das Risiko, die Stellung zu verlieren. BASF-Chef Jürgen Hambrecht hat im vergangenen Jahr rund 3,3 Millionen Euro kassiert.
Betriebsratschef Uwe Hück (Porsche) rechtfertigte die Rekordbezüge seines Vorstands mit den Worten: "Wir hatten schon einmal sehr günstige Vorstände. Die waren so günstig, das wir fast pleitegegangen wären." Die sechs Mitglieder des Porsche-Vorstands haben im letzten Geschäftsjahr zusammen 112,7 Millionen Euro bekommen, doppelt so viel wie im Vorjahr.
Auch der Betriebsratschef von Daimler, Erich Klemm, lehnte Kritik an den hohen Vorstandsgehältern mit der Begründung ab, Daimler-Vorstände müssten "im internationalen Vergleich angemessen verdienen".
Der verlogene Charakter der Kampagne gegen die hohen Managergehälter zeigt sich auch daran, dass sie bei Unternehmen in öffentlichem Besitz besonders hoch ausfallen. Dort verfügen Politiker und Gewerkschafter in der Regel die über die Mehrheit im Aufsichtsrat. So zahlte die Deutsche Post einem Vorstandsmitglied im letzten Jahr 87 Mal so viel wie einem durchschnittlichen Beschäftigten. Beim Energiekonzern RWE, dessen Aktien sich zu einem großen Teil im Besitz nordrhein-westfälischer Kommunen befinden, betrug der Faktor 50, bei der Deutschen Bahn 63. Die größte Bereicherung findet also unter der Verantwortung derselben Politiker statt, die nun öffentlich die hohen Managergehälter beklagen.
Mindestlöhne
Die Mindestlohndebatte dient unter diesen Umständen dazu, von der Verantwortung von SPD und Gewerkschaften abzulenken. Vor allem die SPD hat angesichts ihrer miserablen Umfragewerte und der bevorstehenden Landtagswahlen in Hessen, Hamburg und Niedersachsen eine soziale Imageaufbesserung dringend nötig. Dabei liegt der von ihr geforderte Mindestlohn von 7,50 Euro deutlich unter den geltenden Mindestlöhnen in anderen europäischen Ländern: 8,44 Euro in Frankreich, 8,20 Euro in Großbritannien oder 9,08 Euro in Luxemburg.
In der Bevölkerung findet die Forderung große Unterstützung. Laut Umfragen sprechen sich drei Viertel für die flächendeckende Einführung von Mindestlöhnen aus. Angesichts des erbitterten Widerstands von Wirtschaft und CDU kann aber damit gerechnet werden, dass die SPD ihre Forderung nach den Landtagswahlen Ende Januar wieder fallen lässt oder bis zur Unkenntlichkeit verwässert.
Die Wirtschaft hat schon auf die Einführung eines Mindestlohns bei der Post, den der Bundestag am vergangenen Freitag mit den Stimmen der Regierungsparteien beschloss, mit offener Erpressung reagiert. Der Springer-Verlag antwortete mit der sofortigen Einstellung aller Zahlungen an den Postdienstleister PIN, bei dem er Mehrheitsaktionär ist. Nun droht der Bankrott des Unternehmens mit 9.000 Arbeitsplätzen. Auch die privaten Postdienstleister TNT und Hermes wollen nun nicht mehr ins Briefgeschäft einsteigen.
Der beschlossene Mindestlohn, der am 1. Januar 2008 in Kraft tritt, beträgt für Beschäftigte, die nur Briefe sortieren, in Ostdeutschland 8,00 und in Westdeutschland 8,40 Euro. Für Briefzusteller gilt im Osten ein Mindestlohn von 9,00 und im Westen von 9,80 Euro.
Die privaten Postdienstleister zahlen wesentlich weniger. Sie wollen einen Mindestlohn von 6,50 Euro im Osten und 7,50 Euro im Westen anbieten. In der ARD-Sendung "Hart aber fair" berichtete am vergangenen Mittwoch Lothar Daniel, ein ehemaliger und nun arbeitsloser Postzusteller, er habe bei PIN etwa 50 bis 54 Stunden in der Woche gearbeitet und dafür 750 Euro netto monatlich erhalten.
Treibende Kraft hinter diesem Lohndumping ist Florian Gerster, seit 40 Jahren Mitglied der SPD. Gerster hat in der rheinland-pfälzischen Landesregierung von SPD-Chef Kurt Beck Karriere gemacht und war unter der Regierung Schröder von 2002 bis 2004 Chef der Bundesagentur für Arbeit. Mittlerweile ist er Präsident des neu gegründeten Arbeitgeberverbandes Neue Brief- und Zustelldienste.
Der Springer-Verlag begründet seinen Ausstieg aus PIN mit dem vom Bundestag beschlossenen Mindestlohn, obwohl bekannt ist, dass er sich schon länger mit Rückzugsabsichten trägt. Springer-Chef Mathias Döpfner erklärte im Spiegel, der Mindestlohn sei "Gift für den Wirtschaftsstandort". "Staatliche Zwangslöhne" bedeuteten "Ende der Tarifautonomie und Einschränkung der Marktwirtschaft".
Er erhielt Rückendeckung von der Monopolkommission, einem unabhängigen Beratungsgremium der Bundesregierung. Deren Vorsitzender Jürgen Basedow erklärte, der Mindestlohn solle nicht eingeführt werden, um die Interessen der Beschäftigten zu schützen, sondern um den Wettbewerb zu behindern. Empfehlungen der Monopolkommission sind zwar nicht bindend, sie haben aber Gewicht.
Auch der FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle schloss sich erwartungsgemäß der Kampagne gegen den Mindestlohn an. Er bezeichnete ihn als Planwirtschaft nach dem Vorbild der DDR.
Noch deutlicher wurde der Chef des Ifo-Instituts und Regierungsberater Hans-Werner Sinn. Er bezeichnete einen Mindestlohn generell als schädlich. "Unschädlich wäre nur ein Mindestlohn unter zwei bis drei Euro," sagte er der FAZ, "denn schon ab drei Euro gibt es viel Beschäftigungsverhältnisse in Deutschland. Wenn der Mindestlohn 7,50 Euro beträgt, gehen 1,1Millionen Jobs in Deutschland verloren."
In der bereits erwähnten Sendung "Hart aber fair" hatte Sinn gesagt: "Der Lohn wird nach Knappheit [Angebot und Nachfrage] berechnet. Was hat das mit Gerechtigkeit zu tun? Wir kennen das Prinzip der Gerechtigkeit in den Marktentlohnungen nicht."
Klarer kann man nicht sagen, dass sich kapitalistischer Markt und Wettbewerb nicht mit menschenwürdigen Arbeitsverhältnissen vertragen. Sinn schlägt einen Kombilohn vor, bei dem Arbeitslose von den Kommunen bezahlt und über Zeitarbeitsfirmen an die private Wirtschaft weiter vermittelt werden. Das heißt, der Staat bezahlt, die Wirtschaft erhält billige Arbeitskräfte und kassiert. Von da ist es dann nur noch ein Schritt zur Zwangsarbeit. "Frei" ist in dieser "freien Marktwirtschaft" nur der Unternehmer.